Eine junge Frau beißt in einen Kaktus
Ungleichbehandlung

Schmerzempfinden bei Männern und Frauen: Wie sich die Wahrnehmung von Schmerzen zwischen den Geschlechtern unterscheidet

Lesedauer unter 6 Minuten

Redaktion

  • Barmer Internetredaktion

Qualitätssicherung

  • Dr. med. Utta Petzold (Dermatologin, Allergologin, Phlebologin, Barmer)

Männer leiden bei jedem kleinen Kratzer fürchterlich und Frauen stecken selbst die schlimmsten Geburtsschmerzen einfach so weg? Männer und Frauen erleben Schmerzen tatsächlich unterschiedlich, doch nicht alle Vorurteile sind richtig.

Zack, Bumm, kurz nicht aufgepasst und der kleine Zeh knallt gegen Bettpfosten. Kreisch, was für Schmerzen. Oder man tritt auf einen Spielzeug-Baustein, beißt sich beim Kauen auf die Innenseite der Backe, verbrennt sich die Finger am heißen Topf, kratzt ohne Handschuhe Eis von den Autoscheiben. Aua!

Schmerzen gehören - jeder weiß das - zu den unangenehmsten Erfahrungen des Alltags. Das gilt für Männer wie für Frauen. Aber gibt es Unterschiede, wie Männer und Frauen Schmerz empfinden? Schmerzen sind eine recht körperliche Sache und da die Geschlechter sich auch körperlich unterscheiden, wäre es ja möglich, dass auch das Schmerzempfinden von Männern und Frauen nicht gleich ist. Halten Männer oder Frauen außerdem mehr Schmerzen aus? Gibt es bei der Schmerzart Unterschiede? 

Was sind Schmerzen überhaupt und zu was sind sie gut?

Ein ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet ist Hartmut Göbel, Neurologe, Psychologe, Schmerz- und Psychotherapeut. Göbel ist der Geschäftsführer der Schmerzklinik Kiel, er hat sie 1997 als eine der ersten Schmerzkliniken im Land gegründet. Fragt man Göbel danach, wer denn nun mehr Schmerzen aushalten könne - Männer oder Frauen - dann erkennt Göbel in dieser Frage ein ganz grundsätzliches Problem: 

„Die Frage suggeriert ja, dass Schmerzen aushalten etwas Gutes ist. Das ist es aber definitiv nicht.“ Früher sei das zwar so gelernt worden: Zähne zusammenbeißen, hart wie Stahl, sowas. „Aber das ist keine vernünftige Herangehensweise. Schmerz zu ertragen ist keine Tugend.“ Schmerz ertragen – das passe auch überhaupt nicht zu dem, was Schmerzen eigentlich sind: ein Warnsignal. Eine körpereigene Alarmglocke, die angeht, wenn irgendetwas den Körper verletzt, schädigt, kaputtmacht.

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Schmerzen helfen dabei, zu erkennen, was nicht gut für den Körper ist. Mit dem Fuß gegen den Bettpfosten zu treten, das ist nicht gut für den Fuß. Einen heißen Topf anzufassen, ist nicht gut für die Hand. Schmerzen aushalten wäre in etwa so, wie einen Feueralarm zu ignorieren und stolz darauf zu sein, möglichst lange im brennenden Haus zu warten.

Was sind Schmerzen? 

Schmerzen signalisieren dem Körper, dass er womöglich gerade verletzt wird. Der Schmerz beginnt damit, dass ein Reiz die Schmerzrezeptoren (auch: Nozizeptoren) aktiviert. Die befinden sich vor allem in der Haut, aber auch an vielen anderen Stellen im Körper. Je stärker ein Reiz, desto stärker ist auch das Signal, dass die Rezeptoren weiterleiten. Über die Nervenbahnen gelangt es ins Gehirn. Dort gibt es allerdings kein eigenes Schmerzzentrum – vielmehr sind viele verschiedene Hirnregionen gleichzeitig beteiligt, wenn Menschen Schmerzen erleben: Vorderhirn, Zwischenhirn, limbisches System und auch Teile der Großhirnrinde. 

Wer hält mehr Schmerzen aus – Männer oder Frauen?

Also, Herr Göbel, dann vielleicht anders: Empfinden denn Männer oder Frauen stärkere Schmerzen?
„Frauen!“, sagt Göbel entschieden und führt das auch weiter aus. „Frauen haben ein empfindlicheres Nervensystem. Sie nehmen Schmerzreize früher wahr und ihnen tut derselbe Schmerz-Reiz stärker weh als Männern.“ Und dass das etwas Gutes sei, das sehe man daran, so Göbel, dass Frauen mehr auf sich aufpassten, weniger Alkohol tränken, seltener rauchten, seltener körperliche Auseinandersetzungen anfingen – kurzum, ein aktiveres Gesundheitsverhalten hätten und dadurch auch eine höhere Lebenserwartung. 

„Evolutionär gesehen macht das auch Sinn, denn sie mussten die Kinder nicht nur zeugen, sondern austragen, gebären, stillen und aufziehen“, sagt Göbel. Somit kann auch mit einem gängigen Vorurteil aufgeräumt werden: Männer könnten also durchaus die Schmerzen einer Geburt aushalten – da sie eben Schmerzen nicht so stark empfinden.

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Frauen erleben Schmerzen doppelt so heftig

In einigen Studien hat Göbel selbst untersucht, ob es in der Schmerz-Wahrnehmung vielleicht Unterschiede gibt, je nachdem, welcher Reiz den Schmerz ausgelöst hat. Aber für nahezu jede Schmerzquelle erlebten die Frauen die Schmerzen doppelt so stark. Das passt auch zur restlichen Schmerz-Forschung seiner Fach-Kolleginnen und -Kollegen. 
Und es gibt noch einen weiteren Unterschied: 

Frauen erleben Schmerzen nicht nur in einer anderen Intensität, sondern auch mit einer anderen Qualität. „Wenn Frauen Schmerzen empfinden, dann sind im Gehirn auch die Bereiche stärker aktiviert, die mit Gefühlen assoziiert sind“; sagt Schmerzexperte Hartmut Göbel. „Frauen haben eine stärker affektive Komponente beim Schmerzerleben, sie empfinden den Schmerz differenzierter.“ 

Zum einen führe das dazu, dass Frauen einem Arzt oder einer Ärztin den Schmerz detaillierter beschreiben. Sie unterscheiden eher zwischen Stechen, Brennen, Ziehen, Drücken oder Pochen und können die Intensität besser beschreiben. Männer hingegen äußern eher mechanische Einschränkungen, wenn ihnen der Rücken wehtut oder das Knie, plakatieren weniger die Affekte dabei.

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Zum anderen sind Frauen und Männern im Allgemeinen unterschiedliche Aspekte wichtig, wenn sie von ihren Schmerzen berichten. „Frauen denken eher sozial und gefühlsmäßig“, sagt Göbel. „Sie sagen eher so etwas wie: 'Ich konnte nicht für meinen Partner da sein' oder 'ich konnte mich wegen meiner Schmerzen nicht um die Kinder kümmern, ich musste mich zurückziehen'. 

Das eigene Verhalten und ihre Gefühle stehen im Vordergrund.“ Männer hingegen sähen sich gerne als Helden und würden Schmerzen herunterspielen, so Göbel. Wenn sie überhaupt vom Schmerz erzählten, dann eher darüber, wie lange es wehgetan habe, wo es wehgetan habe und was sie dann dagegen gemacht hätten.   

Kann man sich gegen Schmerzen abhärten und unempfindlicher werden?

Ist es wirklich so? Je mehr man aushält, desto unempfindlicher wird man und desto mehr Schmerzen kann man künftig aushalten… wie ein Dauerlauf: Je häufiger und weiter man läuft, je länger man durchhält, desto fitter ist man beim nächsten Sport. Nein, leider nicht, in Bezug auf Schmerzen ist es genau andersherum: Je mehr Schmerzen man erlebt, desto empfindlicher wird man. 

Ein Beispiel: der gewöhnliche Spannungskopfschmerz. Man hat stundenlang am PC gehockt, dabei krumm im Stuhl gelümmelt und den Körper einseitig belastet, frische Luft kam auch nicht ins Zimmer. Abends tut der Kopf weh. Wer sich nun hinlegt, schont, ausschläft, vielleicht noch ein Entspannungsbad nimmt, ist den Kopfschmerz bald los. 

Wer aber die Ursachen nicht ändert, immer wieder zu lange schief am Computer sitzt, sich nicht entspannt, der bekommt den Kopfschmerz immer und immer wieder. Und immer früher. Irgendwann entsteht der Schmerz ohne äußere Ursache, weil das Nervengewebe entzündet oder gar schon vernarbt ist. So kann ein akuter Schmerz chronisch werden.

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„Je mehr Schmerzen ich habe, umso mehr Schmerzen bekomme ich“, fasst es Schmerzexperte Hartmut Göbel zusammen. „Das ist vielleicht etwas unfair, aber so ist die Biologie.“ Schmerz, den man aushält, der macht einen noch empfindlicher für künftigen Schmerz. Und deswegen muss man aktiv gegen Schmerzen vorgehen.

Die Barmer macht sich verschiedenen Projekten stark im Kampf gegen chronische Schmerzen

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