Junge Frau nimmt ein Medikament mit einem Glas Wasser ein
Medikamente

Neuroenhancement: Doping fürs Gehirn?

Lesedauer unter 7 Minuten

Redaktion

  • Barmer Internetredaktion

Qualitätssicherung

  • Heidi Günther (Apothekerin bei der Barmer)

Wacher, schneller, konzentrierter: Manche Menschen versuchen, ihre geistige Leistungsfähigkeit mit psychoaktiven Substanzen zu steigern. Kann das sogenannte Neuroenhancement funktionieren? 

Kennt ja irgendwie jeder: Die Arbeit türmt sich auf dem Schreibtisch, die Abgabe für die Präsentation ist deutlich näher als eine zündende Idee, die To-Do-Liste nimmt kein Ende und im Postfach stapeln sich E-Mails, die beantwortet werden wollen. Wie praktisch wäre es da, mal eben schnell in den Superhelden-Modus zu schalten und alles fokussiert und in Rekordgeschwindigkeit zu erledigen? Ruck zuck, fertig!

Neuroenhancer gehen mit genau solchen Versprechungen einher“, sagt Professor Gereon Nelles vom Berufsverband Deutscher Nervenärzte. Psychoaktive Substanzen sollen die Aktivität der Nervenzellen im Gehirn erhöhen und so die kognitive Leistungsfähigkeit verbessern. Also etwa Konzentration, Merkfähigkeit und Wachheit steigern – selbst und gerade dann, wenn man sich erschöpft und ausgelaugt fühlt. 

Für viele ist das offenbar eine verlockende Vorstellung: In Umfragen geben rund sieben Prozent der Erwerbstätigen zwischen 20 und 50 Jahren an, schon einmal mit Neuroenhancern experimentiert zu haben. Unter Studierenden räumen 23 Prozent den Versuch ein, ihre Lernleistung in stressigen Prüfungsphasen mit Medikamenten zu steigern. 

Und unter Wissenschaftlern liegt die Bereitschaft, der eigenen Konzentration mit verschreibungspflichtigen Präparaten auf die Sprünge zu helfen, bei etwa zehn Prozent. „Die Zahlen variieren je nach Umfrage, Studiendesign und Zielgruppe. Wahrscheinlich liegt die Dunkelziffer aber ohnehin höher“, sagt Neurologe Nelles, der eine zunehmende gesellschaftliche Verbreitung für diese Form von Gehirndoping beobachtet. 

Von Mate bis Modafinil

Die Bandbreite der Substanzen, die eine Verbesserung unserer Leistung versprechen, ist breit. Sie reicht von harmlosen Stoffen wie Koffein, Mate, Guarana oder Ginkgo über verschreibungspflichtige Medikamente wie Methylphenidat, Amphetamine oder Modafinil bis hin zu illegalen Drogen wie Speed oder Ecstasy. „Am intensivsten werden aktuell Arzneistoffe diskutiert, die es eigentlich nur auf Rezept gibt“, sagt Soziologe Dr. Sebastian Sattler von der Universität Bielefeld.

Allen voran Amphetamine wie Dexamfetamin oder Methylphenidat, die zur Behandlung von ADHS verschrieben werden – letzteres ist unter anderem bekannt als Ritalin®. Viele der als Neuroenhancer verwendeten verschreibungspflichtigen Wirkstoffe sind zur Behandlung von Personen mit Demenzerkrankungen, Narkolepsie, schweren psychischen Erkrankungen oder ADHS zugelassen. Werden sie als Neuroenhancer eingesetzt, erfolgt die Anwendung außerhalb der Zulassung.

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Wie wirken Methylphenidat und Modafinil im Gehirn?

Bei dem Wirkstoff Methylphenidat handelt es sich um einen sogenannten Wiederaufnahmehemmer, der direkt im Gehirn wirkt und dort auf zwei Stoffe abzielt: Dopamin und Noradrenalin. 

Das sind Botenstoffe, mit denen Gehirnzellen untereinander kommunizieren. Sobald eine Zelle diese Botenstoffe ausschüttet, reagieren die Nachbarzellen darauf und werden stimuliert. Danach nehmen die ausschüttenden Zellen den Botenstoff wieder auf, um die Signalübertragung zu stoppen. Durch Wiederaufnahmehemmer wird dieser Prozess verlangsamt, weshalb Dopamin und Noradrenalin länger an den Andockstellen der Nachbarzellen verweilen.

Die Behandlung mit diesen Substanzen erhöht also den Spiegel bestimmter Botenstoffe im Gehirn und fördert so Wachheit und Konzentration – allerdings vor allem bei Menschen, bei denen das Gleichgewicht der Botenstoffe krankheitsbedingt gestört ist. Also etwa Patienten mit ADHS.

Der Wirkstoff Modafinil hingegen steckt in einem Medikament gegen Narkolepsie, das zum Beispiel unter dem Namen Vigil® vertrieben wird.

Patienten und Patientinnen mit entsprechender Diagnose helfen beide Wirkstoffgruppen nachweislich, was aber bewirken sie bei gesunden Menschen? Die Studienlage dazu ist insgesamt eher dünn. Was sich aber sagen lässt: „Die Mittel können zwar tatsächlich einen leistungssteigernden Effekt haben, doch geht die Einnahme mit gesundheitlichen Risiken einher“, warnt Mediziner Nelles. 

Wer ohne medizinische Indikation, Verordnung und passende Dosis mit Stimulanzien wie Methylphenidat hantiert, riskiert zum Beispiel Kopfschmerzen, Schwindel, Zittern, übermäßige Nervosität, Schweißausbrüche, Bluthochdruck, Schlafstörungen, Herzrhythmusstörungen, Organschäden, Persönlichkeitsveränderungen, Krampf- und epileptische Anfälle oder sogar einen plötzlichen Herztod. „Mit den potenziellen Nebenwirkungen ist wirklich nicht zu spaßen“, sagt der Neurologe, der deshalb entschieden von einer selbstverordneten Einnahme zur Leistungssteigerung abrät.

Einige der Nebenwirkungen müssen dabei nicht erst bei einer hohen Dosierung oder regelmäßigen Einnahme eintreten. Bereits die einmalige Einnahme kann entsprechende Risiken bergen.

Laut Studien hat das Neuroenhancement mit Medikamenten nur einen geringen leistungssteigernden Effekt, bringt aber zahlreiche Risiken mit sich.

Laut Studien hat das Neuroenhancement mit Medikamenten nur einen geringen leistungssteigernden Effekt, bringt aber zahlreiche Risiken mit sich.

Keine Wunderpillen

Wer sein Gehirn auf nimmermüde trimmen will, zahlt gesundheitlich also unter Umständen einen hohen Preis – für eine oft überschaubare Wirkung des Neuroenhancements.

„Wir wissen aus Studien, dass diese Mittel meist hinter den subjektiven Erwartungen zurückbleiben. Die Leistungssteigerung entspricht also nicht dem, was sich die Menschen erhoffen oder was sie zu erleben glauben“, sagt Soziologe Sattler. Tatsächlich dämpfen Studien bisher die Hoffnung auf eine Wunderpille zur Selbstoptimierung. Wissenschaftler der Universität Mainz etwa ließen im Rahmen eines Experiments Schachspieler gegen einen Schachcomputer antreten. 

Einige der Spieler bekamen vorab Koffein, andere Medikamente wie Ritalin oder Modafinil. Zwar erzielten die hirngedopten Spieler tatsächlich etwas mehr Punkte als die unbehandelten Spieler. Aber der Effekt war minimal, wurde durch Zeitdruck zunichte gemacht und war gerade mal 1,7 Prozent stärker als jener von Koffein.

Metastudien – sie betrachten und fassen die Ergebnisse vieler Studien zusammen – kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Der Psychologe Carl Roberts von der Universität Liverpool etwa wertete mit seinem Team eine Reihe von Untersuchungen aus. Das Ergebnis: „Es gibt die Erwartungshaltung, dass solche Medikamente wirksame kognitive Verstärker sind – aber diese Annahme wird bisher nicht durch Beweise gestützt.“

Warum greifen manche Personen trotzdem zu solchen Substanzen? Als Soziologe interessieren Sebastian Sattler auch die Beweggründe, aus denen Menschen freiwillig zu Ritalin und Co. greifen. 

Wenig überraschend spielen dabei Stress und Leistungsdruck eine große Rolle: „Beruflicher Stress, etwa durch lange Arbeitszeiten, Schichtarbeit, Aufgabenflut, ständige Verfügbarkeit, emotionale Beanspruchung oder Führungsverantwortung zählen zu den wichtigsten Einflüssen.“ Manchmal steckt die Angst vor Jobverlust oder Prüfungsversagen hinter dem Konsum von Neuroenhancern, manchmal das Streben nach mehr Geld und Ansehen – und oft schlicht der Wunsch, irgendwie durchzuhalten.

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Zutiefst menschliches Bedürfnis

Ist Gehirndoping also ein Symptom unserer Leistungsgesellschaft? Der letzte Ausweg zwischen Abgabeterminen und Alltagsstress, Meetingmarathon und Multitasking? Ganz so einfach ist es nicht. Auch das soziale Umfeld, emotionale Belastungen oder Persönlichkeitsmerkmale wie starke Selbstkontrolle oder ein erhöhtes Leistungsstreben haben Einfluss, außerdem braucht es eine gewisse moralische Flexibilität – schließlich gibt es durchaus viele Menschen, bei denen Neuroenhancement verpönt ist.

Umgekehrt gibt es sogenannte Spill-Over-Effekte: „Wenn Menschen im Umfeld solchen Substanzen nehmen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass andere es ebenfalls tun“, sagt Sattler. Den Drang, Leistung zu verbessern hält Sattler für zutiefst menschlich: „All die Maschinen und Technologien, die es gibt, die uns täglich helfen, Dinge schneller, effizienter oder in größerem Umfang zu erledigen, sind ein Ausdruck davon.“

Spannend auch: Männer und Frauen nutzen Neuroenhancer mit teils unterschiedlichen Absichten. Eine Studie der University of California zeigt solche Unterschiede: Der Untersuchung zufolge nutzen Frauen die Mittel vorrangig als Lernhilfe, gegen Müdigkeit und Stress. Bei Männern kommen andere Motive hinzu, etwa die Suche nach ekstatischen Zuständen und einer Steigerung der sexuellen Potenz – und mitunter sogar der Wunsch, den allgegenwärtigen Leistungsdruck einfach mal zu vergessen.

Leistungsminderung statt Leistungssteigerung

Was auch immer Menschen sich davon erhoffen: Dass die Neuroenhancement-Mittel meist weniger stark wirken als erhofft, liegt auch daran, dass sie im Gehirn gesunder Menschen keine Funktion erfüllen. „Funktioniert die Signalübertragungen zwischen den Synapsen reibungslos und sind die Botenstoffe im Gleichgewicht, gibt es nicht viel Spielraum für Optimierung“, erklärt Nelles. Das ist auch der Grund, warum sich eine Manipulation bei bestimmten Menschen sogar negativ auswirkt und mit einer Leistungsminderung einhergeht.

Das Suchtpotenzial ist dennoch nicht zu unterschätzen: „Veränderungen und Anpassungen des Hirnstoffwechsels erfordern schnell eine Regelmäßigkeit der Einnahme und eine Steigerung der Dosis“, warnt Nelles.

Gesunde Alternativen zum Neuroenhancement

Geringer Effekt, hohes Risiko: Unterm Strich lohnt sich Neuroenhancement nicht. Bleiben gesunde Alternativen, um das Hirn auf Hochtouren zu bringen. „Dazu gehören ausreichend Schlaf und Pausen, eine gute Flüssigkeitsversorgung, reichlich Bewegung und frische Luft“, sagt Nelles.

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Sinnvolle Pausen zeichnen sich dadurch aus, dass man eine Tätigkeit wirklich unterbricht, aufsteht, die Gedanken schweifen lässt, etwas völlig anderes tut. Wenn möglich, sind viele kurze Pausen besser als eine lange. Gegen die Tasse Kaffee zwischendurch spricht dabei in den meisten Fällen nichts: Koffein macht nachweislich wacher – für Tee gilt das genauso, chemisch bestehen kaum Unterschiede zwischen Tein und Koffein. 

Auch helles Licht, ein Nickerchen, der richtige Snack oder Meditation können helfen. Für Ginkgo wiederum ist eine leichte Verbesserung der Gedächtnisleistung belegt. „Klingt alles etwas langweilig im Vergleich zu vermeintlichen Wunderpillen“, räumt Nelles ein, „wirkt aber nachhaltiger, gesünder und meist deutlich besser.“

Literatur

Weiterführende Informationen


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