Ein junges Paar sitzt auf einer Bank und schaut nachdenklich.
Psychische Gesundheit

Quarterlife Crisis – die Sinnkrise nach Ausbildung und Studium

Lesedauer unter 7 Minuten

Redaktion

  • Carola Kleinschmidt (Medizinjournalistin, Nerdpol – Redaktionsbüro für Medizin- und Wissenschaftsjournalismus)

Qualitätssicherung

  • Dirk Weller (Diplom-Psychologe)

Mit Mitte 20 – da steht einem die Welt offen. So denkt zumindest die Gesellschaft. Doch viele Mittzwanziger fühlen sich gar nicht energisch und frei, sondern haben das Gefühl, hinter den Erwartungen zurückzubleiben. Sie erleben eine handfeste Sinnkrise – die Quarterlife Crisis. Was ist da los? Und wie kommt man wieder raus?

Von außen betrachtet sind die heutigen Mittzwanziger zu beneiden: Nie gab es so viele Berufe, aus denen man wählen konnte. So viele Möglichkeiten, zu arbeiten und zu leben. Karriere im Konzern? Zeit sparen für ein Sabbatical? Oder doch lieber gleich als digitaler Nomade am Strand von Thailand den Laptop aufklappen? Von außen betrachtet steht dieser Generation die Welt im wahrsten Sinne des Wortes offen.

In welchem Alter hat man eine Quarterlife Crisis?

Doch von innen gesehen stellt diese Welt der 1.000 Möglichkeiten ganz schöne Herausforderungen. Denn wo Optionen sind, muss man sich auch entscheiden. Und wo Träume sind, kann man scheitern. Dazu dreht sich die Welt so schnell wie nie zuvor. Branchen boomen und vergehen. Wer heute Mitte 20 ist, kann davon ausgehen, dass er oder sie mehrfach im Leben den Arbeitsplatz und vermutlich sogar den ganzen Beruf wechseln wird.

Nicht umsonst gilt diese Generation als extrem anpassungsfähig und leistungsorientiert – was ja eine gute Voraussetzung für das Leben in der heutigen Zeit ist. Zugleich legt sie viel Wert auf Privatleben und Spaß – das zeigen die Umfragen der Jugendstudien. Liegt hier ein Grund für die Sinnkrise? 

Anna Elisa Prattes und Anja Zwander haben in ihrer Masterarbeit 2019 am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz die Quarterlife Crisis untersucht. Dort formulieren sie, wie die vermeintlich widersprüchliche Einstellung der jungen Menschen zu erklären ist: 

„Diese Generation legt großen Wert darauf, sich nicht nur beruflich, sondern auch privat verwirklichen zu können, da dies den einzigen Aspekt ihres Lebens darstellt, auf den sie Einfluss haben“, so Prattes und Zwander. „Damit dies möglich ist, bildet für sie eine gute Ausbildung die essenzielle Basis ihres Vorhabens. Diese Taktik soll gewährleisten, dass sie in Zukunft einen Beruf ergreifen können, der ihnen ein abgesichertes und stabiles Leben ermöglicht.“

Junge Frau schaut nachdenklich aus einem Fenster

Zu viel Druck und Perfektionismus im beruflichen und privaten Bereich sind typische Gründe für eine Quarterlife Crisis.

Habe ich eine Quarterlife Crisis?

Man merkt schon: Auf der richtigen Berufswahl lastet ganz schön viel Druck. Zugleich hängt die Latte für das gute Leben ziemlich hoch – viele Betroffenen neigen zum Perfektionismus. Sobald es auf das Ende des Studiums zugeht, Bewerbungen nicht fruchten und sogar, wenn die erste Stelle ergattert ist, kommen Fragen, Sorgen und Angst auf: 

War das jetzt wirklich die richtige Berufswahl? Möchte ich von nun an wirklich jeden Tag ins Büro gehen? Gibt es nicht doch noch etwas Besseres für mich? Schnell gehen die Fragen auch über den Job hinaus: Finde ich eigentlich das Beziehungsmodell stimmig, das ich lebe? Wie konventionell möchte ich sein? Wofür stehe ich morgens auf? Was ist der Sinn in meinem Leben?

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Die Liste der Zweifel am eigenen Lebensentwurf ist endlos und die Unsicherheit ist groß. Lange wurde dieses Unwohlsein der Mittzwanziger nicht weiter beachtet. Erst als 2001 zwei junge US-Amerikanerinnen, Abby Wilner und Alexandra Robbins, über ihre Empfindungen schrieben und das Buch „Quarterlife Crisis. Die Sinnkrise der Mittzwanziger“ veröffentlichten, bekam die Quarterlife Crisis, in Anlehnung an die bekannte Midlife Crisis, einen Namen – und wurde mehr wahrgenommen. 

Wichtig ist dabei zu wissen, dass es in jeder Lebensphase normal und sinnvoll ist, dass Menschen sich und ihre Entscheidungen immer wieder hinterfragen. So entwickeln sie sich auf persönlicher Ebene weiter, auch wenn das nicht immer bequem ist. Man denke an die Autonomiephase kleiner Kinder oder die emotionale Achterbahnfahrt in der Pubertät. Jedes Alter hat seine eigene psychosoziale Aufgabe, fand der Psychoanalytiker Erik Erikson schon in den 1950er Jahren heraus. 

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Wie verläuft eine Quarterlife Crisis

Der Neurowissenschaftler Oliver Robinson vom britischen University College London veröffentlichte 2015 eine Untersuchung mit 50 Personen, die eine Quarterlife Crisis erlebt hatten. Er wollte tiefer verstehen, wie diese Sinnkrisen des Erwachsenwerdens beschaffen sind. Nach seiner Erkenntnis verläuft die Quarterlife Crisis in vier Phasen: 

  • Phase 1: Die erste Phase – sozusagen die Stufe vor der Krise – ist davon gekennzeichnet, dass die jungen Erwachsenen von außen betrachtet den Schritt ins „echte“ Erwachsenenleben getan haben. Sie haben einen Beruf oder ein Berufsziel, vielleicht auch eine feste Partnerschaft. Allerdings bereuen sie rückblickend manche Entscheidung, die sie in ihrem bisherigen Leben getroffen haben. Und sie spüren, dass sie noch nicht wirklich angekommen sind. 
  • Phase 2: Die Verunsicherung schaukelt sich in Phase zwei zu einer Krise hoch. Man steckt fest, hat Angst, zweifelt an fast allem – und macht in manchen Bereichen aus der Not heraus eine Vollbremsung oder einen Schritt zurück. Die Beziehung wird gelöst, der Job gekündigt oder das Studium mitten in der Abschlussarbeit geschmissen. Manchmal bricht auch eine Depression aus, die einen in eine Art Stillstand zwingt. 
  • Phase 3: In Phase drei hatten die Betroffenen akzeptiert, dass sie Raum und Zeit benötigen, um herauszufinden, was ihnen wirklich wichtig ist. 
  • Phase 4: In der vierten Phase machten sich die jungen Menschen wieder auf den Weg, die Erwachsenenwelt zu erobern. Aber mit einer authentischeren, stabileren Identität, mit eigenen Vorstellungen und Werten.

„Die Betroffenen zeichnen sich nun durch eine stabile Persönlichkeit aus, welche sich nicht länger durch Umwelteinflüsse negativ beeinflussen lassen und erleben ihren Alltag als kontrollierbar und geordneter als zuvor“, schreiben Anna Elisa Prattes und Anja Zwander in ihrer Masterarbeit.

Wie kommt man aus der Quarterlife Crisis?

Doch wie genau meistert man diesen Schritt aus der Quarterlife Crisis? Wie sorgt man dafür, dass aus den Sinnkrisen eine neue Selbstsicherheit entsteht? Die Psychologin Julia Tomuschat arbeitet als Therapeutin und hat mehrere Bücher über die psychologischen Entwicklungsaufgaben der Menschen geschrieben. Sie empfiehlt Betroffenen drei Schritte, um gestärkt aus der Quarterlife Crisis herauszukommen:

  1. Krise erkennen: Es geht darum, die Sinnkrise überhaupt bewusst als solche zu erkennen und zu benennen – sich einzugestehen, dass man verunsichert ist. Dass man sein Leben in Frage stellt, auch, wenn man von außen betrachtet doch gerade erst angekommen ist und jahrelang genau auf dieses Ziel hingearbeitet hat.
  2. Ziel formulieren: Im zweiten Schritt sollte man sich überlegen, wo man eigentlich hinmöchte. Dies gelingt mit hilfreichen Fragen. Zum Beispiel: Angenommen, die Krise würde sich zum Guten auflösen, was wäre dann? Man fragt sich ganz konkret: Was hätte sich verändert? Woran würde ich merken, dass ich wieder festen Boden unter den Füßen hätte? Was wäre anders? Was würden vielleicht auch die Menschen um mich herum an Veränderungen wahrnehmen? Dieses Gedankenspiel versetzt Betroffene zum einen in die positive Zukunft. Zum anderen verbergen sich in den Antworten viele Ideen dazu, in welche Richtung man sich entwickeln möchte. 
  3. Sich auf den Weg machen: Nun geht es darum, sich ganz konkrete Schritte zu überlegen, wie man dorthin gelangt. Dabei sollten die Schritte klein sein – und man denkt am besten mögliche Widerstände gleich mit (ohne sich von ihnen entmutigen oder abhalten zu lassen). Wenn man sich zum Beispiel wünscht, dass Arbeit und Privatleben in Balance sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man scheitert, wenn man nicht gut nein sagen kann. Dann kann man sich in einem ersten Schritt vornehmen, besser nein sagen und abschalten zu lernen. Oder sich Unterstützung holen, die dabei hilft, besser bei sich selbst zu bleiben und sich mit sich wohl zu fühlen.

Quarterlife Crisis: Wer sich die Krise eingesteht, sich kleine Ziele setzt und sie nach und nach verfolgt, kann sich Schritt für Schritt wieder wohler und selbstbewusster fühlen.

Quarterlife Crisis: Wer sich die Krise eingesteht, kleine Ziele setzt und sie verfolgt, kann sich Schritt für Schritt wieder wohler und selbstbewusster fühlen.

Quarterlife Crisis: Wann braucht man professionelle Hilfe? 

„Wenn die Zukunftsängste überhandnehmen oder das Gefühl von Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit und Antriebslosigkeit das normale Leben gefährdet oder sogar unmöglich macht, sollte man sich unbedingt professionelle Hilfe holen“, erklärt die Psychologin. Denn manchmal kippt die psychische Anspannung auch in eine Angsterkrankung oder Depression. 

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Wie lange dauert die Quarterlife Crisis?

„Wichtig ist, mit anderen Menschen darüber zu sprechen und sich eventuell auch Hilfe von außen zu suchen“, erklärt Psychologin Tomuschat. Schließlich kann die eigene Ratlosigkeit eine ganze Weile anhalten. Die Interviewpartner und Interviewpartnerinnen von Prattes und Zwander erlebten ihr Leben zwischen drei Monaten und zwei Jahren lang als krisenhaft. 

„So eine Phase ist natürlich keine Spazierfahrt“, erklärt Tomuschat. Aber das Gefühl der Unsicherheit bringt am Ende eine ganz neue Klarheit – von der wir sehr viel länger profitieren, als die Krise dauert. Tomuschat: „Am Ende des Prozesses hören wir auf, uns ständig selbst infrage zu stellen. Wir können unser Leben als Erwachsene gut gestalten und auch große Entscheidungen treffen. Kurzum: Wir sind nun unser eigenes Planungsbüro für unser Leben.“

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Literatur und weiterführende Informationen

  • Alexandra Robbins & Abby Wilner: Quarterlife Crisis. Die Sinnkrise der Mittzwanziger (2003) 
  • Anna Elisa Prattes & Anja Zwander (Abruf vom 30.11.2022): Quarterlife crisis: der offene Lebensentwurf nach dem Studium
  • Klaus Hurrelmann & Erik Albrecht: Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert (2014) 
  • Oliver Robinson: Emerging adulthood, early adulthood and quarter-life crisis: Updating Erikson for the twenty-first century. In R. Žukauskiene (Hrsg): Emerging adulthood in a European context (2015) 


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