Ein Mädchen auf einer Wiese macht einen Kopfstand
Nachhaltigkeitsbericht

„Wir müssen Verantwortung übernehmen“

Lesedauer unter 8 Minuten

Die Barmer ist die erste große Krankenkasse Deutschlands, die an allen Standorten klimaneutral arbeitet. Im Interview erläutern die stellvertretende Vorstandsvorsitzende Simone Schwering und Bereichsleiterin Dr. Janine Voß, welche Schritte dafür nötig waren, wieso die Krankenkasse zum Klimawandel forscht und warum flexible Arbeitsplätze gut für die Umwelt, aber auch das Unternehmen sind.  

Frau Schwering, seit September 2022 ist die Barmer die erste große Krankenkasse Deutschlands, die an allen ihren Standorten klimaneutral arbeitet. Damit sind Sie deutlich früher dran als ursprünglich geplant. Was hat den Vorstand bewogen, den Schritt schon jetzt zu machen?

Simone Schwering: Wir sind tatsächlich ganze acht Jahre früher dran – und darauf schon ein bisschen stolz. Die Entscheidung fiel schnell. Wir saßen uns in einer Vorstandssitzung gegenüber und waren uns einig: Das machen wir jetzt. Unsere Mission als Krankenkasse ist es, die Gesundheit unserer Versicherten zu erhalten und der Klimawandel hat auf diese einen starken Einfluss. Da wir zu den großen Akteurinnen im Gesundheitswesen gehören, finden wir es zudem wichtig, Verantwortung zu übernehmen – gegenüber der Branche und unseren mehr als 15.000 Mitarbeitenden.

Portrait von der stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden Simone Schwering

Simone Schwering, Stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Barmer

Wie haben die Mitarbeitenden diese Entscheidung aufgenommen? Und gab es auch Reaktionen von außen?

Simone Schwering: Es gab viele positive Rückmeldungen aus dem Unternehmen, aber auch von Versicherten und aus den Vorstandsetagen unserer Mitbewerber. Das Thema ist in der Gesellschaft deutlich präsenter als noch vor zwei Jahren. Die Menschen wollen wissen, wie Unternehmen sich in Klimafragen positionieren. Auch deshalb war es die richtige Entscheidung.

Frau Dr. Voß, Sie sind als Bereichsleiterin Zentrale Dienste unter anderem für Beschaffung und Nachhaltigkeit zuständig und koordinieren die Klimaschutz-Maßnahmen der Barmer. Welche Veränderungen haben am stärksten dazu beigetragen, den CO2-Ausstoß zu senken?

Janine Voß: Wie im gesamten Gesundheitssektor beeinflusst auch bei uns die Mobilität den CO2-Ausstoß sehr stark, also die Fahrten der Mitarbeitenden zum Arbeitsort. Während der Lockdowns 2020 und 2021 blieben viele zu Hause. Das zeigte sich natürlich in unserer CO2-Bilanz. Unser aktuelles Berichtsjahr 2022 läuft nun wieder unter Normalkonditionen. Wir haben jedoch die Möglichkeiten, flexibel von zuhause aus zu arbeiten, systematisch ausgebaut. Diese positiven Effekte des Homeoffice sind nun weiterhin in unserer Bilanz zu sehen. Ein zweites großes Thema ist der Strom. Auf Ökostrom hatten wir bereits 2020 umgestellt und der Umzug in ein emissionsarmes externes Rechenzentrum macht sich nun ebenfalls bemerkbar. Und natürlich hat der Krieg in der Ukraine nochmal alle im Haus sensibilisiert, Energie und Strom zu sparen. Das alles trägt dazu bei, dass wir trotz Wegfall des Lockdown-Effektes sogar eine leichte Verbesserung gegenüber dem Vorjahr erzielen konnten. Den verbliebenen Ausstoß kompensieren wir über Projekte, die nach internationalen Standards zertifiziert sind.

In welchen Bereichen ist es eher schwierig, schnell etwas zu verändern?

Janine Voß: Wir haben uns zuerst um die ganz großen Themen gekümmert, bei denen wir mit einem Schlag sehr viele Emissionen einsparen konnten. Jetzt stehen wir vor den Aufgaben, die deutlich komplexer und zeitaufwändiger sind – so wie die Flächenoptimierung und die Gebäudesanierung.

Wie gehen Sie bei der Flächenoptimierung vor?

Portrait von der Bereichsleiterin Dr. Janine Voß

Dr. Janine Voß, Barmer-Bereichsleiterin Zentrale Dienste

Janine Voß: Wir haben für unsere Mitarbeitenden Desk-Sharing eingeführt. Über eine Buchungssoftware können diese sich ihren gewünschten Arbeitsplatz buchen, zum Beispiel bei den Kolleginnen und Kollegen, denen sie gerne gegenübersitzen. Oder sie finden sich in Teams zusammen, wenn sie gerade ein gemeinsames Projekt bearbeiten. Um das möglich zu machen, muss jedoch jeder Arbeitsplatz angefasst werden. Es betrifft auch die Unternehmenskultur. Das macht diese Umstellung deutlich aufwändiger als beispielsweise den Wechsel zu Ökostrom.

Frau Dr. Voß, gemeinsam mit dem F.A.Z.-Institut hat die Barmer die Studienreihe „Klimaneutraler Gesundheitssektor“ gestartet. Worum geht es in dieser Studie?

Janine Voß: Ausschlaggebend war, dass das Gesundheitswesen ungefähr 5 Prozent der Emissionen in Deutschland verursacht. Wir wollten deshalb erheben, wie bedeutsam der Klimaschutz für die einzelnen Akteurinnen und Akteure, vom Pharmakonzern bis zur kleinen Arztpraxis ist, wie diese den Handlungsbedarf einschätzen und inwieweit sie bereits selbst Maßnahmen umsetzen. Wir haben dazu rund 550 Interviews geführt, die uns einen tiefen Blick in das Innere des Gesundheitswesens erlauben.

Welche Erkenntnisse haben Sie dadurch gewonnen?

Janine Voß: Eine sehr positive Nachricht ist, dass sich 73 Prozent der Befragten nach eigener Aussage schon aktiv mit dem Thema Klimaschutz beschäftigen oder dies vorhaben. Und es hat sich gezeigt, dass es im Gesundheitssektor zumindest an einigen Stellen schon eine gute Expertise zu Klimathemen gibt. Diese Kenntnisse und Erfahrungen weiterzugeben und somit den gesamten Gesundheitsbereich klimafreundlicher zu machen – das wird eine der zentralen Aufgaben für die kommenden Jahre sein.

Das Gesundheitswesen ist ja sehr heterogen. Wie unterscheiden sich die Sektoren in ihren Klimaschutzmaßnahmen?

Janine Voß: Die Pharmaindustrie ist schon relativ weit. Die Unternehmen kennen ihre CO2-Bilanz und die ihrer Lieferkette, haben Nachhaltigkeitsbeauftragte oder, wie wir, eine ganze Abteilung, die sich darum kümmert. Die Verpflichtung, einen Nachhaltigkeitsbericht zu erstellen, trägt dazu sicher bei. Dieser bringt einen dazu, systematisch alle Bereiche zu analysieren und sich zu fragen: Wo stehe ich? Für die kleinen Akteure, die über begrenztere Ressourcen verfügen oder keine entsprechenden Strukturen im Haus haben, ist es sichtbar schwieriger. Für umso wichtiger halte ich es, dass diese sich zusammentun, um gute Synergieeffekte zu generieren – was manche Praxen bereits erfolgreich tun.

Frau Schwering, die Barmer fordert, dass Nachhaltigkeit im Sozialgesetzbuch verankert wird. Warum? 

Simone Schwering: Derzeit gibt es viele verschiedene Meinungen dazu, was Krankenkassen in Bezug auf Nachhaltigkeit tun sollten, aber keinen klaren Handlungsauftrag. Das Sozialgesetzbuch schreibt vor, dass alles, was wir tun, grundsätzlich wirtschaftlich sein muss. Das ist auch richtig so. Wir arbeiten schließlich mit dem Geld unserer Versicherten. Investieren wir nun zum Beispiel im Zuge einer Gebäudesanierung in eine Photovoltaikanlage? Das ist zwar sinnvoll, mitunter jedoch nicht automatisch die wirtschaftlichste Variante, weil sich Ausgaben in Bezug auf den Klimaschutz erst auf längere Sicht amortisieren. Eine Verankerung von Nachhaltigkeit im Sozialgesetzbuch würde insofern für alle im Gesundheitswesen einen verlässlichen Rahmen schaffen. 

Sie plädieren auch für eine gemeinsame Agenda für den Klimaschutz im Gesundheitswesen. Was würde sich dadurch verändern? 

Simone Schwering: Frau Dr. Voß hat es schon angesprochen: Eine nachhaltige Transformation erfordert es, Kräfte zu bündeln, Synergien zu nutzen und gemeinsame Konzepte zu entwickeln. Wenn sich alle Akteurinnen und Akteure zusammenschließen, haben wir einfach mehr Wirkkraft. 

In Zusammenarbeit mit dem Wuppertal Institut hat die Barmer eine Forschungslandkarte entworfen, die zeigt, was wir bereits über die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels wissen. Von einer erhöhten Gefahr, zum Beispiel durch krankheitsübertragende Mücken, haben die meisten wohl schon einmal gehört. Welche vielleicht wenig bekannten Entwicklungen finden sich auf der Forschungslandkarte? 

Janine Voß: Die Forschungslandkarte macht sehr gut sichtbar, wie vielfältig der Klimawandel auf unsere Gesundheit wirkt und wie stark diese Folgen miteinander verflochten sind. Menschen mit Diabetes beispielsweise können bei Hitze zu Blutzuckerschwankungen neigen. Auch Medikamente sind bei hohen Temperaturen eventuell anders zu dosieren. Ich bin keine Medizinerin, manche dieser Zusammenhänge waren mir so bislang nicht bewusst.

Frau Schwering, diese Themen betreffen auch die Arbeit in Gesundheitsberufen. Wie können solche Erkenntnisse in die Ausbildung einfließen?

Simone Schwering: Wir sollten den Auszubildenden vermitteln, dass es diese Zusammenhänge zwischen Klimathemen und Auswirkungen auf die Gesundheit gibt, sie aber auch darin schulen, wie sie ihren Arbeitsbereich nachhaltiger gestalten können. Die Universität Bayreuth hat dazu einen Studiengang namens Planetary Health eingeführt. Wir bieten unseren Mitarbeitenden an, diesen berufsbegleitend zu belegen. 

Für die Barmer bedeutet Nachhaltigkeit ja nicht nur Klimaschutz. Welche Aspekte zählen noch dazu und wo stehen diese auf der Agenda des Vorstands? 

Simone Schwering: Sehr hoch angesiedelt ist bei uns die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Sie ist unsere Chance, Prozesse und Schnittstellen sehr viel effizienter zu gestalten, insbesondere im Kontakt mit unseren Versicherten. Ich denke da an den Barmer Teledoktor oder an Apps, über die sich bestimmte Gesundheitsleistungen abrufen lassen. Mein persönliches Herzensthema ist die Gleichstellung von Frauen. Mit 75 Prozent der Beschäftigten ist das Gesundheitswesen überwiegend weiblich. Wir tun viel, um ihre Sichtbarkeit zu erhöhen und die Gleichstellung sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf voranzubringen. Die Barmer möchte moderne, gesundheitsfördernde Arbeitswelten für ihre Beschäftigten schaffen. Das bedeutet unter anderem, dass wir den Arbeitsplatz neu denken: Viele Menschen wollen lieber an ihrem Wohnort arbeiten als an ihrem Arbeitsort leben. Das kann bedeuten, dass eine Führungskraft ihr Team vor allem in Videokonferenzen sieht. Oder dass wir für unsere Mitarbeitenden andere Arbeitsmittel benötigen. All das bündeln wir derzeit unter dem Leitbild Barmer One. Wir stellen uns strategisch neu auf, wollen endgültig weg von der Behördenstruktur. Das sind wir einfach nicht mehr.

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