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Psychische Gesundheit

Prokrastination: Wie man die Aufschieberitis überwindet

Lesedauer unter 7 Minuten

Redaktion

  • Barmer Internetredaktion

Zur Person

  • Margarita Engberding ist Psychologin an der Uni Münster und Co-Autorin der Bücher „Prokastination - Ein Manual für Therapeuten zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens“ sowie „Heute fange ich wirklich an. Prokrastination und Aufschieben überwinden – ein Ratgeber“.

Ein Gespräch mit Margarita Engberding. Die Psychologin leitete viele Jahre die Psychotherapie-Ambulanz der Universität Münster, zu der auch ein Spezialteam für Prokrastination gehört. In Münster wird das Phänomen des Aufschiebens von Aufgaben nicht nur behandelt, sondern auch erforscht.

Frau Engberding, ist es schon schlimme Aufschieberitis, wenn ich zur Party gehe, statt meine Hausarbeit fertig zu schreiben?

Margarita Engberding: Nicht unbedingt. Wenn Sie es trotzdem schaffen, Ihre Arbeit pünktlich abzugeben und gute Qualität zu liefern, dann müssen Sie sich keine Sorgen machen.

Irgendwie meistert man seine Aufgaben in der Regel, auch wenn es knapp wird.

Margarita Engberding: Wenn dadurch aber die Qualität Ihrer Arbeit sehr leidet, haben Sie vermutlich doch ein Problem mit der Aufschieberei. Denn dann bleiben Sie durch Ihr Prokrastinieren stark hinter Ihren Möglichkeiten zurück, sabotieren vielleicht sogar Ziele, die Ihnen persönlich eigentlich wichtig sind. 

Zum Beispiel den guten Abschluss oder später im Beruf einen Schritt auf der Karriereleiter. 98 Prozent der Menschen kennen Situationen, in denen sie Dinge aufschieben. Es ist also ein völlig normales Phänomen. Nach unseren Studien leiden 7 bis 15 Prozent jedoch so stark an Prokrastination, dass ihr Alltag darunter leidet.

Wie kann man erkennen, ob man dazu gehört?

Margarita Engberding: Wenn Sie Aufgaben aufschieben, die für Sie persönlich sehr wichtig sind, wie zum Beispiel die Abgabe der Bachelor-Arbeit, das Fertigstellen einer Präsentation im Beruf oder sich eine Wohnung zu suchen, obwohl der bisherige Mietvertrag ausläuft. 

Für uns als psychologische Ambulanz ist es also kein schwerer Fall von Prokrastination, wenn jemand die Dinge erst morgen erledigt, die er auch heute erledigen könnte – solange er am Ende die Deadlines einhält. Typisch für ausgeprägte Aufschieberitis ist allerdings, wenn Sie ständig weniger wichtige Dinge vorziehen – Sie räumen den Schreibtisch auf oder verzetteln sich im Internet, statt sich an Ihre Aufgabe zu setzen. Doch dabei denken Sie die ganze Zeit an das wichtige Vorhaben. 

Viele verschleppen so die Aufgaben über den passenden Zeitpunkt hinaus bis auf den letzten Drücker, obwohl sie eigentlich genug Zeit gehabt hätten. Manche stehen schließlich ohne gute Folien vor der Teamrunde oder am Ende sogar ohne Abschluss da.

Prokrastination – eine Krankheit? Oder schlicht Faulheit?

Prokrastination ist im Rahmen der psychischen Diagnosen (ICD10) keine Krankheit. Allerdings sehen Experten das ausgeprägte Aufschieben als durchaus behandlungsbedürftig an. Denn es führt dazu, dass Menschen sehr hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Zudem bereitet das Prokrastinieren anderen psychischen und körperlichen Leiden den Weg.

Weil man mit seinen Angelegenheiten nicht klar kommt, ist man von sich selbst enttäuscht und enttäuscht auch andere. Das kann in depressive Verstimmungen und andere psychische Probleme sowie problematische Verhaltens- und Denkweisen münden. Süchte können entstehen, weil man sich beispielsweise mit Computerspielen oder durch erhöhten Alkoholkonsum von der eigentlich wichtigen Aufgabe ablenkt. 

Manchmal ist Prokrastination auch ein Nebeneffekt einer anderen psychischen Erkrankung, beispielsweise einer depressiven Phase oder einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS). Eine differenzierte Diagnose kann nur eine Fachärztin, ein Facharzt, eine Psychologin oder ein Psychologe stellen.

Wann sollte man bewusst Schritte unternehmen, um seine Aufschieberitis loszuwerden?

Margarita Engberding: Sie sollten auf jeden Fall aktiv werden, wenn Sie mehr als die Hälfte wichtiger Vorhaben aufschieben, viel Zeit damit vertrödeln und wenn es dadurch arge Probleme im Alltag oder Beruf gibt. Es gibt Handwerker, deren Betrieb bankrott zu gehen droht, weil sie das Schreiben der Rechnungen ständig aufschieben. Es gibt Lehrkräfte, die jeden Tag mit Bauchschmerzen in die Schule gehen, weil sie die Korrektur der Arbeiten vor sich herschieben. 

Es gibt Studierende oder auch Doktoranden, die ihre Abschlüsse nicht erreichen. Manche recherchieren jahrelang, formulieren jedoch keine Arbeitsthese. Andere haben ihre Hausarbeit im Kopf, aber bringen keinen Satz zu Papier. Und das sind nur die Aufgaben mit Deadline. Sehr viele Menschen verwirklichen Ziele in ihrem Leben nicht, die ihnen eigentlich sehr wichtig sind – eine Ausbildung, ein Karriereschritt, eine Familiengründung, eine Reise – weil sie einfach nicht loslegen.

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Kann Prokrastination auch krank machen?

Margarita Engberding: Weil man ständig sich selbst und andere enttäuscht, kann die Aufschieberei auch depressiven Verstimmungen und Ängsten Vorschub leisten. Infolge der permanenten Anspannung klagen Betroffene häufig über körperliche Beschwerden wie Schlafstörungen, Magenbeschwerden oder Verspannungen.

Warum schiebt man eigentlich auf, wenn es so große Nachteile hat?

Margarita Engberding: Wir Menschen sind einfach so strukturiert, dass wir nach den kurzfristigen Befriedigungen streben. Wir machen lieber Dinge, die uns schnelle Belohnung versprechen und vermeiden unangenehme Gefühle wie Anstrengung und Unlust. Deshalb muss man sagen: Aufschieben ist eigentlich völlig normal. Und tatsächlich ist die größere Kunst, dass man sich so reguliert, dass man Pläne fassen und verfolgen kann. Aber zum Glück kann man es lernen, rechtzeitig zu beginnen.

Das klingt so einfach.

Margarita Engberding: Aber mehr ist es nicht! Der Unterschied zwischen Menschen, die prokrastinieren und denen, die es nicht tun, ist objektiv klar: Nicht-Aufschieber fangen an. Sie machen sich einen Plan, teilen die Aufgabe in machbare Arbeitseinheiten und erledigen diese Schritt für Schritt. Sie widerstehen kurzfristigen Ablenkungen wie Serien-Schauen, auszugehen oder die Küche zu putzen, um in ihrer Sache voran zu kommen.

Aber spielen bei der Prokrastination nicht auch Perfektionismus und Versagensängste eine Rolle?

Margarita Engberding: Natürlich spielen viele Ursachen eine Rolle, wenn man seine Aufgabe nicht strukturiert angeht. Doch Prüfungsangst oder Perfektionismus sind in vielen Fällen zweitrangige Probleme, die durch das Aufschieben noch verstärkt werden. Wenn die Menschen ihre Aufschieberei in den Griff bekommen, werden oft auch die anderen Probleme besser.

Dinge geregelt kriegen. So klappt es:

Beispiel Wohnung streichen:

1. Aus einer Idee wird eine klare Absicht: „Ich möchte meine Wohnung streichen.“ wird zu: „Ich werde meine Wohnung streichen.“

2. Ein Plan muss her: Zum Streichen brauche ich Farbe, Pinsel, Abklebeband, Zeit zum Streichen, aber auch Zeit zum Aus- und wieder Einräumen.

3. Der Plan wird in Teilschritte mit einem Zeitraster übersetzt: Ich nehme mir in zwei Wochen drei Tage frei zum Streichen. Am ersten Tag räume ich aus, am zweiten streiche ich, am dritten Tag räume ich wieder ein. Vorher plane ich zwei Abende ein, um Material einzukaufen. Es hilft zudem, sich ein paar Gedanken zu machen, wie man sich selbst die Arbeit angenehm macht und wo man Hilfe findet, falls es komplizierter wird als gedacht. Also: Ich bitte für das Aus- und Einräumen eine Freundin oder einen Freund um Hilfe.

4. Man setzt seinen Plan Schritt für Schritt um: Dabei legt man auch ein Ende fest. Wie sieht die Wohnung aus, wenn die Aufgabe erfüllt ist? Wer anfängt und dann plötzlich auch die alten Fotos aufräumt oder den Schrank ausmistet, verzettelt sich.

Wichtig: Ein einmal gefasstes Ziel muss Bestand haben. Wenn es schwieriger wird als erwartet, muss man durchhalten. Wenn zum Beispiel die Farbe nicht reicht, darf man nicht lange darüber zu grübeln, ob es überhaupt richtig war zu streichen – so werden Projekte niemals fertig.

Es gibt wissenschaftlich geprüfte Trainingsprogramme gegen Prokrastination, was lernt man da genau?

Margarita Engberding: Sie bestehen unter anderem aus zwei Modulen: realistisch planen und pünktlich beginnen. Mit diesen beiden Handlungen bereitet man dem Aufschieben ein Ende. Die Teilnehmenden lernen zum einen, wie man ein größeres Ziel in realistische Teilziele zerlegt und einen stimmigen Zeitplan aufstellt. 

Und sie lernen zum anderen, wie man diese Teilaufgaben tatsächlich anpackt und erledigt – das ist der schwierigste Lernschritt, denn jetzt müssen sie ihr altes, sehr gewohntes Verhalten über Bord werfen. Die Betroffenen lernen, zu Beginn der Arbeitseinheit wirklich arbeitsfähig zu sein. Um 10:45 Uhr wird noch einen Kaffee gekocht und der Stift bereit gelegt, wenn es um 11 Uhr losgehen soll.

Wie können Prokrastinierer ihre Ziele realistisch erreichen, wenn sie die notwendigen Tools gelernt haben?

Margarita Engberding: Viele haben das Gefühl, dass sie ab sofort voll Gas geben müssen, weil sie ja so lange aufgeschoben haben. Doch dann überfordert man sich, ist frustriert, wenn man nicht alles schafft und fällt vermutlich zurück in das alte Vermeidungsverhalten. Hier hilft die 50 Prozent-Regel: Man fasst seinen Vorsatz, macht sich dazu einen Plan – und streicht erst mal die Hälfte davon.

Manchmal verbieten Sie Ihren Klientinnen und Klienten auch das Arbeiten ...

Margarita Engberding: Das kann tatsächlich ein wichtiger Schritt sein, um mit dem Aufschieben aufzuhören. Zum Abarbeiten der Arbeitseinheiten ohne Aufschieben hilft es, klare Zeitfenster für das Arbeiten festzulegen. Nutzt man dieses nicht, darf man an diesem Tag nicht mehr an der Aufgabe arbeiten, damit ist auch weiteres Aufschieben unterbunden. 

Das klingt hart, hat aber einen wichtigen Lerneffekt – und man kann sich sogar in dieser „Frei-Zeit“ entspannen. Man hat ja eh keine Gelegenheit mehr zu arbeiten. Wenn man das Zeitfenster jedoch hundertprozentig einhalten kann, darf man am nächsten Tag etwas länger an seinem Thema arbeiten. Man muss sich weitere Arbeitszeit also regelrecht verdienen. Dieses Vorgehen motiviert und hilft sehr gut, längerfristige Pläne zu verwirklichen, wie unsere Evaluationen zeigen.

Literatur und weiterführende Informationen

  • Interview mit Margarita Engberding
  • Margarita Engberding, Anna Höcker, Fred Rist: Prokrastination - Ein Manual für Therapeuten zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens (2017)
  • Margarita Engberding, Anna Höcker, Fred Rist: Heute fange ich wirklich an. Prokrastination und Aufschieben überwinden – ein Ratgeber (2016)

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