Eine junge Frau sitzt in einem Auto und trägt Kopfhörer
Psychische Gesundheit

ASMR-Videos: Wellnessmassage fürs Gehirn?

Lesedauer unter 7 Minuten

Redaktion

  • Janina Jetten (freie Autorin, für Nerdpol – Redaktionsbüro für Medizin- und Wissenschaftsjournalismus)

Qualitätssicherung

  • Dr. med. Marina Müller-Bernhard (Humanmedizinerin)

Auf YouTube und TikTok werden Videos, in denen Menschen in ihre Mikrofone flüstern, darüberstreichen oder andere Alltagsgeräusche machen, millionenfach geklickt. Das Phänomen wird als ASMR bezeichnet und soll zur Entspannung beitragen. Was steckt dahinter?

Wer auf YouTube, TikTok oder durch die Reels bei Instagram scrollt, bleibt früher oder später unweigerlich auf einem ASMR-Video hängen. Entweder weil man sich fragt, was das soll – oder weil es irgendetwas in einem auslöst. Da flüstert dann jemand sanft in ein Tischmikrofon und macht dazu Geräusche: tappt mit Fingernägeln auf Kokosnüsse, Kosmetikdöschen oder Bücher, bürstet einer Plastikpuppe die Haare, knautscht Verpackungsfolie.

Viele Videos sind wie kleine Rollenspiele aufgebaut, bei denen die Zuschauerinnen oder Zuschauer direkt angesprochen werden. Oder vor laufender Kamera isst jemand schmatzend Unmengen an Tortenstücken, Muffins und Süßigkeiten. In anderen Clips ist niemand zu sehen, dafür kann man zuschauen, wie klebender „Magic Sand“ zerteilt oder wie Seife in kleine Stücke geschnitten wird.

Manche Menschen können nichts damit anfangen und swipen gelangweilt weiter, manche sind genervt, doch immer mehr Menschen finden die ASMR-Videos „oddly satisfying“, seltsam befriedigend. Die Alltagsgeräusche und das leise Sprechen entspannen sie und helfen sogar beim Einschlafen.

ASMR: Geräusche wie Regentropfen, Flüstern oder Knistern wirken für viele Menschen entspannend.

ASMR: Geräusche wie Regentropfen, Flüstern oder Knistern wirken für viele Menschen entspannend.

Was genau bedeutet ASMR?

ASMR steht für „Autonomous sensory meridian response“, übersetzt: „Autonome sensorische Meridianreaktion“. Es soll deutlich machen, was durch die auditiven und visuellen Reize ausgelöst wird: Als angenehmes Kribbeln auf der Kopfhaut, den Schultern und im Nacken beschreiben Fans das Gefühl.

Es handelt sich bei ASMR übrigens um einen reinen Fantasiebegriff – eine Amerikanerin soll ihn sich 2010 ausgedacht haben, als sie im Internet – vergeblich – nach dem Namen für das Phänomen suchte. Seitdem erobern als ASMR-betitelte Videos das Netz: Die Suchanfragen bei Google für das Thema steigen rasant, sogenannte ASMR-Künstlerinnen und -Künstler bekommen auf YouTube, Spotify und TikTok mit ihren Clips und Podcasts Milliarden von Klicks, können teilweise hauptberuflich davon leben.

Sogar Stars wie Jake Gyllenhaal, Kate Hudson oder Jennifer Garner setzen sich flüsternd vors Mikrofon, und Firmen wie Möbelläden und Baumärkte nutzen ASMR-Videos für Werbezwecke, mit der Intention, dass die Botschaft länger im Gedächtnis bleibt. 

Gesundheitliche und emotionale Wirkung durch ASMR 

Wissenschaftler der Universität von Sheffield stellten fest, dass die Herzfrequenz von ASMR-Usern beim Schauen der Videos durchschnittlich um drei Schläge pro Minute sinkt. Dazu passt eine weitere Studie, in der 70 Prozent der Teilnehmer und Teilnehmerinnen angaben, ASMR zur Stressbewältigung zu nutzen. Viele empfanden insgesamt einen positiven Einfluss auf die Gemütslage.

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Interview: Ist die Wirkung von ASMR wissenschaftlich bewiesen?

Aufgrund der steigenden Popularität von ASMR interessiert sich auch die Wissenschaft seit einiger Zeit für das Phänomen und es gibt die ersten spannenden Studien. Der deutsche Wahrnehmungspsychologe und Professor Claus-Christian Carbon von der Universität Bamberg ist einer der wenigen Forschenden hierzulande, die sich mit dem Thema ASMR und seiner Wirkung beschäftigen. Die Barmer wollte von ihm wissen, was sich hinter der „Wellness-Massage“ fürs Gehirn verbirgt:

Herr Dr. Claus-Christian Carbon, auf YouTube und TikTok gibt es über 300 Millionen Videos, eine beachtliche Anzahl an Menschen schwört auf die beruhigende Wirkung von ASMR. Was macht den Erfolg aus?

Dr. Claus-Christian Carbon: Typischerweise kommt es zu sehr starken physiologischen Reaktionen, die mit einem Kribbeln, sogenannten „chills“ oder „thrills“, einhergehen. Nach einiger Zeit des Sehens solcher sehr lang laufender Videos berichten viele Nutzerinnen und Nutzer von einer tiefen Entspannung. 

Was genau löst ASMR im Gehirn aus? Manche bezeichnen es sogar als Gehirnorgasmus…

Dr. Claus-Christian Carbon: Wenn ich Gehirnorgasmus höre, muss ich etwas lächeln. Wo sonst als im Gehirn soll sich das Erleben eines Orgasmus abspielen? Aber in der Tat, es ist eine starke Kopfsache, wie ASMR erlebt wird. Was genau gefühlt wird und wie das Gehirn stimuliert wird, hängt freilich sehr stark vom Inhalt der ASMR-Videos ab. Werden beispielsweise in diesen Videos intensive Streicheleinheiten gegeben, so führt das eher zu Hirnaktivitäten, die typischerweise auch bei Sozialbindungen gezeigt werden. Schauen Menschen die Videos längere Zeit an, kommt es zudem zu einer Aktivierung der sogenannten Belohnungszentren, was aber als sehr unspezifisch zu bezeichnen ist.

Die ASMR-Künstlerinnen und -Künstler empfehlen, sich beim Ansehen und Zuhören Kopfhörer aufzusetzen. Was macht ASMR mit dem Hörsinn? 

Dr. Claus-Christian Carbon: Wir werden deutlich aufmerksamer und achtsamer beim Betrachten der Videos, dadurch dass die Protagonistinnen und Protagonisten meist sehr nahe und mit stark gedämpfter oder wispernder Stimme sprechen.

ASMR wird gern als „seltsamer Internettrend“ belächelt – wie sieht das die Wissenschaft? 

Dr. Claus-Christian Carbon: Belächeln kann man alles – die Frage ist, was man an ASMR belächelt. Fakt ist, es gibt eine unstreitig große und treue Community und sie wächst eher noch, so dass es wichtig ist, wissenschaftliche Erkenntnisse über das Phänomen zu erlangen. Die beruhigende Wirkung von sehr vielen ASMR-Videos ist einfach nachweisbar: einerseits durch die Erlebnisberichte der User, andererseits durch unsere Forschung zum Arousal (Erregtheit) oder der Herzfrequenz.

Was haben Sie in Ihren Forschungen herausgefunden? 

Dr. Claus-Christian Carbon: Wir haben immer wieder zeigen können, dass typische User bei Szenenanfängen starkes Arousal – also eine starke Erregtheit - erleben, welches sich dann schrittweise abbaut und zu tiefer Entspannung führt. Zudem haben wir gesehen, dass selbst Non-User schnell zu Usern werden, wenn sie nur konsequent die Videos längere Zeit lang anschauen. 

Wie sind Sie auf ASMR gestoßen und was hat Sie daran fasziniert?

Dr. Claus-Christian Carbon: Viele Interessierte haben mich immer wieder als Wahrnehmungspsychologen zu dem Thema befragt, ich selbst konnte damals aber damit nichts anfangen. Es ist wichtig, dass die Wissenschaft auf solche Fragen fundierte Antworten geben kann, daher haben wir das größer angelegt als Forschungsthema gestartet. Ich selbst bin als Wissenschaftler aber eher zurückhaltend mit meiner Faszination für die Videos. Für mich sind eher die Reaktionen darauf als die Videos selbst interessant – ich bin Wissenschaftler, ich will hier auch neutral bleiben. Alles andere verfälscht meine Urteilskraft.

Ist ASMR die Geheimwaffe gegen Einschlafstörungen?

Dr. Claus-Christian Carbon: Nein, es sollte prinzipiell keine geheimen Tools und Rezepte geben. Es gibt hervorragend auf Effektivität untersuchte Methoden, die bei Einschlafproblemen helfen. Letztendlich ist ASMR ein kunterbunter Topf voller möglicher Videotypen. Echte und langfristige Einschlafstörungen sind ein klinisches Erkrankungsbild, sie sollten unbedingt ernst genommen werden und nicht selbst mit einem nicht-qualifizierten Paket an Videos therapiert werden. Fragen Sie lieber Ihre Psychologin oder Psychologen, die können spezifisch beraten und unterstützen.

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Ob flüstern, rascheln, Haare kämmen, Make-up-Auftragen – manche lassen die Geräusche komplett kalt, manchen gehen sie unter die Haut. Wie kommt das?

Dr. Claus-Christian Carbon: Weil diejenigen, die darauf anspringen, den Videos sehr achtsam folgen und somit die typischen sensorischen Erlebnisse, die dort dargestellt werden, ebenfalls erleben.

Würden Sie ASMR empfehlen und wenn ja, wem?

Dr. Claus-Christian Carbon: Ich würde sagen: Es ist interessant, sie einmal angeschaut zu haben und man merkt schnell, ob man diese Art von Videos für sich entdeckt oder es einfach nicht zu einem passt. 

Hören Sie selbst gern ASMR-Geräusche? 

Dr. Claus-Christian Carbon: Nein. Ich liebe Musik und Stimmen von Menschen, mit denen ich selbst rede – ich präferiere die soziale Situation mit meinen Mitmenschen, Freunden und Verwandten.

Video: ASMR – Achtsame Sounds für mehr Entspannung

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