Eine Frau sitzt im Schneidersitz vor einem See
Nachhaltigkeitsbericht

„Umweltschutz und Gesundheitsschutz gehören für uns zusammen“

Lesedauer unter 10 Minuten

Bis 2030 will die Barmer klimaneutral werden. Im Interview sprechen Vorständin Simone Schwering und Dr. Janine Voß, Bereichsleiterin Zentrale Dienste, über große Fortschritte, zukünftige Herausforderungen und warum Resilienz auch für eine Krankenkasse wichtig ist.

Aktueller Hinweis: Seit wir diesen Text erstellt haben, haben sich die Dinge weiterentwickelt. Die Barmer ist bereits seit September 2022 klimaneutral. Erfahren Sie hier mehr. 

Frau Schwering, vielen Menschen mag das gar nicht bewusst sein: Das Gesundheitswesen ist für rund 5% der CO2-Emissionen in Deutschland verantwortlich. Das ist mehr als die Luftfahrt. Wo entstehen diese Emissionen?

Simone Schwering: Sie stammen aus sehr unterschiedlichen Quellen. Das gesamte Gesundheitswesen benötigt zum Beispiel sehr viele Chemikalien, Medizinprodukte und so weiter. Krankenhäuser haben einen extrem hohen Strombedarf. Dazu kommen die Gebäudeflächen, die Verpflegung von Patienten oder die Fahrzeugflotten.

Wie groß ist der Anteil der Krankenkassen?

Simone Schwering: Verhältnismäßig klein. Wir produzieren ja nicht. Aber wir nutzen natürlich auch Energie für unsere Flächen und für unsere IT-Infrastruktur.

Frau Dr. Voß, die Barmer hat im vergangenen Jahr beschlossen, bis 2030 klimaneutral zu werden. Warum war dieses Ziel notwendig?

Janine Voß: Wir setzen uns tagtäglich für die Gesundheit von Millionen Menschen ein. Diese wird durch den Klimawandel auf vielerlei Arten beeinflusst. Umweltschutz und Gesundheitsschutz gehören deswegen für uns zusammen. Dass wir uns offiziell ein konkretes Ziel gesetzt haben, hatte aber noch einen weiteren Grund: Wir wollten die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Klimaschutz eine wichtige Aufgabe ist und sofort angegangen werden muss.

Können Sie das präzisieren?

Janine Voß: Viele Maßnahmen, die zum Klimaschutz beitragen, nehmen Zeit in Anspruch. Bauprojekte zum Beispiel ziehen sich über mehrere Jahre hin. Auch Dinge wie der Wechsel zu nachhaltigerer Mobilität können dauern. Ein Kollege von mir möchte unbedingt auf ein E-Auto umsteigen. Aber der Wagen hat derzeit eine Lieferzeit von anderthalb Jahren. Das ist nur anekdotisch, zeigt aber, dass es bei den Bemühungen für mehr Nachhaltigkeit auch auf das Zusammenspiel von Industrie und Politik ankommt.

Frau Schwering, die Gesundheit aller Menschen ist abhängig von der des Planeten, den wir teilen. Können Sie Beispiele nennen, wie der Klimawandel sich heute schon auf die Gesundheit der Deutschen auswirkt?

Portrait von Simone Schwering, Vorstandsmitglied

Simone Schwering, Vorständin der Barmer

Simone Schwering: Gerade im vergangenen Jahr haben wir erlebt, was es bedeutet, wenn Wetterextreme zunehmen. Hochwasser oder Dürreperioden bedeuten eine Gefahr für die Gesundheit. Hitzewellen haben negative Gesundheitsfolgen, es kommt zu mehr Krankenhauseinweisungen und letztlich auch zu hitzebedingten Todesfällen. Das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöht sich. Wir rechnen wegen des Klimawandels damit, dass Kreislauf- und Atemwegserkrankungen zunehmen, aber auch durch Mücken oder Zecken übertragbare Krankheiten. Allergiker leiden darunter, dass der Pollenflug durch die Erderwärmung früher beginnt und auch sehr viel länger dauern kann. Und in Folge all dieser Auswirkungen steigen natürlich auch die psychischen Belastungen.

Frau Dr. Voß, Sie koordinieren bei der Barmer die Weiterentwicklung und Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen. Was bedeutet es für ein Unternehmen mit rund 15.500 Beschäftigten und etwa 380 Standorten, wenn dieses klimaneutral werden will?

Janine Voß: Es ist eine unternehmensweite Aufgabe und es gibt viele Kolleginnen und Kollegen, die sich sehr stark engagieren. Um so einen Wandel im Unternehmen voranzutreiben, hilft es jedoch, wenn die Bestrebungen zentral koordiniert werden. Wir haben deshalb die Abteilung Beschaffung und Nachhaltigkeit eingerichtet und einen Projektleiter eingesetzt, um die nötige Expertise aufzubauen.

Was sind derzeit Ihre größten Klima-Baustellen?

Portrait von Janine Voß

Janine Voß, Barmer-Bereichsleiterin Zentrale Dienste

Janine Voß: Ein Bereich, der für unseren Fußabdruck entscheidend ist, sind die Büroflächen. Da haben wir bereits einen großen Schritt getan, indem wir 2020 bundesweit alle Gebäude und Geschäftsräume auf Ökostrom umgestellt haben. Damit konnten wir 2021 bereits mehr als 3.730 Tonnen CO2 einsparen. Das möchten wir langfristig noch optimieren, indem wir unsere Gebäude energetisch sanieren. Ein weiterer guter Hebel, um Emissionen zu reduzieren, ist die Digitalisierung von Prozessen, zum Beispiel indem wir immer mehr Services online anbieten. Unser Online-Kundenportal Meine Barmer wird in einem emissionssparenden Rechenzentrum gehostet, das zu 100 Prozent mit Ökostrom läuft. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Mobilität der Mitarbeitenden. Manche pendeln, andere sind häufig auf Dienstreise. Hier hat sich durch die Pandemie viel getan, Videokonferenzen können so manche Dienstreise ersetzen und das Thema Telearbeit hat bei uns durch Corona einen Schub bekommen. Aber auch Themen mit weniger starken CO2-Emissionen schauen wir uns an, z. B. den Papierverbrauch oder Werbemittel.

Wo geht es vielleicht nicht so schnell, wie Sie es sich wünschen?

Janine Voß: Wir sind natürlich abhängig von den Rahmenbedingungen. Nehmen wir die Mobilitätswende. Je schneller diese voranschreitet – zum Beispiel, indem der öffentliche Nahverkehr effizienter und attraktiver wird – desto erfolgreicher sind wir bei der Umstellung. Bis alle Mitarbeitenden überzeugt sind, dass es auch ohne Auto geht, wird es sicher noch einige Jahre dauern.

Frau Schwering, wer bemisst und bewertet die Veränderungen? Und wo stehen Sie aktuell?

Simone Schwering: Wir arbeiten hierfür mit einem externen Unternehmen zusammen, das mit uns die Emissionen berechnet und Lösungen findet, um klimaneutral zu werden. Wir haben bei der Berechnung 2019 als unser Basisjahr definiert. Da waren wir noch im Normalmodus ohne Pandemie. Verglichen damit haben wir 2021 um 39 Prozent reduziert. Das ist natürlich erheblich und sicherlich auch der Pandemie geschuldet. Wir hoffen, das aber mittelfristig zu stabilisieren.

Janine Voß: Wir haben den Vorteil, dass die Daten, auf die wir zurückgreifen, sehr gut sind. Unsere Beschaffungen laufen zum Beispiel über ein zentrales System. Dadurch liegen uns Primärdaten über unsere Verbräuche vor. Wir müssen das nicht schätzen.

Wie gut sich ein Unternehmen auf neue Bedingungen einstellen kann, ist auch von der Bereitschaft der Mitarbeitenden abhängig, mitzugehen. Wie stark ist deren Engagement für Nachhaltigkeit?

Simone Schwering: Unsere Mitarbeiter beeindrucken mich immer wieder mit ihrer Einsatzbereitschaft. Während der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz haben sie ganz unbürokratisch etliche Aktionen gestartet, beispielsweise Kühlschränke aus privaten Spenden in die betroffenen Regionen gebracht. Um in der Ukraine zu helfen, haben sie mehrere Lastwagen an gesammelten Hilfsgütern zusammengetragen und in Zusammenarbeit mit der Feuerwehr Duisburg in vom Krieg betroffene Regionen transportiert. Das Thema Nachhaltigkeit steht aber auch im Fokus unserer Unternehmenskultur. Es geht um die Gesundheit unserer knapp 9 Millionen Versicherten. Wir verstehen uns als ihre Beraterinnen, Berater und Lotsen, gestalten in ihrem Interesse das Gesundheitssystem mit. Langfristigkeit, Vorsorge und Wirtschaftlichkeit sind Teil unserer Identität. Das schließt nachhaltiges Handeln ganz selbstverständlich mit ein.

Wo schafft die Barmer Anreize, um die Mitarbeitenden zu sensibilisieren und zu unterstützen?

Simone Schwering: Im Bereich Mobilität sind wir sehr aktiv. Unser Leasingangebot für ein Dienstfahrrad wird derzeit von über 2.000 Mitarbeitenden in Anspruch genommen. Außerdem können unsere Mitarbeitenden überall dort ein vergünstigtes Jobticket über die Barmer beziehen, wo dies vom Verkehrsverbund angeboten wird. Und natürlich ist das Thema Dienstreisen bei uns im Umbruch. Da lassen wir uns derzeit beraten. Außerdem hatten wir im Juni unseren ersten digitalen Nachhaltigkeitstag: Wir haben uns Zeit genommen und über die Nachhaltigkeitsthemen gesprochen, die unsere Mitarbeitenden wirklich bewegen. Denn deren Beteiligung ist für uns ein zentraler Erfolgsfaktor.

Frau Dr. Voß, welche Bedeutung hat der im März 2021 veröffentlichte Lieferantenkodex für die Nachhaltigkeitsstrategie der Barmer?

Janine Voß: Dieser ist für uns ein ganz wichtiges Kommunikationsinstrument, um unsere Haltung deutlich zu machen. Wir haben darin unsere Auffassungen in Sachen Menschenrechte und Umweltschutz zusammengefasst. Der Kodex ist auf positive Resonanz gestoßen, Zulieferer sind mit Vorschlägen auf uns zugekommen. So etwas hilft immens. Für die Umsetzung nutzen wir verschiedene Nachhaltigkeitssiegel und haben uns dafür intensiv mit dem Markt auseinandergesetzt. In welchen Bereichen gibt es da bereits etwas? Wie sinnvoll sind die einzelnen Siegel? Mit welchen Preisaufschlägen müssen wir rechnen? Da war auch der Rat unserer Partner willkommen.

Gibt es Bereiche, in denen Sie derzeit noch Schwierigkeiten haben, Ihre Standards durchzusetzen?

Janine Voß: Objektive Nachweise zur Nachhaltigkeitsperformance liegen in manchen Bereichen noch nicht flächendeckend vor, damit ist es natürlich schwierig, sie als Anforderungen in Ausschreibungen zu setzen. Das ist ein wichtiges Entwicklungsfeld.

Welche Ihrer Lieferanten haben Sie positiv überrascht?

Janine Voß: Einige. Ein Möbelhersteller beispielsweise hat uns, als er hörte, dass Nachhaltigkeit hoch oben auf unserer Agenda steht, ungefragt eine Bewertung seines Unternehmens zur Verfügung gestellt. Er hatte sich evaluieren lassen, wie verantwortlich er handelt – sei es in Umweltfragen, bei Arbeitsbedingungen oder nachhaltiger Beschaffung. Das fand ich super.

Frau Schwering, ein großer Umbau im Unternehmen muss immer auch finanziert werden. Inwieweit bedeutet eine Entlastung der Umwelt eine Belastung für die Versicherten?

Simone Schwering: Ganz ohne Mehrkosten geht es nicht. Das ist klar. Das Geld, das wir hier verwalten, ist jedoch das Geld unserer Versicherten. Wir müssen in ihrem Sinne handeln und eine entsprechende Balance finden. Unsere Bürogebäude und Geschäftsräume nachhaltig zu renovieren und modernisieren, ist so eine Investition – eine Investition in die Zukunft, die wir sukzessive je nach Bedarf tätigen.

In den vergangenen Jahren hat die Barmer Prozesse wie den Bearbeitungsstatus von Krankschreibung und Krankengeld für die Versicherten digital zugänglich gemacht. Welche Auswirkungen hat diese fortschreitende Digitalisierung auf das Klima?

Janine Voß: Natürlich ist die Digitalisierung ein ganz entscheidender Hebel für mehr Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen. Wenn man sich vorstellt, wie viele Tonnen Papier jeden Tag verschickt werden und was da noch eingespart werden kann – das ist schon enorm. Manche Dinge lassen sich aber nicht digitalisieren. Die Zahl der Versicherten, die selbstverständlich mit Computer und Smartphone umgehen, ist groß. Aber es sind eben noch nicht alle. Dort, wo wir analog unterwegs sind, achten wir auf eine achtsame Ressourcennutzung.

Wenn Sie es zusammenfassen: Wo steht die Barmer auf dem Weg zur Klimaneutralität?

Janine Voß: Wir haben einige beachtliche Verbesserungen erzielt und ich würde das natürlich gerne so fortsetzen. Wir wissen aber auch, dass diese Entwicklungen teilweise der Pandemie geschuldet sind. Deswegen müssen wir uns darauf einstellen, in Zukunft auch mal Rückschläge zu erleiden oder auf Hindernisse zu stoßen. Alles andere wäre unrealistisch. Wichtig ist doch, dass wir dafür gewappnet sind und damit umgehen können. Und dass wir das intern aber auch nach außen kommunizieren. Nur, wenn wir ehrlich mit diesen Themen umgehen, können wir die nötige Resilienz aufbauen.

Frau Schwering, welche positiven Erkenntnisse aus den vergangenen Monaten nehmen Sie mit, um die Zukunft zu gestalten?

Simone Schwering: Die Corona-Pandemie war eine riesige Herausforderung, hat aber auch viele Entwicklungen massiv beschleunigt, zum Beispiel die Digitalisierung und damit verbunden neue Formen von Führung, Kollaboration und Lernen. Diese Erfahrungen wollen wir auswerten und die guten Effekte auch zukünftig nutzen. Die Dynamik an sich ist absolut positiv und wir werden Sie auch beim Thema Nachhaltigkeit brauchen.

Ein Frau hält ein Tablet in der Hand, auf dem ein Arzt zu sehen ist.

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