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Funktionelle Tic-Störung

Lesedauer unter 5 Minuten

Redaktion

  • Prof. Münchau
  • Gesine Sallandt

Qualitätssicherung

  • Dr. med. Ursula Marschall (Fachärztin für Anästhesie, Barmer)
  • Dirk Weller (Diplom-Psychologe)
  • Dr. med. Utta Petzold

Der Begriff „Tourette-Syndrom“ ist vielen Menschen aus dem Fernsehen oder von Social-Media-Kanälen bekannt. Allerdings ist vieles, was „Tourette-Syndrom“ genannt wird, tatsächlich kein Tourette-Syndrom, sondern eine so genannte funktionelle Tic-Störung. Bestimmte Merkmale geben Hinweise darauf, um welche Störung es sich handelt.

Video zeigt Unterschiede im Alltag von Betroffenen: Tourette oder funktionelle Tics?

Warum die Unterscheidung zwischen Tourette und funktioneller Tic-Störung so wichtig ist

Insbesondere in den letzten zwei Jahren gibt es immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene, bei denen Extra-Bewegungen oder Laute auftreten, die sie nur bedingt kontrollieren können. Oft wird vermutet, dass die Betroffenen Tics oder ein Tourette-Syndrom haben könnten, was jedoch häufig gar nicht der Fall ist. Besonders bei Jugendlichen, bei denen Extra-Bewegungen plötzlich aufgetreten sind, komplex sind und besonders den Rumpf, Arme und Beine betreffen, muss auch an funktionelle Tics gedacht werden. Da funktionelle Tics eine ganz andere Ursache haben als das Tourette-Syndrom, ist auch die Behandlung anders. Eine funktionelle Tic-Störung wird nicht mit Medikamenten, sondern durch eine Psycho- und Physiotherapie behandelt. Wichtig ist, diese früh zu beginnen, denn dann ist die Chance einer Heilung am größten.

Welche Symptome können bei funktionellen Tic-Störungen auftreten?

Bei den Patienten zeigen sich oft Bewegungen, die nicht richtig kontrolliert werden können. Im Gegensatz zu motorischen Tics bei Menschen mit Gilles-de-la-Tourette-Syndrom haben Menschen mit funktionellen Tics aber oft langsamere, komplizierte Bewegungen (komplexe Tics genannt) vom Oberkörper und den Armen oder Beinen. Anders als beim Tourette-Syndrom bzw. bei Tourette-Patienten werden die Symptome unter Anwesenheit anderer schlechter, verbessern sich aber, wenn die Betroffenen allein sind. Die Symptome bleiben meistens eine lange Zeit lang gleich, das heißt, es gibt als Symptomatik ein festes Repertoire von unterschiedlichen Tics in relativ gleichbleibender Form. Außerdem sind die Bewegungen oft zielorientiert, also erfüllen einen gewissen Zweck, und sind kontextabhängig. Dies ist beim Tourette-Syndrom nicht so.

Patienten mit einer funktionellen Tic-Störung können gleichzeitig auch andere Erkrankungen wie ADHS, Depressionen oder Zwangsstörungen haben. Manchmal können bei Betroffenen auch ein Tourette-Syndrom und funktionelle Tics gleichzeitig auftreten.

Welche Ursache haben funktionelle Tics?

Funktionelle Tic-Störungen können grundsätzlich bei allen Menschen auftreten. Gehäuft können sie bei Menschen vorkommen, die viel Stress, Anspannung oder Ängste haben, oder Unsicherheiten ausgesetzt sind, zum Beispiel in oder nach Krisensituationen. Allerdings treten sie auch bei Menschen auf, die sich ansonsten gesund fühlen und keinen Stress wahrnehmen. Ein Hauptproblem bei Menschen mit funktionellen Tics scheint zu sein, dass die Wahrnehmung, Bewertung und Verarbeitung von Signalen des Körpers und von Bewegungen im Gehirn verändert ist. Dadurch verschlechtert sich die Kontrolle der Bewegung. Diese Störungen sind nicht Ausdruck einer Schädigung des Gehirns, sondern eher einer im Prinzip umkehrbaren Funktionsstörung, weshalb man von einer funktionellen Störung spricht.

Im Vergleich: Tourette-Syndrom vs. funktionelle Tic-Störungen

Häufig werden funktionelle Tics verwechselt mit Tourette bzw. dem Tourette-Syndrom.

 Gilles de la Tourette SyndromFunktionelle Tic-Störung
Erkrankungsalter:GrundschulalterJugendlich/junger Erwachsener
Beginn:schleichendabrupt
Fluktuation der Symptome:JaNein
Am meisten betroffene Körperareale:Kopf und HalsRumpf, Beine und Arme
Kontextbezogen:NeinJa
Mehr Tics wenn:AlleineIn Gesellschaft
Weniger Tics wenn: In GesellschaftAlleine
Behandlung:Psychotherapie, AntipsychotikaPsychotherapie, Physiotherapie, Stressreduktion

Wer ist von funktionellen Tic-Störungen betroffen?

Die meisten Betroffenen sind Kinder nach dem Grundschulalter, Jugendliche oder junge Erwachsene. Ein Teil der Betroffenen hat die funktionellen Tics erst nach Begegnungen mit dem Thema in den sozialen Medien, beispielsweise dem Schauen von Videos von Menschen auf YouTube, Tiktok oder anderen Social-Media-Kanälen entwickelt, die über sich sagen, dass sie ein „Tourette-Syndrom“ haben, tatsächlich jedoch unter einer funktionellen Tic-Störung leiden.

Wie ist der Krankheitsverlauf?

Oft treten die ersten Symptome sehr plötzlich auf. Eine funktionelle Tic-Störung ist heilbar. Bei rechtzeitiger Behandlung kann sie wieder komplett zurückgehen. Bei manchen Patienten halten die funktionellen Tics länger an, werden aber durch eine Therapie gelindert.

Welche Krankheitsfolgen können auftreten?

Eine funktionelle Tic-Störung ist an sich keine gefährliche Erkrankung, jedoch kann es für die Betroffenen ein Problem sein, dass sie wegen der Bewegungen in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Manche Menschen entwickeln deshalb eine Depression oder auch Störungen des Selbstwertgefühls. Falls dieses Risiko besteht bietet die Barmer auf verschiedenen Wegen Unterstützung.

Wie wird die Diagnose gestellt?

Die Diagnose wird durch die Einschätzung einer erfahrenen Ärztin oder eines erfahrenen Arztes gestellt. Eine zusätzliche Diagnostik, wie zum Beispiel eine Schichtaufnahme des Gehirns, wird nicht benötigt. Wichtig ist die Abgrenzung vom Tourette-Syndrom.

Wie werden funktionelle Tics behandelt?

Funktionelle Tic-Störungen sind sehr gut mit Verhaltenstherapie oder auch mit einer Physiotherapie zu behandeln. Gut ist auch eine Kombination dieser Methoden. Wichtig ist, früh eine klare Diagnose zu stellen und rasch mit der Therapie anzufangen, da sonst das Risiko für eine Festigung der Symptome besteht. Im Gegensatz zum Tourette-Syndrom ist eine funktionelle Tic-Störung aber heilbar. Medikamente helfen manchmal zeitweise, sollten jedoch nicht verwendet werden, da sie zur Festigung der Symptome beitragen können, was gegen eine medikamentöse Therapie spricht. Eine Ausnahme sind Medikamente zur Behandlung einer begleitenden Störung, z. Bsp. einer Depression.

Wie verändert sich der Alltag?

Für die meisten Menschen mit dieser Störung verändert sich der Alltag insofern, dass sie in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit ausgesetzt sind, was für manche Betroffene sehr unangenehm sein kann. Manche Menschen konzentrieren sich auch sehr auf ihre funktionellen Tics und beschäftigen sich viel damit, sodass Zeit für Anderes verloren geht.

Was ist zu tun, wenn Kinder Tics haben?

Viele Kinder haben in ihrer Kindheit irgendwann einmal Tics, welche nach einigen Monaten jedoch wieder weggehen. Arzt oder Ärztin sollten dann erst aufgesucht werden, wenn es für die Betroffenen einen Leidensdruck gibt. Die Hausärztin oder der Kinderarzt sind hier die ersten Ansprechpersonen. Die Betroffenen können dann bei Verdacht auf eine funktionelle Tic-Störung zu einem erfahrenen Neurologen, einer Kinderneurologin, Kinder- und Jugendpsychiater oder Erwachsenenpsychiaterin überwiesen werden, oder sich auch direkt an diese wenden.

Literatur

Weiterführende Informationen

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