Eine Frau mit ihrer Tochter bei der Arbeit am Laptop
Psychische Erkrankungen

Was wir in der Corona-Krise aus der Geschichte der Stressforschung lernen können

Lesedauer unter 14 Minuten

Redaktion

  • Yves Douma (M.A. Public Health/Gesundheitswissenschaften, Schwerpunkt Prävention und Gesundheitsförderung)

Qualitätssicherung

  • Dirk Weller (Diplom-Psychologe)

Was viele von uns innerhalb der der letzten Monate sicherlich spürten, wurde nun von offizieller Seite bestätigt: Das europäische Regionalbüro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärt auf seiner Internetseite, dass die gegenwärtige Coronavirus-Krise auch für die psychische Gesundheit der Bevölkerung eine erhebliche Herausforderung darstellt. Grund dafür sind laut WHO Europa die Ängste, Sorgen und Unruhe, die die Krise in der breiten Bevölkerung auslöst. Besonders betroffen sind dabei laut WHO Europa ältere Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen sowie Betreuungspersonen und Pflegekräfte.

Doch es ist nicht bloß der Stress, unter dem die Bevölkerung leidet. Es ist auch die Angst vor dem Stress, die unsere psychische Gesundheit belastet. Genauer gesagt, die Angst davor, dass uns Stress krank macht. Diese Ansicht kommt nicht von irgendwo her: Seit etwa 70 Jahren erklären Generationen von Gesundheitsexpertinnen und -experten den Menschen, dass Menschen sich unbedingt vor Stress schützen müssten. Menschen, die an diese Erklärung glauben, sind daher doppelt belastet, weil sie sich konsequenterweise auch fragen: „Wenn uns die Corona-Krise so stresst – muss uns dieser Stress dann nicht zusätzlich krank machen?“

Diese Angst vor Stress ist nicht nur unangenehm, sie führt auch zu einer besonderen Art von zusätzlichem Stress, der in der Wissenschaft auch als Sekundärstress bezeichnet wird. Sekundärstress ist ein Stress, der zum eigentlichen Stress hinzukommt, und ihn zusätzlich verstärkt – und damit in einen Teufelskreis münden kann.

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Die vier Entwicklungsphasen der Stressforschung – spannend wie eine Liebesgeschichte

Auch wenn die Geschichte der Stressforschung wohl nicht mit der Gegenwart enden wird, können wir sie aktuell grob in vier historische Phasen aufteilen. Und damit wir nicht dem Klischee verfallen, dass Wissenschaft trocken und nüchtern wäre, benennen wir in unserer Darstellung die dramatischen Wendungen dieser Historie mit emotionalen Begriffen aus der Beziehungsforschung: von der Anfangseuphorie der Romantischen Phase über diverse Turbulenzen bis hin zum tragfähigen Reifegrad der Konsolidierungsphase – fast kann man staunen (oder auch schmunzeln), wie gut diese Analogie passt. Und sich so bewusst machen, wie viel Arbeit und Hingabe in unserem heutigen Wissensstand über Stress steckt.

Romantische Phase (1915-1936)

Die romantische Phase ist, ganz wie in vielen beginnenden Liebesbeziehungen, von einem ausschließlich positiven Blick geprägt. Sie beginnt in der Stressforschung mit den Forschungsarbeiten des US-amerikanischen Physiologen Walter Cannon (1871-1945). Cannon entdeckte um 1915 die Kampf-oder-Flucht-Reaktion (Fight-or-Flight-Response). Er schrieb über seine Entdeckungen unter anderem ein Buch mit dem schwärmerischen Titel „The Wisdom of the body“ – zu Deutsch: Die Weisheit des Körpers.

Die Kampf-oder-Flucht-Reaktion

Generationen von Gesundheitsexperten haben die sogenannte „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ am Beispiel von Begegnungen zwischen unseren Vorfahren und Säbelzahntigern veranschaulicht. Denn wie wir heute wissen, schüttet der menschliche Körper in brenzligen Momenten – das hat sich seit der Steinzeit nicht geändert – Stresshormone wie z.B. Adrenalin und Noradrenalin aus. Damit macht er sich vorübergehend leistungsfähiger und kann so lebensbedrohlichen Situationen besser entkommen.

Die romantische Phase der Stressforschung können wir aus heutiger Sicht so nennen, weil Stress, wie mit einer rosaroten Brille, als ein interessantes und ausschließlich positives körperliches Phänomen betrachtet wurde. Man war sich einig, dass der Körper unter Stress schneller, stärker, ausdauernder und geschickter darin wird, zu überleben.

Ernüchterungsphase (1936-1981)

Die Ernüchterungsphase tritt in der Stressforschung – verglichen zu der Dauer der anderen drei Phasen – ziemlich früh ein. Was viel versprechend und völlig positiv begann, wird durch den Alltag (in diesem Fall: Fakten) auf den Boden der Tatsachen geholt. Die einen oder anderen unter Ihnen werden diesen Zustand bereits in einer Beziehung erlebt haben. Der Beginn der Ernüchterungsphase wird durch die Entdeckung der möglichen Nachteile von Stress durch den ungarisch-kanadischen Arzt und Wissenschaftler Hans Selye (1907-1982) eingeläutet.

Doch wie kam Selye überhaupt zu seiner Erkenntnis? Im Jahr 1936 führte er Versuche an Ratten durch, in denen er ihnen ein aus toten Rindern entnommenes Eierstockhormon spritzte. Die Ratten bekamen davon eine verdickte Nebenniere, Muskelschwund und Magengeschwüre. Um zu prüfen, ob der Effekt auf die Ratten durch das Rindereierstockhormon ausgelöst wurde, spritzte er ihnen zum Vergleich auch andere Stoffe. Wie sich herausstellte, kam es letztlich weniger auf den Inhalt der Spritzen als vielmehr auf die Bedingungen an, denen die Ratten während der Versuche insgesamt ausgesetzt waren. 

Selye erklärte die Reaktionen der Ratten als „unspezifische Antwort des Organismus auf Belastung“. Er nannte den Effekt zunächst „das Syndrom des Krankseins“ und benannte das später um in „Stress“.

Selye wurde mit den Forschungsansätzen, die aus dieser Entdeckung resultierten, berühmt und erfolgreich. Gegen Ende seines Lebens hatte er mehr als 1700 Arbeiten und 39 Bücher zum Thema Stress zumindest mitverfasst, erhielt drei Doktorate und 43 Ehrendoktortitel und war mindestens zehn Mal für den Nobelpreis nominiert worden. Unser Wissen über die gesundheitsschädliche Wirkung von Stress haben wir ihm zu verdanken.

Eines wurde Selye aber mit seiner Arbeit nicht unbedingt: glücklich. Immer wieder beklagte er gegen Ende seines Lebens, dass seine Arbeit in der Öffentlichkeit und Wissenschaft zu einseitig aufgefasst wurde. Für ihn war Stress nämlich an sich nicht negativ, sondern neutral. Er unterschied zwischen positivem Eustress (Eu heißt im Griechischen so viel wie gut) und negativem Distress ("Di" ist im Griechischen eine Vorsilbe, die so viel bedeutet wie "Un"). Wissenschaftlich durchsetzen konnte er sich zu seiner Zeit aber nur mit letzterem. Es dauerte sehr viel länger, bis auch das positive Potenzial von Stress fruchtbar erforscht wurde. 

Die Risiken von Stress: Diese vier Dinge sollten Sie wissen

Unter Berufung auf Selye wurden erst einmal umfassend die Risiken durch Stress erforscht. Deshalb wissen wir heute sehr viel darüber, dass Stress mit vielfältigen negativen Auswirkungen in Verbindung steht:

  • mit sechs der häufigsten vermeidbaren Todesursachen, also mit Herz-Kreislauferkrankungen, Unfällen, Krebs, Lebererkrankungen, Lungenerkrankungen und Suiziden
  • mit erhöhten volkswirtschaftlichen Kosten durch Arbeitsunfähigkeit, verminderter Produktivität und erhöhten Behandlungskosten
  • mit eingeschränkter geistiger Leistungsfähigkeit, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen
  • mit Aggressionen und Konflikten in Beziehungen

Wissenschaftler führen diese Zusammenhänge auf ein evolutionäres Missverhältnis (englisch: Evolutionary Mismatch) zurück: Die oben erwähnte Kampf- oder Fluchtreaktion hindert uns daran, evolutionär modernere, nicht-physische Stressreaktionen einzusetzen. 

Denn leider ist es so, dass wir vor der Coronakrise nicht weglaufen und die Viren nicht mit unseren Fäusten bekämpfen können. Aber was genau führt in unserem Körper dazu, dass wir bei zu viel Stress krank werden? Unsere moderne Lebensweise, durch die wir uns immer seltener bewegen, ist schlichtweg nicht mit der natürlichen Kampf- oder Flucht-Reaktion vereinbar. 

Denn nach der „Mismatch-Hypothese“ werden die vom Körper zur Verfügung gestellten Stresshormone nicht mehr durch körperliche Aktivität verbraucht und verbleiben daher zu lange und in zu hohen Dosen in unserem Organismus – dort wirken sie dann wie eine Art Gift.

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Aushandlungsphase (1981-2013)

Die kognitive Wende

Die Ernüchterungsphase der Stressforschung ging Anfang der 80er-Jahre nahtlos in die Aushandlungsphase über, die von der sogenannten „kognitiven Wende“ in den Humanwissenschaften geprägt wurde. Doch was wendete sich bei dieser Wende überhaupt? Vor der kognitiven Wende gingen die meisten Forscher davon aus, dass es ausreichte, das Verhalten bzw. den Körper von Menschen von außen zu beschreiben. 

Durch die kognitive Wende setzte sich jedoch die Haltung durch, dass es für das Verstehen vieler Phänomene wichtig war, auch die sogenannten Kognitionen der Betroffenen zu untersuchen – also das zu verstehen, was sie dachten und fühlten.

In der Stressforschung führte die kognitive Wende 1981 zur Entwicklung des „Transaktionalen Modells des Stresses“ der beiden US-amerikanischen Psychologen Richard Lazarus (1922-2002) und Susan Folkman (*1938). Ihre Arbeiten markieren den Beginn der Aushandlungsphase in der Stressforschung.

Die Herausforderungs-Reaktion (Challenge-Response)

Lazarus und Folkman gelang, was Selye nicht so recht gelungen war: Sie konnten beweisen, dass es nicht nur eine potenziell ungesunde Reaktion auf Stress gibt. Neben der Kampf-oder Flucht-Reaktion, die wir weiter oben im Text erklärt haben, gab es laut der beiden Wissenschaftler eine weitere Art, auf Stress zu reagieren: die Herausforderungs-Reaktion (Challenge-Response). Ob sich die eine oder andere der beiden Reaktionen zeigt, ist, einfach ausgedrückt, vor allem davon abhängig, wie jemand – Tier oder Mensch – in einer Stressreaktion zwei Fragen für sich beantwortet:

  1. Ist die Situation wirklich gefährlich oder bloß unangenehm für mich und/oder meine Liebsten?
  2. Kann ich die Situation beeinflussen?

Das wirklich Faszinierende an dieser neuen Erkenntnis ist, dass sich die Neubewertungen der menschlichen Reaktionen auf Stress auch auf der medizinisch-körperlichen Ebene nachweisen lassen: Die Forschung von Lazarus und Folkman hat ergeben, dass in unserem Körper völlig andere Hormone und Botenstoffe ausgeschüttet werden, wenn wir eine Situation als bedrohlich empfinden und keine Möglichkeit sehen, dies zu beeinflussen, als wenn dies nicht der Fall ist.

Die Chancen von Stress – es gibt sie wirklich

Stress fordert uns heraus. Und selbst dann, wenn wir uns übermannt und überfordert fühlen, können diese Herausforderungen sehr gesundheitsförderlich sein – sie werden von der Forschung beispielsweise in Verbindung gebracht mit :

  • Verbesserter körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit
  • Verstärktem Engagement bei der Arbeit
  • Verstärkter Motivation
  • Hormoneller Verbesserung der Merk- und Lernfähigkeit des Gehirns
  • Verbesserter Immunfunktion, Erholungsfähigkeit und Muskelaufbau
  • Persönlichkeitsentwicklung in Form von sogenanntem stress-related growth (deutsch: posttraumatisches Wachstum).

Nach diesen Forschungsergebnissen kann das Erleben von Stress die Entwicklung innerer Stärke fördern, neue Perspektiven und Prioritäten im Leben vermitteln, das Selbstwertgefühl fördern, uns zu tieferen Beziehungen verhelfen, zu einer größeren Wertschätzung für das Leben beitragen und zu einem gesteigerten Erleben von Sinnhaftigkeit im eigenen Leben führen.

Die Tend-and-Befriend-Stressreaktion

Es gibt noch mindestens eine weitere mögliche typische Stressreaktion neben der Kampf-oder-Flucht- und der Herausforderungs-Reaktion: Ungefähr zur letzten Jahrtausend-Wende gelang es der Psychologin Shelley E. Taylor (*1946) mit ihrem Stressforschungsansatz zu zeigen, dass sich die Stressforschung bisher allzu sehr auf die typischen Stressreaktionen von Männern fokussiert und dabei übersehen hatte, dass weibliche – und mitunter auch männliche – Säugetiere wie der Mensch anders auf Stress reagieren können. Nämlich mit einer sogenannten Tend-and-befriend-Reaktion.

Ins Deutsche übersetzt heißt dieser bis dato im deutschsprachigen Raum relativ unbekannte Ausdruck "Kümmern und Anschließen". Während bei der Kampf-oder-Flucht-Reaktion eher Adrenalin ausgeschüttet wird, ein Hormon, das körperlich aggressiver und leistungsfähiger macht, wird bei der Tend-and-Befriend-Reaktion Oxytocin freigesetzt. Dieses Hormon kennen wir auch als Liebeshormon, es sorgt dafür, dass wir mitfühlender, sozialer und zärtlicher sowie mutiger werden.

Als Gesellschaft ist die Tend-and-befriend-Reaktion besonders wichtig für uns. Denn wir hätten als Spezies niemals solange überlebt, wenn in Gefahrensituationen immer nur alle weggerannt wären oder gekämpft hätten – und sich dabei niemand um Schwangere und Kinder gekümmert hätte.

Wissenschaftlich als umstritten zu betrachten ist daher auch nicht die Existenz der Tend-and-befriend-Reaktion, sondern nur die Frage, ob und inwiefern die Tend-and-befriend-Reaktion ein primär weibliches Phänomen ist.

An dieser Stelle unseres Textes wissen Sie nun also bereits, dass es mindestens drei, statt nur einer typischen Stress-Reaktion gibt:

  1. Die Kampf-oder-Flucht-Reaktion (Fight or Flight-Response)
  2. Die Herausforderungs-Reaktion (Challenge-Response)
  3. Die Anschließen-und-Behüten-Reaktion (Tend-and-Befriend-Response)

Akuter und chronischer Stress

Wir möchten aber noch eine letzte Unterscheidung besprechen – nämlich die zwischen akuten und chronischen Stressreaktionen. Meist heißt es, dass akuter Stress noch relativ gut ausgeglichen werden könne, chronischer Stress aber in jedem Fall ungesund sei. Auch diese Sichtweise gilt heute als wissenschaftlich widerlegt. Wie kam es dazu?

1971 forschte der israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1923-1984) zu der Fragestellung, wie sich Stress bei Frauen auswirkte, die mit dem Eintreten der Menopause zurechtkommen mussten. Unter den Frauen in der Probandinnengruppe waren auch viele Holocaustopfer. Da Antonovsky mit der Forschung von Hans Selye gut vertraut war, ging er davon aus, dass sich bei allen ehemaligen Konzentrationslager-Gefangenen aufgrund der erlittenen Traumata besonders schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen zeigen mussten.

Zu seiner großen Verblüffung war dem aber nicht so: etwa 29 Prozent der betroffenen Frauen zeigten sogar einen besonders guten Gesundheitszustand – dieser Befund führte Aaron Antonovsky zu etwas, das in der Forschung besonders wertvoll ist: zu einer ganz neuen wissenschaftlichen Fragestellung.

Die neue Fragestellung, die Antonovskys restliche Forschungsarbeit antreiben und unter der Wortneuschöpfung "Salutogenese" berühmt machen sollte, lautete: „Was führt dazu, dass Menschen trotz widrigster Lebensumstände gesund bleiben oder sogar ihre Gesundheit verbessern können?“

Ebenfalls 1971 veröffentlichte die US-amerikanische Psychologin Emmy Werner (1929-2017) ihre Befunde aus einer sogenannten Längsschnittstudie, in deren Rahmen sie und ihre Mitforscher 698 im Jahr 1955 auf der Hawaii-Insel Kauai geborene Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen über 40 Jahre wissenschaftlich begleiteten. Wie auch bei den von Antonovsky untersuchten Holocaust-Opfern zeigte sich, dass etwa 30 Prozent dieser Kinder sich sogar besonders gut in ihrem Leben gemacht hatten. 

Um zu beschreiben, welche Eigenschaften diesen mehr als 200 Kindern gemeinsam waren, bedienten sich Werner und ihre Kolleginnen eines Begriffes aus der Metallurgie: Resilienz – dort beschreibt der Begriff ursprünglich die Fähigkeit eines Metalls nach dem Verbiegen wieder in seine ursprüngliche Form zurückzukehren.

Die beiden Studien von Aaron Antonovsky und Emmy Werner sind dabei nur die berühmtesten Beispiele aus der Stressforschung, die zeigen, dass auch chronischer Stress nicht immer krank machen muss. Es gibt inzwischen sehr viele Studien, die zeigen, dass Menschen auch unter chronischem Stress sehr wohl gut gedeihen können.

Offenbar kann Stress also zu unterschiedlichen Reaktionen führen und damit auch unterschiedliche Folgen haben. Ein Teil der Erklärung dafür liegt wohl darin, wie Betroffene in der Stresssituation die Risiken und ihre eigenen Bewältigungsressourcen bewerten. Das erklärt aber nur, warum akuter Stress oft gut bewältigt werden kann. Was fehlt, ist eine einfache Erklärung dafür, warum auch chronischer Stress, wie z.B. die Gefangenschaft in einem Konzentrationslager, nicht alle Menschen völlig zerbricht.

Konsolidierungsphase (2013-heute)

Der Beginn der Konsolidierungsphase in der Stressforschung ist geprägt durch eine wegweisende wissenschaftliche Arbeit der jungen Stanford-Forscherin und Psychologin Prof. Dr. Alia Crum. Ihre Forschung stellt unsere Bewertungen von Situationen ins Zentrum und setzt damit genau zwischen der Wahrnehmung der Auslöser von Stress und der Stressreaktion an. Der Titel dieser Arbeit lautet "Rethinking Stress: The Role of Mindsets in Determining the Stress Response" – auf Deutsch etwa: "Stress neu denken: Die Rolle von Denkweisen bei der Ausprägung der Stressreaktion."

In dieser Arbeit stellen sie und ihre Kollegen der situationsspezifischen Stress-Neubewertung eine allgemeine, situations-unspezifische Stressbewertung an die Seite. Sie nennen dies unsere "Stress-Denkweise" (Stress-Mindset) und unterscheiden zwei Versionen davon: das konventionelle Stress-Mindset „Stress ist schädlich“ (stress is debilitating) und das unkonventionelle Stress-Mindset "Stress ist förderlich" (stress is enhancing).

Sie gehen dabei auch von einer neuen, nicht mehr primär körperbezogenen Stressdefinition aus und kommen, von uns hier vereinfacht ausgedrückt, zu folgendem Ergebnis: Menschen sind gestresst, wenn sie erfahren oder wenn sie denken, dass sie nicht erreichen können, was sie sich wünschen.

Wir können durch Stress wachsen

In verschiedenen Studien beeinflussten die Forscherinnen und Forscher die Mindsets der Probanden mithilfe von Aufklärungsmaterialien. In den Aufklärungsmaterialien, die zum Stress-is-enhancing-Mindset beitrugen, wurden den Probanden alle möglichen positiven Folgen von Stress aufgezeigt, die wir hier weiter oben schon aufgezählt haben. In den Aufklärungsmaterialien der Kontrollgruppen wurde die bereits aus der Forschung bekannten Nachteile von Stress wiederholt und bestätigt.

Dabei zeigte sich, dass die Probandinnen und Probanden mit dem Stress-is-enhancing-Mindset günstigere physiologische Reaktionen auf die Auslöser von Stress aufwiesen und dabei leistungsfähiger waren als diejenigen mit dem Stress-is-debilitating-Mindset.

Was folgt aus der aktuellen Forschung?

Das Bild mit den vier Phasen einer Langzeitbeziehung, das wir hier zur Veranschaulichung genutzt haben, ist natürlich nur ein Bild, um das Thema zugänglicher und humorvoller aufzubereiten.
Zudem ist es ein unvollständiges Bild, weil die Geschichte der Stressforschung ja nicht mit den jüngsten Erkenntnissen endet. Es sind noch viele Fragen offen und viel mehr Fragen noch nicht einmal gestellt worden.

Stress kann auch gesundheitsförderlich wirken

Wie Sie gesehen haben, kann Stress tatsächlich krank machen. Wissenschaftlich belegbar ist jedoch die Aussage, dass Stress nicht jeden und jede immer krank machen muss. Denn Stress kann nicht nur krankheits-, sondern auch gesundheitsförderlich wirken.

An dieser Stelle aber auch eine Warnung vor einem möglichen Missverständnis:

Wir möchten ausdrücklich betonen, dass die beschriebenen Entwicklungen in der Stressforschung auf gar keinen Fall ein Freibrief dafür sind, andere Menschen unnötig hohem Stress auszusetzen und ihnen dann, wenn sie darunter leiden oder gar krank werden, vorzuhalten, dass sie bloß besser mit ihrem Stress hätten umgehen müssen. Das entspräche einer klassischen Opferbeschuldigung (sogenanntem „blaming the victim“).

Auslöser von Stress lassen sich nämlich nach Vermeidbarkeit unterscheiden. Es gibt den vermeidbaren Stress, den wir uns selbst und anderen antun, – und es gibt den unvermeidbaren Stress, der einfach zur menschlichen Existenz dazu gehört. Nach wie vor gilt, dass wir rücksichtsvoll mit uns selbst und anderen umgehen sollten, um den vermeidbaren und unerwünschten Stress soweit wie möglich zu reduzieren.

Menschen aber weiterhin zu erklären, dass sie Angst vor dem unvermeidbaren Stress haben sollten, weil dieser unweigerlich ihre Gesundheit beeinträchtigen würde – das ist nicht nur unwahr nach den jüngeren Erkenntnissen der Stressforschung, es erzeugt eben auch den am Anfang beschriebenen Sekundärstress. Und der ist vermeidbar.

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