Läufer im Ziel
Stress und Leistungsdruck

Stress-Strategien im Leistungssport: 3-Punkte-Programm zur Stressreduktion

Lesedauer unter 8 Minuten

Redaktion

  • Barmer Internetredaktion

Qualitätssicherung

  • Marie-Victoria Assel (Psychologin, Barmer)
  • Andrea Jakob-Pannier (Diplom-Sozialpädagogin/ Psychologin/ Psychoonkologin, Barmer)

Stress und Leistungsdruck können Sportler im Wettkampf lähmen – eine gesunde Dosis Anspannung kann aber auch beflügeln. Lesen Sie, wie drei Spitzensportler ihre ganz persönliche Balance in Bezug zu Training und Wettkampf gefunden haben und was Nichtsportler aus einem 3-Punkte-Programm zur Stressreduktion lernen können.

Von Spitzensportlern lernen

Afra Hönig (24), Profi-Boulderin

Nach ihrem Maschinenbau-Studium kann sich die Sportsoldatin als Mitglied der deutschen Boulder-Nationalmannschaft voll auf das Klettern konzentrieren. Aktuell hofft sie noch auf die Olympia-Qualifikation. In Tokyo wird Klettern erstmals olympische Sportart sein. Bouldern ist Klettern ohne Sicherung an einer Wand oder einem Felsblock, von dem man noch abspringen kann.

Vincent Langer (34), Profi-Windsurfer

Der mehrfache deutsche Meister und dreifache Weltmeister im Windsurfen hat sich nach einem Fußbruch und einem Bandscheibenvorfall immer wieder in die Weltelite seines Sports zurück gekämpft.

Markus Flemming (52), Ex-Eishockey-Profi und Sportpsychologe

Der ehemalige Eishockeytorwart hat nach seiner Sportkarriere Psychologie studiert. Als Sportpsychologe hat er sich auf Stressmanagement spezialisiert und betreut aktuell unter anderem das Team der Eisbären Berlin und die Handball-Nationalmannschaft der Herren.

Ausgangssituation: Woher kommt der Stress als Sportler?

Afra Hönig: "Der Druck kurz vor einem Wettkampf ist etwas ganz anderes, als den Alltag zwischen Training, Job oder Studium und Privatleben organisiert zu bekommen. Mit beidem muss man lernen, umzugehen. Mich setzt aktuell zum Beispiel unter Stress, dass in Corona-Zeiten keine Wettkämpfe planbar sind: Wann muss ich fit sein? Beim Bouldern ist es nicht so, dass man eine bestimmte Wand nicht hinaufklettern könnte, weil die Route zu schwer ist. Stressfaktor ist hier die Zeit, die herunterläuft. Hierfür muss ich fit im Kopf und voll konzentriert sein."

Vincent Langer: "Leistungsdruck macht man sich vor allem selbst. Und die Erwartungen steigen mit jedem Erfolg. Seitdem ich zum ersten Mal Weltmeister war – das Höchste, was man in meinem Sport erreichen kann –, ist das Ziel logischerweise, das wiederholen zu wollen. Um mit diesem Druck klarzukommen und sich nicht selbst zu blockieren, muss ich meine Erwartungen an mich selbst immer wieder mit dem abgleichen, was realistisch möglich ist: zum Beispiel, wenn ich gerade erst nach einer Verletzung zurückkomme oder in einem komplett unbekannten Revier surfe."

Markus Flemming: "Der Mensch ist ein Fluchtwesen. Er vermeidet oder versteckt sich, wenn er Angst hat. Angst ist etwas völlig Normales. Wenn mir etwas sehr wichtig ist, kann mir der Gedanke, zu versagen oder mich zu blamieren, Angst machen. In der Wettkampfsituation ist Angst aber keine Motivation, sondern eine Blockade, die daran hindert, das abzurufen, was man eigentlich kann. Jeder Mensch macht Fehler. Wer sich das erlaubt und eingesteht, kann daran arbeiten und lernen, die Angst positiv umzudeuten."

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Schritt 1: Durch Selbstbeobachtung Stressauslöser erkennen und einschätzen

Afra Hönig: "Dass die Anspannung kurz vor einem Wettkampf steigt, merke ich zum Beispiel daran, dass ich häufiger aufs Klo muss. Eher unterbewusst macht sich Unruhe breit. Man versucht, es kleinzuhalten – aber es ist da. Wenn ich dann an der Wand bin und mich voll auf die Boulder-Aufgabe konzentriere, sinkt die Nervosität. Wenn ich einen Boulder geschafft habe, habe ich einige Minuten Pause. 

Dann kann es passieren, dass die Nervosität, das Grübeln wieder durchbrechen: Man ist mit sich allein, geht nochmal die letzten Griffe durch, arbeitet alles nach. Egal, wie es vorher gelaufen ist, man darf sich nicht reinsteigern. Ich muss abhaken, was passiert ist. Darauf habe ich keinen Einfluss mehr."

Markus Flemming: "Im Training geht man Bewegungsabläufe tausende Male durch, trainiert Automatismen – und dann reißt einen die Nervosität heraus. Plötzlich ist Platz für Selbstzweifel. Dann heißt es, zurückzukehren zum Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Wer sich bewusst machen kann, was gerade geschieht, kann beginnen, selbst Einfluss darauf zu nehmen. Als Sportpsychologe kann ich hierfür im Gespräch ein Spiegel sein, um zu reflektieren und sich selbst zu beobachten."

Vincent Langer: "Selbstreflexion heißt für mich, mir vor Augen zu führen: Was kann ich gut? Was kann ich nicht so gut? Und in welchen Situationen fallen meine Routinen in sich zusammen? Mir hilft immer, positiv zu denken. Wenn mich eine Verletzung ausbremst und die Karriere auf einmal vorbei sein sollte, weiß ich: Hey, ich hatte viele wunderbare Jahre in diesem Sport!"

Schritt 2: Wie findet man die passende Technik zur Körperkontrolle und lernt, Stressfaktoren bewusst um zu bewerten?

Afra Hönig: "Nervosität und Stress kann man im Körper spüren. Ich habe zusammen mit Mentalcoaches einige Techniken ausprobiert. Mir hilft es, wenn ich mich ganz bewusst auf die Atmung konzentriere, dem Atem nachgehe und versuche, ihn ruhig zu steuern. Dann gehe ich in ein positives Selbstgespräch: Ich weiß, was ich kann. Und ich kann es abrufen, wenn ich mich konzentriere!"

Markus Flemming: "Es gibt kein Pauschalprogramm, das jedem helfen würde. Bei allen Techniken geht es aber darum, in die Selbstregulation einzutauchen und in den Moment des Fokus zurückzukehren. Es kann schon helfen, sich klar zu machen, dass es gerade nicht um Leben und Tod geht. Jeder muss die Technik finden, die bei ihm funktioniert."

Vincent Langer: "Wenn die Anspannung zu groß wird, werfe ich mir selbst einen Anker: Das kann eine schöne Erinnerung sein, zum Beispiel an eine Siegerehrung, oder gute Musik, die in mir ein positives Grundgefühl auslöst. So komme ich runter und manövriere mich selbst aus der Unruhe zurück. Dann verschwindet auch die Angst vor einem Blackout: Warum sollte das genau jetzt passieren? Auch mit meiner Familie oder Freunden darüber zu sprechen, was mich belastet, nimmt viel Druck heraus."

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Schritt 3: Wie lassen sich erfolgreiche Routinen einüben und abrufen?

Markus Flemming: Wenn man sein Programm gefunden hat, mit dem man zur Ruhe kommt und mit dem man sich gut fühlt, gilt es, diese Mentaltechnik immer wieder einzuüben. Jeder Sportler weiß, dass er nur die Fähigkeiten abrufen kann, die aus dem Training auch da sind. Genauso ist es mit Techniken der Körperkontrolle. Mentales Training ist keine Zauberei, sondern Trainingssache."

Vincent Langer: "Rituale vor dem Rennen sind für mich unglaublich wichtig. Vor jedem Rennen läuft eine Minute lang die Startuhr herunter. Dann fahre ich von der Startlinie weg, springe ins Wasser, tauche den Kopf komplett unter, zähle bis zehn – und tauche wieder auf. Im Wettkampf ist es laut und schnell, unter Wasser erlebe ich nochmal einen Moment der absoluten Ruhe."

Afra Hönig: "In langen Phasen ohne Wettkämpfe – wie aktuell während der Corona-Pandemie – ist es nicht einfach, zu verorten, wo man steht. Die Wettkämpfe fehlen. Dann muss ich mir immer wieder klarmachen, wie gern ich bouldere, wie toll meine Truppe ist und wie gut ich es habe, dass ich mich voll auf diesen Sport konzentrieren darf. Positiv denken!"

Ist Sport ohne Stress überhaupt das Ziel?

Vincent Langer: "Ich bin Adrenalin-Junkie. Wenn ich auf dem Surfbrett auf eine Wendetonne zuschieße und nie genau weiß, was als nächstes passiert, brauche ich eine gewisse Grundanspannung. Das ist für mich positiver Stress. Er bringt mich weiter. Wie im ganzen Leben heißt es, die richtige Balance zu finden. Und diese Balance immer wieder neu auszutarieren."

Markus Flemming: "Stress kann auch kribbeln und herausfordern. Bei vielen Sportlern – und das kenne ich aus meiner eigenen aktiven Karriere – lässt er den Motor erst warmlaufen. Entscheidend ist, Anspannung und Leistungsdruck auch selbst regulieren zu können."

Afra Hönig: "Natürlich fühlt sich die Anspannung im Moment vor dem Wettkampf nicht gut an. Aber sie pusht mich. Wenn ich zerstreut und unkonzentriert bin klappt an der Wand gar nichts. Ist es gut gelaufen, darf ich mich aber nicht darauf ausruhen. Ich darf in der Anspannung während des Wettkamps nicht komplett nachlassen."

Wie kann Bewegung Hobbysportlern beim Stressabbau helfen?

Sich nach einem anstrengenden Arbeitstag noch einmal zum Sport aufzuraffen – ist alles andere als einfach. Schließlich fährt der Körper doch auch auf der Couch Atmung, Blutdruck und Herzschlag herunter… Die Muskulatur steht allerdings noch unter Spannung; die tagsüber ausgeschütteten Stresshormone drehen weiter ihre Runden durch den Körper.

Ja, Sport ist anstrengend. Genau das aber ist das Wirkprinzip hinter dem Anti-Stress-Mittel Sport. Egal, ob auf dem Rad, beim Walking, Joggen, Reverse Running, Skaten oder Schwimmen, Muskeln werden angespannt und entspannt. Auf Anspannung folgt Entspannung. Bewegung zwingt den Körper, Erregungszustände abzubauen. Was für die Muskeln gilt, stimmt auch für den Kopf geregelt über das komplexe Zusammenspiel von Botenstoffen wie dem Stresshormon Cortisol. Auf der anderen Seite setzt Sport verstärkt Endorphine frei, sogenannte Glückshormone.

Besonders gut eignen sich aerobe Bewegungsarten wie beispielsweise Laufen, Joggen, Schwimmen oder Radfahren - also solche, die mit moderater Intensität und ausreichend Sauerstoffzufuhr auskommen. Hierzu zählen beispielsweise: Spazieren gehen, Laufen, Joggen, Schwimmen, (Renn-)Radfahren. Je regelmäßiger, umso schneller und zuverlässiger springt der Stressabbau an.

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Das Wichtigste ist dabei, dass es Spaß macht. Denn Sport soll natürlich nicht in neuen Stress und Leistungsdruck münden.

Literatur

Weiterführende Informationen

  • Die Gespräche führte Stefan Schweiger, Redakteur bei Nerdpol - Redaktionsbüro für Medizin- und Wissenschaftsjournalismus, im Auftrag der Barmer im August 2020.

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