Gefühle gehören zum Menschsein. Doch was, wenn sie körperlich spürbar, aber innerlich nicht greifbar sind? Alexithymie ist ein verbreitetes und trotzdem wenig bekanntes Persönlichkeitsmerkmal, das weitreichende Folgen für die seelische und körperliche Gesundheit haben kann. Was Alexithymie ist, woran man sie erkennt – und welche Wege aus der emotionalen Stille führen können.
Alexithymie: Wenn Menschen keine Gefühle wahrnehmen
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Viktoria Vida (Psychologin, Master of Science)Was ist Alexithymie?
Der Begriff Alexithymie stammt aus dem Griechischen und setzt sich zusammen aus „a“ (fehlen), „lexis“ (Wort) und „thymos“ (Gefühl). Wörtlich bedeutet Alexithymie also so viel wie „keine Worte für Gefühle“ und wird oft mit Gefühlsblindheit übersetzt. Gemeint ist damit die Schwierigkeit oder sogar Unfähigkeit, Emotionen zu erkennen, zu benennen und sprachlich auszudrücken. Zum Teil wird Alexithymie auch als Gefühlslosigkeit oder Emotionslosigkeit betitelt. Dabei sind Menschen mit Alexithymie nicht gefühlskalt: Sie haben durchaus emotionale Reaktionen, doch sie erleben sie nur als unspezifische körperliche Zustände.
„Alexithyme Menschen nehmen zum Beispiel die Erregung, Entspannung oder den Schmerz wahr, der mit einem bestimmten Gefühl verbunden ist“, sagt Professor Hans Jörgen Grabe, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Greifswald. „Sie haben aber nicht die Möglichkeit, an den emotionalen Inhalt dieser körperbezogenen Wahrnehmungen zu gelangen.“ Statt Ärger registrieren sie die Spannung in den Schultern, statt Trauer den Druck in der Brust.
Alexithymie ist keine eigenständige psychiatrische Störung gemäß der gängigen Klassifikationssysteme, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal. „Der Umgang mit inneren Zuständen, mit Affekten und Emotionen, das ist nicht etwas, das kommt und wieder geht. Das ist eine zeitüberdauernde Facette der Persönlichkeit, die unterschiedlich stark ausgeprägt ist und bei manchen Menschen Krankheitswert bekommt“, erklärt Grabe.
Studien zufolge zeigen etwa zehn Prozent der Bevölkerung Anzeichen einer ausgeprägten Alexithymie. Männer und Frauen sind in etwa gleich häufig betroffen.
Woran erkennt man Alexithymie?
Die Merkmale einer Alexithymie sind vielschichtig. Forscherinnen und Forscher gehen davon aus, dass Alexithymie mindestens drei zentrale Facetten umfasst:
- Schwierigkeiten, Gefühle zu identifizieren: Menschen mit Alexithymie können emotionale Zustände nicht gut erkennen und unterscheiden. Sie können außerdem körperliche Empfindungen und Gefühle nur schwer auseinanderhalten.
- Defizite im Beschreiben von Gefühlen: Im Kontakt mit anderen tun sich Betroffene schwer damit, Worte für Gefühle zu finden und Emotionen zu beschreiben.
- Nach außen gerichtete Denkweise: Menschen mit Alexithymie konzentrieren sich in ihrem Denken auf äußere Details und Fakten. Ob damit auch ein Mangel an Fantasie einhergeht, ist bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern umstritten.
Menschen mit Alexithymie tun sich zum Beispiel schwer damit, Gefühle in Sprache zu übersetzen. Oft konzentriert sich ihr Denken auf äußere Details und Fakten.
Barmer Doc Sebastian: Was es bedeutet, Gefühle nicht erkennen zu können
Barmer Doc Sebastian erklärt das Persönlichkeitsmerkmal Alexithymie.
Gefühlskalt: Wie wirkt sich Alexithymie im Alltag aus?
Im Alltag kann Alexithymie zu Missverständnissen und Konflikten führen – etwa in der Partnerschaft, im Arbeitsumfeld, in der Familie oder in Freundschaften. Oft fällt es Menschen mit Alexithymie nicht nur schwer, die eigenen Gefühle zu erkennen, sondern auch die Emotionen anderer präzise wahrzunehmen. „Wenn es keine wechselseitige emotionale Kommunikation gibt und alle Gespräche auf der Sachebene bleiben, wird der Betroffene als unnahbar oder oberflächlich erlebt. Das Umfeld fühlt sich vielleicht missachtet und tut sich schwer in der Interaktion“, so Grabe. Soziale Beziehungen können unter der fehlenden Resonanz leiden oder sogar in die Brüche gehen. Weil bei Betroffenen die emotionale Selbstregulation eingeschränkt ist, nutzen sie bei Herausforderungen häufiger destruktive Strategien wie Verdrängung oder Rückzug. Das erhöht ihr Risiko für Stress, depressive Verstimmungen und psychosomatische Beschwerden – und senkt die Lebensqualität.
Alexithymie kann mit verschiedenen körperlichen und psychischen Erkrankungen einhergehen, zum Beispiel einer Essstörung.
Ein sensibler Bereich, auf den sich Alexithymie außerdem auswirken kann, ist die Sexualität. Wenn es schwerfällt, eigene Gefühle zu erkennen oder mitzuteilen, kann das auch die sexuelle Kommunikation, die Bindung in einer Partnerschaft und das Lustempfinden beeinträchtigen. Menschen mit ausgeprägter Alexithymie zeigen daher häufiger sexuelle Funktionsstörungen – etwa Erektions- oder Orgasmusprobleme –, Schwierigkeiten mit emotionaler und körperlicher Intimität sowie ein riskanteres Sexualverhalten.
Was sind die Ursachen von Alexithymie?
Fachleute unterscheiden drei verschiedene Formen und Ursachen: primäre, sekundäre und organische Alexithymie. Die primäre Form gilt als angeboren oder frühkindlich erworben. Hier spielen neurobiologische Faktoren eine Rolle. Es wird vermutet, dass bei Betroffenen bestimmte Areale im Gehirn, etwa das limbische System, anders sind. Die sekundäre Alexithymie entsteht meist infolge psychischer Belastungen wie traumatischen Erlebnissen, Depressionen oder langanhaltendem emotionalen Stress. Hier kann Alexithymie ein Schutzmechanismus sein. Manchmal sind aber auch neurologische Schädigungen der Grund, etwa durch einen Schlaganfall, ein Schädel-Hirn-Trauma oder bestimmte neurodegenerative Erkrankungen. Dann spricht man von einer organischen Alexithymie.
Am häufigsten ist die primäre Form zu beobachten, weiß Grabe. Neben einer gewissen genetischen Veranlagung spielen frühe Bindungserfahrungen und familiäre Erziehungsmuster eine wichtige Rolle bei der Entstehung: „Wenn Bezugspersonen Gefühle nicht ausreichend spiegeln und benennen, lernen Kinder nicht, ihre eigenen Emotionen wahrzunehmen und zu steuern“, erklärt der Mediziner. Vor allem in Familien, in denen es zum Beispiel sehr viele Kinder, finanzielle Probleme oder Erkrankungen der Eltern gibt, in schlimmeren Fällen auch Vernachlässigung, emotionalen und körperlichen Missbrauch, könne das zu einer alexithymen Persönlichkeitsstruktur beitragen. Die Wahrscheinlichkeit für Alexithymie steige auch, wenn die Erziehung dadurch geprägt ist, dass Gefühle als etwas Negatives oder Verbotenes angesehen werden.
Alexithymie-Test
In der Forschung und Diagnostik kommen verschiedene Testverfahren zum Einsatz. Häufig wird die Toronto Alexithymia Scale (TAS-20) eingesetzt, ein wissenschaftlich validierter Alexithymie-Test mit 20 Aussagen, die das eigene Gefühlserleben abfragen. Je nach Punktzahl lässt sich eine mögliche Alexithymie einschätzen. Der Test erfasst Schwierigkeiten, Gefühle zu identifizieren und zu beschreiben sowie external orientiertes Denken.
Neben standardisierten Verfahren wie diesem, gibt es eine Reihe von Selbsttests im Internet. Sie können erste Hinweise liefern, ersetzen aber keine psychologische Abklärung. Denn: „Gerade bei Alexithymie sind Selbstbeurteilungsinstrumente mit Vorsicht zu genießen“, sagt Grabe. „Die Frage ist nämlich, wie gut ein Betroffener Auskunft über sein Emotionserleben geben kann, zu dem er ja per Definition nur eingeschränkten Zugang hat.“
Alexithymie: Mögliche Begleit- und Folgeerkrankungen
Alexithymie tritt häufig gemeinsam mit körperlichen oder psychischen Erkrankungen auf. Dazu zählen unter anderem:
- Depressionen
- Angststörungen
- Essstörungen
- Suchterkrankungen
- Chronische Schmerzen
- Somatische Erkrankungen (zum Beispiel Asthma, Diabetes, Hautkrankheiten, COPD, Herz-Kreislauf- oder Magen-Darm-Erkrankungen)
- Diagnosen im Zusammenhang mit Neurodiversität wie Autismus-Spektrum-Störungen oder ADHS
Ob Alexithymie die Ursache, Folge oder ein unabhängiges Begleitsymptom dieser Erkrankungen ist, lässt sich schwer feststellen, auch wenn es nachweisbare Zusammenhänge gibt. „All diese Erkrankungen können sich auf dem Boden des Risikofaktors Alexithymie entwickeln“, sagt Grabe. „Es ist unwahrscheinlich, dass das Persönlichkeitsmerkmal die einzige Ursache ist, aber wenn belastende Lebenssituationen hinzukommen, kann es die Entstehung von psychischen und körperlichen Erkrankungen begünstigen.“
Können Emotionszustände schlecht reguliert und belastende Gefühle nicht verarbeitet werden, führt das zu dauerhaftem Stress, so Grabe: „Diese Spannung scheint im Nervensystem zu verbleiben.“ Gleichzeitig fehlt manchen Betroffenen – Alexithymie-bedingt – ein stabiles soziales Netz, das dabei helfen könnte, mit der Stressbelastung umzugehen. All das kann laut dem Mediziner zu kompensatorischem Risikoverhalten führen, etwa höherem Alkohol- oder Nikotinkonsum, was bestimmte Erkrankungen wahrscheinlicher macht. Weil alexithyme Menschen ein weniger gutes Gefühl für die eigenen Bedürfnisse hätten, könnten sie außerdem schlechter für sich sorgen. Überlaste ich mich gerade? Wann ist Zeit für eine Pause? Was tut mir gut? Auf Fragen wie diese finden sie nur schwer eine Antwort.
Alexithymie: Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Die Behandlung von Alexithymie richtet sich nach der Ursache und Ausprägung des Persönlichkeitsmerkmals. Ziel ist es, die Wahrnehmung und das Verständnis eigener Gefühle zu verbessern. Dabei kommen verschiedene Ansätze der Psychotherapie – zum Beispiel die kognitive Verhaltenstherapie – zum Einsatz. Betroffene lernen, sich selbst besser wahrzunehmen, Emotionen zu differenzieren und angemessen zu regulieren. Daneben kann eine Therapie helfen, Schwierigkeiten in sozialen Situationen und in der persönlichen Kommunikation abzubauen.
Betroffene, denen die Alexithymie bewusst ist, sollten darauf achten, dass der Psychotherapeut oder die Psychotherapeutin Erfahrung damit hat und passende Interventionen anbieten kann – auch dann, wenn zum Beispiel depressive Verstimmungen oder psychosomatische Beschwerden der Grund für die Termine sind. „Therapeuten können sonst das Gefühl bekommen, die Gespräche bleiben an der Oberfläche, sie kommen nicht tiefer, es gibt keine spannenden Erkenntnisse. Sie bekommen also keine Tür auf zum Innenleben des Patienten“, weiß Grabe. „Das sind dann oft frustrierende Sitzungen. Wenn der Behandelnde nicht merkt, dass das eigentliche Thema die Alexithymie ist, dann kann er im schlimmsten Fall gereizt oder gelangweilt reagieren und die therapeutische Beziehung beenden.“
Mit spezifischen Verfahren können sich jedoch durchaus Verbesserungen erzielen lassen, etwa mit körperbezogenen Ansätzen, Biofeedback oder Gruppentherapien. Auch Psychoedukation sei ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu den unverarbeiteten Emotionen, die bislang nicht zugänglich waren. So können Menschen mit Alexithymie Schritt für Schritt feststellen, dass sie weder gefühlskalt, noch emotionslos sind – sondern einen neuen Zugang zu ihren Gefühlen entwickeln können.
Literatur und weiterführende Informationen
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- A. S. Morais et al. (Abruf vom 12.07.2025): Lost in translation – What is alexithymia
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- Cláudia Berenguer et al. (Abruf vom 10.07.2025): Interoceptive awareness, alexithymia, and sexual function
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- Gianluca Serafini et al. (Abruf vom 10.07.2025): Alexithymia as a possible specifier of adverse outcomes: Clinical correlates in euthymic unipolar individuals
- Karen Anne Kramer (Abruf vom 16.07.2025): Psychophysiologische Reaktionsmuster bei Alexithymie – Studie zur Bedeutung der Entkopplungshypothese bei Patienten mit anhaltender somatoformer Schmerzstörung
- K. E. Cruise und R. Becerra (Abruf vom 18.07.2025): Alexithymia and problematic alcohol use: A critical update
- Kirsi Honkalampi et al. (Abruf vom 14.08.2025): Association between alexithymia and substance use: A systematic review and meta-analysis
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- Mario Miniati et al. (Abruf vom 10.07.2025): Is alexithymia the link between anorexia and autism spectrum disorders?
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- Matthias Franz (Abruf vom 13.07.2025): Vom Affekt zum Mitgefühl: Entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Aspekte der emotionalen Regulation am Beispiel der Alexithymie
- Michael Rufer und Hans Jörgen Grabe (Abruf vom 09.07.2025): Alexithymie: Eine Störung der Affektregulation
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