Sucht

„Die Meetings sind meine Medizin“: Zu Besuch beim Treffen einer Selbsthilfegruppe für alkoholkranke Menschen

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Redaktion

  • Barmer Internetredaktion

Qualitätssicherung

  • Jens Krug (Fachreferent zur Förderung der Selbsthilfe und Prävention)

Schätzungsweise rund 7.000 Selbsthilfegruppen für alkoholabhängige Menschen gibt es in Deutschland. Hier treffen sich Alkoholsüchtige, um sich gegenseitig zu bestärken, mit dem Trinken aufzuhören. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass der Austausch mit Gleichgesinnten mitunter sogar wirksamer sein kann als eine Verhaltenstherapie. 

Auf dem Klappstuhl sitzt eine sympathische, ältere Frau. Sie hat kinnlange, graublonde Haare, trägt einen bunten Seidenschal und eine dunkelblaue Stoffhose. „Hallo, ich bin Frederike und ich bin Alkoholikerin“, sagt sie. Es ist der typische Satz, den alle in einem Treffen der Selbsthilfegruppe sagen – und den manche erst nach Jahren über die Lippen bringen, da er eine Offenbarung, ein klares Bekenntnis zur Krankheit, zur Sucht ist. Dann beginnt die Rentnerin von 23 Jahren Alkoholsucht und vielen Rückfällen zu erzählen. Offen, unbefangen und ganz offensichtlich erleichtert, sich heute wieder mit ihrer Gruppe austauschen zu können.

Frederike spricht auch von ihrem schwersten Rückfall, den sie nach vier Jahren hart erkämpfter Abstinenz erlebte: Damals bestellte ein Mann, den sie gerade kennen gelernt hatte, zwei Gläser Prosecco. Die Münchnerin schaffte es damals nicht, nein zu sagen. „Ich glaubte in diesem Moment, ich könnte kontrolliert trinken. Doch das war ein Trugschluss, der mich fast umgebracht hätte. Bereits beim ersten Schluck erlebte ich eine Explosion in meinem Kopf, die ich noch heute spüren kann. Ich war sofort wieder in der Sucht gefangen.“

Sie merkte: Alleine würde sie den Ausstieg nicht noch einmal schaffen. Daher suchte sich Frederike im Jahr 2012 Hilfe bei einer Selbsthilfegruppe. Seitdem ist sie tatsächlich abstinent geblieben, doch der Kampf gegen die Sucht ist harte Arbeit. „Bis heute ist die Versuchung zu trinken allgegenwärtig“, sagt Frederike. „Doch wenn ich rückfällig werden würde, wäre das mein Tod. Deshalb mache ich täglich meine Fußarbeit, gehe mehrmals die Woche in meine Meetings. Das ist meine Medizin“, sagt die Rentnerin.

Offen über die Alkoholsucht sprechen

Frederike ist wie sieben andere Alkoholiker an einem Vormittag der Einladung der Selbsthilfegruppe gefolgt. An einem Gebäude in der Münchner Innenstadt weisen mehrere Schilder mit dem blauen Logo der Gruppe den Weg in den Probenraum eines Kirchenchors. Der Raum ist hell, die Decken hoch. An einer Wand hängen Motivationsslogans wie „Fang bei dir selber an“, „Das Wichtigste zuerst“, „Immer mit der Ruhe“, „Nur für heute“. In der Mitte des Raumes stehen Holzstühle im Kreis um eine dicke, brennende Kerze. Daneben der Kodex, der über allen Meetings steht: „Wen du hier siehst, was du hier hörst, wenn du gehst – bitte lass es hier!“

Die Atmosphäre ist heiter, offen, aber verbindlich. Die acht Frauen und Männer nehmen auf den Stühlen Platz, sieben weitere Teilnehmer sind online zugeschaltet – seit Corona neue Normalität. Einen Gruppenleiter oder einen Therapeuten gibt es nicht, lediglich jemanden aus der Runde der Selbsthilfeorganisation, der moderiert. Er steht auf der gleichen Hierarchiestufe wie alle anderen und wird turnusmäßig ohne Wahl oder offizielle Ernennung von einem anderen freiwilligen Teilnehmer abgelöst. Heute führt Johanna – Ende 30, lange, braune Haare, sportliche Jeans – die Teilnehmer durch die kommenden zwei Stunden.

Endlich kein Doppelleben mehr führen müssen

„Dann kommen wir jetzt wie immer zu den Redebeiträgen“, führt Johanna durch das Meeting. Die Teilnehmer erzählen nun reihum, was ihnen heute auf dem Herzen liegt. Erinnerungen daran, wie man in die Sucht rutschte, womit der Kopf gerade beschäftigt ist, welche Schwierigkeiten, aber auch Erfolge man gerade erlebt hat. Niemand unterbricht den anderen, niemand kommentiert, keiner diskutiert oder gibt Ratschläge. Stattdessen hören alle zu, nicken manchmal wissend oder applaudieren am Ende eines Beitrags, weil jemand von einer wichtigen Erkenntnis berichtet – oder einfach nur sagt: „Ich bin zufrieden, ich brauche keinen Alkohol mehr.“

Frederike erzählt als erste von ihren Rückfällen und ihrem Weg zur Genesung. Dann beginnt der nächste Teilnehmer mit dem typischen Satz. „Hallo, ich bin Heinz und ich bin Alkoholiker.“ Er müsse nicht mehr gegen die Sucht kämpfen, erzählt der Rentner mit dem karierten Hemd und der locker sitzenden Jeans. „Ich bin sehr dankbar, endlich offen über alles zu sprechen“, sagt er und man spürt beinahe körperlich, wie froh er ist, den Alkohol hinter sich gelassen zu haben. Er schaffte den Ausstieg vor zehn Jahren mit der Selbsthilfegruppe – nach Jahrzehnten des einsamen Trinkens, das in einem depressiven Doppelleben mündete.

 Heinz hat viel mitgemacht: Schlafstörungen, Arbeitssucht, nächtliche Beschaffungs-Ausflüge und körperliche Schäden. Wie es soweit kommen konnte? „Bei mir spielte mein Vater eine wichtige Rolle für die Sucht“, sagt er reflektiert. „Er hatte im Krieg ein Bein verloren und spülte alles mit Cognac runter. Ich fand das ästhetisch, männlich. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass er sich mal mit mir beschäftigt. Doch er hat mich gar nicht beachtet.“ Deshalb begann Heinz bereits als Kind zu trinken und hoffte, auf diesem Weg Anerkennung vom Vater zu bekommen. Doch der blieb kalt und unnahbar, markierte nur irgendwann die eigenen Flaschen.

Im Meeting fallen nur kleine Schlaglichter auf die Leben der Teilnehmer. Doch sie lassen tief blicken. Es ist berührend, wie viel Vertrauen und Offenheit in der Münchner Gruppe herrschen. Trotz der widrigen Umstände und dem übermächtigen Gegner Alkohol haben es die Teilnehmer geschafft, ihr Leben in eine neue Richtung zu lenken. Man bemerkt deutlich, wie dankbar sie sind, dass ihnen dies gelungen ist. Lediglich dadurch, dass sie über ihre Sucht offen sprechen können und so akzeptiert werden, wie sie sind – mit all ihren Makeln. Es macht sie glücklich, ein unabhängiges, dafür aber selbstbestimmtes und zufriedenes Leben führen zu können. 

Der Gruppeneffekt ist wissenschaftlich erwiesen

Authentizität, wie sie in der Münchner Gruppe gelebt wird, ist das A und O der Selbsthilfe: Nur wer ehrlich ist, kann sich weiterentwickeln und so aus der Abhängigkeit herausfinden. Diesen Wirkmechanismus erlebten 1935 auch der Börsenmakler Bill Wilson und der Chirurg Bob Smith in den USA: Sie litten schwer unter der eigenen Alkoholkrankheit und stellten fest, dass sie weniger tranken, wenn sie sich offen darüber unterhielten. Also suchten sie nach weiteren Betroffenen, die sich ihnen anschließen wollten – und gründeten die Anonymen Alkoholiker. 1953 fand das erste deutsche Treffen in München statt. Heute gibt es rund 2000 Meetings im ganzen Land, die jedem alkoholkranken Menschen offenstehen. Die Teilnehmer stammen aus allen sozialen Schichten, aus allen Altersgruppen. Um vorbeizukommen genügt alleine der Wunsch: „Ich möchte nicht mehr trinken.“

Was sie alle gemeinsam haben, ist der geschützte Rahmen der Anonymität. In diesem Umfeld können Mauern fallen, die oft über Jahre hinweg aus Scham und Minderwertigkeitsgefühlen errichtet wurden. Für viele eine enorme Erleichterung. Dass die Betroffenen oft ähnliche Geschichten erlebt haben, gibt Kraft und schafft Verbundenheit. Aus den Lösungsansätzen der anderen Teilnehmer kann jeder seine eigenen Erkenntnisse ziehen und wird durch die Gruppendynamik in ihrem eigenen Weg bestärkt.

Am Ende des zweistündigen Treffens sprechen die Teilnehmer noch gemeinsam einige Sätze des US-Philosophen und Theologen Reinhold Niebuhr: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Die Frauen und Männer gehen auseinander, in ihren individuellen Alltag – bis zum nächsten Treffen. Bis dahin versuchen sie standhaft zu bleiben.

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