- Was ist Neurodiversität?
- Definition von Neurodiversität
- Neurodivergent und neurotypisch
- Neurotypisch: Wer bestimmt, was normal ist?
- Neurodivergent: Anders, aber nicht krankhaft
- Welche Diagnosen zählen zu Neurodivergenz?
- Autismus und ADHS: Kein Krankheitsbild im klassischen Sinne?
- Stärken und Schwächen neurodivergenter Menschen
- Neurodivergenz am Arbeitsplatz und in der Schule
- Kritik am Konzept der Neurodiversität
In den vergangenen Jahren hat der Begriff Neurodiversität immer mehr an Bedeutung gewonnen. Er beschreibt die natürliche Vielfalt menschlicher Gehirne und damit verbundene Unterschiede in Wahrnehmung, Denken und Verhalten. Es ist eine subjektive soziale Bewegung, die ein Umdenken weg vom medizinischen Modell des Krankheits- und Defizitdenkens fordert. Demnach seien Autismus, Lese-Rechtschreib-Schwäche und andere Diagnosen nicht zwangsläufig krankhafte neurologische Abweichungen, sondern vielmehr ein Ausdruck der breiten Palette menschlicher Vielfalt. Doch was genau bedeutet Neurodiversität und wie können wir lernen, sie besser zu verstehen?
Was ist Neurodiversität?
Definition von Neurodiversität
Neurodiversität beschreibt die Bandbreite der natürlichen Vielfalt, die in der menschlichen Gehirnentwicklung existiert. Den Begriff prägten in den 1990er Jahren die Soziologin Judy Singer und der Journalist Harvey Blume. Ihr Ansatz: Unterschiede in der kognitiven Gehirnfunktion sind ebenso natürlich wie Unterschiede bei Hautfarbe oder Körpergröße – nicht besser oder schlechter, nur anders. Statt neurologische Unterschiede als Störungen oder Defizite zu betrachten, fordert das Konzept der Neurodiversität die Akzeptanz und Wertschätzung dieser Unterschiede und das Ende der Pathologisierung von Neurodivergenzen.
Die Neurodiversitätsbewegung strebt einen Paradigmenwechsel an weg vom medizinischen Paradigma, welches das Denken bislang dominiert. Das medizinische Paradigma geht von einem typischen oder „normalen“ Fähigkeitsniveau aus, das als idealer Gesundheitszustand angesehen wird. Behinderungen und Einschränkungen werden dabei als unmittelbare Folge der biologischen Beschaffenheit und Funktionsweise einer Person betrachtet. Das Konzept der Neurodiversität stellt das medizinische Modell infrage.
Neurodivergent und neurotypisch
Es gibt unzählige Möglichkeiten, wie sich das menschliche Gehirn und der Geist strukturell und funktionell entwickeln können. Viele davon fallen in einen Bereich, der als typische Neuroentwicklung gelten kann, während einige außerhalb dieses Bereichs liegen und als abweichend von der Norm angesehen werden können. Diese Gruppe wird als „neurodivergent“ bezeichnet. „Neurotypisch“ meint hingegen „neurologisch typisch“, also „neurologisch normal“, der Norm entsprechend. Als neurodivers gilt eine Gruppe von Menschen, die aus neurodivergenten und neurotypischen Personen besteht. Nach dem Konzept der Neurodiversität sind alle Menschen als neurodivers zu betrachten.
Neurotypisch: Wer bestimmt, was normal ist?
Was ist denn überhaupt normal? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Und gerade, wenn man sie wissenschaftlich fundiert beantworten will, wird es knifflig. Da gibt es zum einen die Statistik – hier wird etwas als normal betrachtet, wenn es nahe am Durchschnitt liegt. „So gilt ein 1,80 Meter großer Mann als normal, Basketballlegende Dirk Novitzki als besonders“, sagt Professor Ludger Tebartz van Elst, Psychiater an der Uniklinik Freiburg. Er hat sich eingehend mit den Unterschieden der Menschen befasst und ein Buch über die verschiedenen neurologischen Ausprägungen geschrieben.
Dann gibt es die gesellschaftlichen Normen: Sie definieren Erwartungen an Verhalten, die neurotypische Menschen meist erfüllen, neurodivergente jedoch nicht immer. Das kann zu Missverständnissen führen. „Es ist falsch, etwas allein wegen gesellschaftlicher Erwartungen als Krankheit zu bezeichnen“, betont Tebartz van Elst.
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Neurodivergent: Anders, aber nicht krankhaft
Welche Diagnosen zählen zu Neurodivergenz?
Neurodivergenz bezieht sich auf Menschen, deren neurokognitive Funktionen von den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen abweichen. Dazu ist laut dem Konzept der Neurodiversität kein Vorliegen einer Diagnose notwendig. Gleichzeitig wird das Konzept insbesondere von und für Gruppen verwendet, um eine veränderte Sichtweise und Entpathologisierung zu erreichen.
ADHS, Autismus-Spektrum-Störung, Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Tourette-Syndrom gelten laut den Klassifikationssystemen DSM5 und ICD11 als Störungen. Gleichzeitig stellen sie nach dem Konzept der Neurodiversität nur noch Ausprägungen der neurologischen Vielfalt dar. Die Befürworter der Neurodiversitätsbewegung argumentieren, dass die neurokognitive Vielfalt als eine normale und gesunde Manifestation der biologischen Vielfalt betrachtet werden sollte.
Zu den neurologischen Ausprägungen, die Neurodivergenz umfasst und die oftmals – aber nicht nur – als Störungen klassifiziert werden, gehören unter anderem:
- Autismus-Spektrum-Störung (ASS)
- Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
- Dyslexie (Lese-Rechtschreib-Schwäche)
- Dyskalkulie (Rechenschwäche)
- Dyspraxie (Koordinations- und Entwicklungsstörung)
- Tourette-Syndrom
„Wir sprechen hier über Unterschiede, die oft nicht zu den gesellschaftlichen Erwartungen passen, aber nicht zwingend pathologisch sind“, sagt Psychiater Tebartz van Elst.

Zum Beispiel Autismus, ADHS und Dyslexie gehören zu den neurodivergenten Ausprägungen.
Autismus und ADHS: Kein Krankheitsbild im klassischen Sinne?
Der Ursprung des Neurodiversitätsbegriffs liegt in der Autismusbewegung, wo unter anderen auch Judy Singer zu verorten ist. Autismus und ADHS werden häufig als Störungen wahrgenommen. Dabei sind sie für viele Forschende und Betroffene schlicht unterschiedliche Arten zu denken, zu fühlen und die Welt zu erleben und nur deshalb anders, weil sie nicht der Norm entsprechen. Es ist nicht leicht, sich als „Neurotypischer“ vorzustellen, wie ein Mensch mit Autismus oder ADHS die Welt erlebt – und anders herum. Von außen sehen wir immer nur, wie sich die anderen verhalten. Aber wie etwa Eindrücke auf Menschen mit ADHS ungefiltert einprasseln oder jemand mit Autismus die Mimik des Gegenübers erst mühsam entschlüsseln muss, ist für andere unsichtbar.
Stärken und Schwächen neurodivergenter Menschen
Neurodivergenz vereint oft besondere Talente mit individuellen Herausforderungen. Menschen mit ADHS können sich beispielsweise so stark auf ein Thema konzentrieren, dass sie darüber Grundbedürfnisse wie Essen oder Schlafen vernachlässigen. Autistische Menschen beeindrucken häufig durch ihre analytische und logische Denkweise, während sie gleichzeitig im sozialen Umgang auf Schwierigkeiten stoßen.
Neurodivergenz am Arbeitsplatz und in der Schule
Für neurodivergente Menschen ist es wichtig, im Job eine „Nische“ zu finden, in der sie ihre Stärken nutzen und ihre Schwächen in den Hintergrund rücken können. Ein Mangel an Verständnis und Unterstützung am Arbeitsplatz führt Studien zufolge häufig dazu, dass Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung unterbeschäftigt sind. Auf der anderen Seite erkennen immer mehr Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber auch Chancen in der Inklusion neurodivergenter Menschen. So haben große Unternehmen gezielt Programme zur Förderung von Inklusion ins Leben gerufen und machen so auf das Thema aufmerksam.

Im Arbeitsumfeld kommen oft besondere Herausforderungen auf neurodivergente Menschen zu.
Für viele neurodivergente Menschen liegt die größte Herausforderung darin, in einer Gesellschaft zurechtzukommen, die vor allem auf neurotypisches Erleben und Verhalten ausgerichtet ist. Umso wichtiger ist es, ihr Umfeld so zu gestalten, dass individuelle Anforderungen berücksichtigt werden. Schon kleine Anpassungen – wie ein ruhiger Arbeitsplatz, klare Anweisungen oder flexible Pausenregelungen – können in Schule und Beruf einen großen Unterschied machen.
Genauso entscheidend ist das Verständnis für Unterschiede in den sozialen Fähigkeiten. Menschen mit Autismus nehmen etwa nonverbale Signale wie Mimik oder Körperhaltung oft nicht wahr. Mit Übung und einem analytischen Ansatz können sie jedoch lernen, diese Hinweise zu deuten. Umgekehrt können neurotypische Personen lernen, das Verhalten von Menschen mit Autismus oder ADHS besser zu verstehen. „Hochfunktionale Autisten wirken auf andere oft arrogant oder unhöflich“, schildert Tebartz van Elst. „Wenn ein autistischer Junge sich ständig in ein Buch vertieft, denken die Mitschüler womöglich, er halte sich für etwas Besseres. Diese Fehleinschätzung kann ihn noch stärker isolieren.“
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Missverständnisse lassen sich schon im Kindesalter vermeiden, wenn Unterschiede in Wahrnehmung, Denken und Verhalten erklärt und verstanden werden. Das fördert die soziale Integration – und nützt allen: Menschen mit Autismus, ADHS oder Dyslexie können ihre Stärken besser einbringen, was die Gesellschaft insgesamt bereichert. Der Ansatz der Neurodiversität ermutigt dazu, die Vielfalt menschlicher Gehirne anzuerkennen und zu schätzen. Schulen und Arbeitgeber spielen dabei eine Schlüsselrolle, indem sie Hürden abbauen und Inklusion ermöglichen.
Neurodivergenz in der Kunst
Das Konzept der Neurodiversität beinhaltet auch, dass normabweichende Merkmale nicht mehr separat von der Person verstanden werden, sondern einen Teil der Persönlichkeit darstellen. Das zeigt sich etwa in der Kunst. Viele außergewöhnliche Künstler und Denker waren vermutlich neurodivergent. In der Geschichte finden sich zahlreiche Hinweise auf hochfunktionalen Autismus und Asperger-Syndrom bei bekannten Persönlichkeiten, etwa bei Wolfgang Amadeus Mozart, Vincent van Gogh, Ludwig van Beethoven, Andy Warhol und George Orwell. Diese Menschen zeigten oft ungewöhnliche Verhaltensweisen und Routinen, wie Beethovens unpassende Heiratsanträge oder van Goghs Schwierigkeiten, zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen. Trotz (oder gerade wegen) dieser Eigenheiten schufen sie Werke von bleibender Bedeutung.
Die zeitgenössische Künstlerin Kai Syng Tan gibt sogar direkt mit ihrer Kunst Einblick in ihre von ADHS-geprägte Wahrnehmung – gemeinsam mit einem Neurowissenschaftler erschuf sie einen Wandteppich, der eine wahre Explosion von Form und Farbe ist und Neurodiversität zeigen und feiern soll.
Kritik am Konzept der Neurodiversität
Obwohl das Konzept der Neurodiversität vielen Menschen zu einem positiveren Selbstbild verhilft, gibt es auch Kritik. Ursprünglich zur Entstigmatisierung von Unterschieden gedacht, wird der Begriff Neurodiversität mittlerweile bisweilen abwertend oder ironisch verwendet, was das Verständnis für neurologische Vielfalt erschweren kann. Psychiater Tebartz van Elst erklärt dazu, dass „Neurodiversität eigentlich ein Begriff der Anerkennung von Vielfalt ist, der jedoch oft missverstanden wird, wenn man neurologische Unterschiede pauschal abwertet.“
Kritiker warnen zudem, dass Neurodiversität manchmal zu einer Art „Identitätsfalle“ werden könnte, in der Menschen sich primär über ihre neurologische Andersartigkeit definieren und sich gegenüber sinnvollen Hilfs- oder Therapieangeboten verschließen.
So könnten sich beispielsweise Menschen mit ADHS damit abfinden, dass sie eben unpünktlich sind, statt sich, vielleicht auch im Rahmen einer ärztlichen Beratung, Methoden anzueignen, mit denen sie bei wichtigen Anlässen ihr Zeitmanagement verbessern können. Oder Menschen mit Autismus könnten sich zurückziehen, statt ihre sozialen und kommunikativen Fähigkeiten auszubauen.