Ein junger Mann zeigt einer älteren Dame ein Tablet
CDR-Bericht

Pflege digital unterstützt

Lesedauer unter 9 Minuten

Redaktion

  • Christin Kaufmann

Qualitätssicherung

  • Maria Hinz (Barmer.i)

Zu pflegen heißt, sich für das Wohl eines anderen Menschen einzusetzen. Digitale Services können dabei unterstützen. Die Barmer macht sich für Angebote stark, die allen Menschen offenstehen. 

Der typische Gamer? Ist jung, männlich und ballert – eine Hand im Pizzakarton, die andere auf der Tastatur – im abgedunkelten Zimmer auf virtuelle Gegner ein. Soweit das Klischee. In deutschen Seniorenheimen wie dem Hamburger Hospital zum Heiligen Geist, dem St. Vinzenzhaus im rheinland-pfälzischen Gebhardshain oder dem Paul Gerhardt e.V. in Pforzheim sieht eine Gaming-Session anders aus. Dort treffen sich mehrmals in der Woche Seniorinnen und Senioren in hellen Gemeinschaftsräumen bei Kaffee und Keksen, um abwechselnd mit einem knallroten computergenerierten Motorrad die Landstraße entlang zu brettern. Die jüngsten unter ihnen sind in ihren Fünfzigern, manche gehen auf die 100 zu. Einige sitzen im Rollstuhl, andere sind halbseitig gelähmt. Aber sie alle finden es lustig, mit der memoreBox Computerspiele zu spielen. Sie schlagen beim Tischtennis auf dem Bildschirm Bälle hin und her, singen Karaoke oder tanzen die Schritte eines Avatars nach. Nach jeder Session sind sie ein wenig geschickter, fitter und kommunikativer.

Körperliche Beeinträchtigungen überwinden: mit der memoreBox

Portrait Andrea Jakob-Pannier

Andrea Jakob-Pannier, Psychologin bei der Barmer

Spielen trotz hohen Alters, einsetzender Demenz oder körperlicher Beeinträchtigung: Mit der memoreBox geht das. Die Spielekonsole, entwickelt vom Hamburger Startup RetroBrain, braucht keinen Controller. Sie erfasst die Bewegungen der Spielenden über eine 3D-Kamera und überträgt diese auf den Bildschirm. Die Spiele sind so programmiert, dass sie für jeden Menschen schnell und intuitiv zu lernen sind. Wer mitmacht, trainiert Muskeln und Gehirn. Das belegen wissenschaftliche Untersuchungen der Humboldt Universität zu Berlin und weiterer Forschungseinrichtungen. „Das regelmäßige Spielen verbesserte die kognitive und körperliche Leistungsfähigkeit, aber auch die Stimmung der Seniorinnen und Senioren“, sagt die Psychologin Andrea Jakob-Pannier. Vier Jahre lang hat die Barmer das Präventionsprojekt mit der memoreBox in über 100 Einrichtungen exklusiv begleitet. Als Projektleiterin war Andrea Jakob-Pannier während der Pilotphase in Hamburg und dem anschließenden bundesweiten Rollout dabei. „Die Testpersonen und auch die Pflegekräfte hatten richtig Spaß“, sagt sie. An eine Session in Düsseldorf erinnert sie sich besonders gerne. Unter den Spielenden war ein 101 Jahre alter ehemaliger Tanzlehrer. „Er saß im Rollstuhl, konnte aber dank der Technologie genau wie die anderen mittanzen. Es hat ihn total gefreut.“

Seniorin spielt mit einer MemoreBox

Eine Seniorin spielt mit einer memoreBox.

Digitalisierung entmenschlicht die Pflege. Wie der ballernde Teenager-Gamer ist auch das ein Klischee. Digitale Services können unterstützen, entlasten und Teilhabe fördern. Davon profitieren die über 3,8 Millionen Menschen in Deutschland, die Pflege benötigen. Aber auch diejenigen, die diese Menschen pflegen. Die memoreBox ist dafür nur ein Beispiel: Einige Pflegeeinrichtungen kooperieren mit Schulen und Kitas, damit Jung und Alt gemeinsam spielen können. Ein anderes Beispiel ist der von der Barmer angebotene Online-Pflegeantrag. Dieser wurde gemeinsam mit Versicherten komplett neu entwickelt. Ein integriertes Erklärvideo, hilfreiche Illustrationen und eine klare Gliederung helfen dabei, Pflegeleistungen schnell und einfach zu beantragen. Er unterstützt vor allem diejenigen Versicherten, die sich einen schnellen, digitalen Prozess wünschen.

Bei allen digitalen Angeboten, die die Barmer entwickelt oder mit ihren Partnerunternehmen auf den Weg bringt, stehen vor allem die Bedürfnisse der Menschen im Vordergrund, an die sich die Leistungen richten. Orientierung bietet den Mitarbeitenden dabei der interne Wertekompass mit seinen acht Richtlinien. So müssen Technologien, welche die Barmer einsetzt, unter anderem inklusiv, barrierefrei und sicher sein – auch in Bezug auf den Datenschutz. Den größten Einfluss auf digitale Neuerungen haben jedoch die Versicherten. Sie entwickeln diese sogar aktiv mit. Zum Beispiel im Rahmen der sogenannten Kundenreise.

Optimierungen durch die Kundenreise Pflege

Wie entsteht Pflegebedürftigkeit? Tritt sie schleichend auf oder durch einen Unfall? Wann realisieren Versicherte, dass sie Hilfe brauchen? Wie kommen sie mit der Antragstellung zurecht? Welche emotionalen Phasen durchlaufen sie? Mit solchen Fragen befasst sich der Barmer-Mitarbeiter Jonas Halfmeyer. Der Service Designer leitet derzeit die Kundenreise Pflege. „Die Kundenreise ist eine bei uns etablierte Arbeitsmethode“, sagt Halfmeyer. „Wir nehmen uns drei bis sechs Monate Zeit und schauen uns alle Prozesse zu einem bestimmten Thema an, um diese zu optimieren.“ Bei der Pflege sind das über 70 einzelne Vorgänge. Und jeden einzelnen spielt das interdisziplinäre Team durch. „Wir beginnen mit einer internen Recherche, sprechen mit Mitarbeitenden, die am Telefon mit Pflegebedürftigen und deren Angehörigen in Kontakt sind und mit den Kolleginnen und Kollegen in Geschäftsstellen.“ Es folgen Interviews mit den Barmer-Pflegeberatenden. Im nächsten Schritt bindet Halfmeyer pflegende Angehörige und Pflegebedürftige mit ein. In Interviews lässt er sich von diesen schildern, wie sie mit den Herausforderungen zurechtkommen: Was gut läuft, wo es hakt. Das seien oft sehr emotionale Gespräche, so der Service Designer. „Es geht um Unfälle, Geldsorgen, Verzweiflung. Die meisten Pflegenden sind durch die Situation überlastet.“ Die Bereitschaft, mit ihm und anderen Mitgliedern des Teams zu sprechen, sei jedoch groß: „Sie sehen es als Chance, unsere Abläufe mitzugestalten.“

Basierend auf den so gewonnenen Erkenntnissen entwickelt Jonas Halfmeyer im nächsten Schritt Ideen, wie sich Beratungsangebote und Arbeitsabläufe der Barmer besser auf die Bedürfnisse der Versicherten abstimmen lassen. Das kann die Testversion einer digitalen Anwendung sein, die er mit den Pflegenden durchgeht. Oder auch die Frage, ob sich Anträge, die bislang schriftlich eingereicht werden müssen, nicht auch am Telefon entgegennehmen lassen. Ob sich ein Vorgang digitalisieren lässt, ist für den Service Designer dabei nachranging. „Mein Ziel ist es, die Bedürfnisse der Nutzenden zu verstehen: Wie können wir ihnen bestmöglich helfen?“ Eine Erkenntnis aus der Kundenreise: Die Zahl der Versicherten, denen ein Internetzugang, die nötige Technik oder einfach das Wissen fehlt, um digitale Angebote zu nutzen, ist größer als erwartet. „Wir müssen alle Kanäle offenhalten: digital, telefonisch, per Post und persönlich“, sagt Jonas Halfmeyer. „Es fällt vielen Pflegenden schwer, die Pflegeanträge alleine auszufüllen. Sie wünschen sich eine persönliche Beratung.“, sagt Halfmeyer. Die Krankenkasse reagiert darauf: „Wir bauen derzeit die Möglichkeit aus, die Anträge auch telefonisch zu stellen.“

Pflegende Angehörige brauchen Entlastung

Pflegende Angehörige mit Pflegeperson im Rollstuhl in einem Garten

Eine Frau schiebt eine ältere Dame im Rollstuhl durch einen Garten. 

Digitalisierung darf kein Selbstzweck sein. Schon gar nicht für eine Krankenkasse. „Wir arbeiten mit sensiblen Daten und Situationen“, sagt Jonas Halfmeyer. Die häusliche Pflege ist in Deutschland jedoch am Limit. Das zeigt eine aktuelle Studie der Hochschule Osnabrück, mit 56.000 Befragten die bislang größte zum Thema. Mehr als ein Drittel der Menschen, die Angehörige zu Hause pflegen, fühlen sich demnach extrem belastet. Sie bewältigen die Situation nur schwer oder gar nicht mehr. Bereits 2019 untersuchte eine Studie der Universität Witten/Herdecke, was pflegende Angehörige brauchen. Ein Ergebnis: Sie wünschen sich unkomplizierten Zugang zu Wissen. Bis zu 80 Prozent der Befragten hätten gern mehr Informationen – sei es zur Organisation des Pflegearrangements aber auch dazu, wie sie selbst trotz der beanspruchenden Situation gesund bleiben können. „Pflegende sind überwiegend weiblich, zwischen 50 und 60 Jahren, haben häufig Kinder, oft auch einen Job und versuchen die Pflege ihrer Eltern irgendwie in den Alltag zu integrieren“, sagt Nina Henkels, Mitarbeitende im Pflege-Team der Barmer. „Sie sind auf Informationen angewiesen, die sie schnell abrufen können – und zwar dann, wenn sie gerade dafür Zeit haben.“ Mit dem PflegeCoach, einer Informationsplattform, hat Nina Henkels ein entsprechendes Angebot für die Barmer erarbeitet. Die Idee dazu entstand in den Pflege-Seminaren der Krankenkasse. Vier Tage lang haben Angehörige dort die Möglichkeit, in Workshops mit Fachkräften Fragen zu stellen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Die wichtigsten Themen, die dabei zur Sprache kommen, finden sich nun auch als übersichtliche, 20-minütige Lernmodule im PflegeCoach. Barrierefrei, inklusiv und ohne Anmeldung. Die Plattform steht allen Menschen offen, nicht nur Barmer-Versicherten. „Die Nutzenden können sich selbst diejenigen Einheiten herauspicken, die für sie gerade relevant sind“, sagt Nina Henkels. Das Angebot ist praxisnah: Es geht darum, wie man für die Mutter mit Demenz den Essplatz gestaltet oder den Partner, der beim Gehen unsicher geworden ist, in der Bewegung unterstützt. Audioclips und Bilder machen die Inhalte anschaulicher.

Auf Fachbegriffe versuche man zu verzichten, sagt Nina Henkels. „Die sind vielleicht korrekter, bedeuten für manche Lesenden aber eine Hürde.“ Wer weiterführende Informationen oder doch persönliche Beratung möchte, findet diese über kompakte Linklisten. Das Angebot werde ständig erweitert und an die Belange der Nutzenden angepasst. Die meisten gehören noch nicht zur Generation der Digital Natives. Doch das ändert sich „In unseren Seminaren treffen wir immer häufiger auch auf die Enkel von Pflegebedürftigen.“ Pflegetipps als Podcast oder TikTok-Videos – alles in Zukunft denkbar, sagt Nina Henkels. „Entscheidend ist, ob es den Menschen hilft.“

In der Regel wissen die Nutzenden am besten, ob ein Digitalangebot für sie funktioniert – und wie es sich verbessern ließe. So auch die Seniorinnen und Senioren, die in der Testphase mit der memoreBox spielten. Auf ihre Anregung hin wurden die Spiele, die ursprünglich nur einen männlichen Avatar hatten, um einen weiblichen ergänzt. Und die Konsole hat nun auch eine Karaoke-Funktion. Die Songs dafür konnten die Spielenden aussuchen. Ganz oben auf ihrer Hitliste: Helene Fischers „Atemlos“.

Gruppenbild: Frederike Escher-Brecht , Arne Schütze, Maria Hinz

Werte gemeinsam leben

Für diese drei BARMER-Mitarbeitenden steht das Thema digitale Verantwortung im Zentrum ihrer Arbeit.

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