Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Das trifft bei Cybermobbing (häufig auch cyber mobbing oder Cyber-Mobbing geschrieben) leider nicht zu. Im Gegenteil: das Problem intensiviert sich derzeit sogar weiter.
Bereits seit einigen Jahren ist klar erkennbar, dass die Digitalisierung des Alltagslebens, bei allem Positiven, auch erhebliche Schattenseiten mit sich bringen kann.
Für unser menschliches Mit- und Gegeneinander eröffnen sich zahllose neue Möglichkeiten, und diese beinhalten leider auch digitale Aggression und Gewalt.
Beim Thema Cybermobbing ist festzustellen, dass es bisher nicht gelingt, das Auftreten des Problems einzudämmen, und auch nicht, alle davon Betroffenen mit der erforderlichen Unterstützung zu versorgen.
Cybermobbing ist zu einer bedeutenden Gesundheitsgefahr geworden. Wenn wir eine verantwortungsvolle und gesunde Digitalisierung befürworten und vorantreiben, müssen wir uns dem Problem daher stellen und alles Erforderliche tun, um Cybermobbing und seine Folgen einzudämmen.
Was ist Cybermobbing? Die Barmer bietet Tipps zum Umgang mit Cybermobbing und gibt einen Überblick über die Anlaufstellen, die helfen können.
Barmer-Forschung zeigt: Cybermobbing im Jugendalltag weiter zunehmend
Um erfolgreich gegen Cybermobbing vorzugehen, sind aktuelle und präzise Informationen über die Verbreitung von Cybermobbing unerlässlich. Deshalb hat die Barmer auch dieses Jahr wieder gemeinsam mit dem SINUS Institut in einer großen SINUS Umfrage mit über 2.000 Jugendlichen repräsentativ erforscht, wie die aktuelle Situation ist und in welche Richtung die Entwicklung seit letztem Jahr weist.
Das Hauptergebnis der Umfrage: Die Verbreitung von Cybermobbing ist weiter gestiegen, obwohl sie bereits im letzten Jahr massiv ausgeprägt war. Dabei scheint unter Jugendlichen aber auch das Problembewusstsein leicht angestiegen zu sein: der Anteil derjenigen, die keine Angabe zu ihrer Betroffenheit machen konnten, ist erkennbar gesunken. Bedenklich stimmt, dass sämtliche Gegenmaßnahmen, deren Nutzen erfragt wurde, deutlich pessimistischer beurteilt wurden als im Vorjahr. Ausnahme ist hier das Einschalten der Polizei, dem derselbe Nutzen zugesprochen wurde wie im Vorjahr.
Ob als Täter, Opfer oder Beobachter haben mit 59% weit über die Hälfte der Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren in Deutschland Erfahrungen mit Cybermobbing (Vorjahr: 51%). Einige kennen das Thema sogar aus zwei oder drei dieser Perspektiven, waren also zum Beispiel schon Opfer und auch Täter. Sechzehn Prozent der Befragten berichten, selbst von Cybermobbing betroffen gewesen zu sein - im Vorjahr waren es noch vierzehn Prozent gewesen.
Dabei sind Mädchen mit zwanzig Prozent (Vorjahr: siebzehn Prozent) noch häufiger Opfer von Mobbing im Cyberraum als Jungen mit dreizehn Prozent (Vorjahr: elf Prozent). Immerhin sechs Prozent (Vorjahr: fünf Prozent) gestehen ein, selbst gemobbt zu haben. Bei höherem Bildungsgrad liegen die Zahlen sowohl für die Opfer- als auch für die Täterrolle niedriger als bei formal niedrigerem Bildungsgrad.
Zu diesen Ergebnissen sagt Prof. Dr. Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer: „Das Problem Cybermobbing intensiviert sich. Umso wichtiger ist es, dass Jugendliche neben Eltern und Freunden auch in Schulen, bei der Polizei oder in Online-Beratungsangeboten schnelle und vertrauenswürdige Hilfe bekommen, sobald sie Opfer von Cybermobbing werden oder davon erfahren“.
Die Barmer fordert angesichts der anhaltend bedrückenden Zahlen neben einem Ausbau der Versorgung mit Hilfe eine Intensivierung der präventiven Anstrengungen.
Die Perspektive des Cybermobbing-Hilfe e. V.
Die Barmer kooperiert mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, um gemeinsam mehr gegen Cybermobbing zu erreichen. Einer dieser Partner ist der Verein Cybermobbing-Hilfe e. V. Lukas Pohland, Gründer und erster Vorsitzender dieser Initiative, der als Schüler selbst Cybermobbing erlebt hat, sieht die Ergebnisse der SINUS-Studie als Beleg für Handlungsbedarf: "Die Ergebnisse der SINUS-Studie zeigen mehr als deutlich, dass Cybermobbing unter Jugendlichen ein immer größeres Problem darstellt. Erschreckend ist, dass insbesondere Mädchen noch häufiger betroffen sind als noch vor einem Jahr. Außerdem versuchen immer mehr Jugendliche Cybermobbing zu ignorieren oder selbst zu lösen. Das ist eine fatale Entwicklung und nicht richtig! Cybermobbing lässt sich häufig nicht wirklich ignorieren und die Lösung sollte den Betroffenen nicht allein überlassen werden".
Allerdings gibt er aus eigener Erfahrung in der Cybermobbing-Beratung zu bedenken, dass möglicherweise gar nicht alle Betroffenen in der Umfrage offen geantwortet haben. „Die Dunkelziffer der Betroffenen ist möglicherweise noch deutlich höher: Cybermobbing ist noch immer mit einem Schamgefühl belastet.“ Denn immerhin haben auch dieses Jahr noch dreizehn Prozent (Vorjahr siebzehn Prozent) keine Angabe zur Frage nach eigenen Erfahrungen gemacht. Hier könne nach wie vor auch Unwissenheit eine Rolle gespielt haben, worum es sich bei Cybermobbing überhaupt genau handelt.
Wo findet Cybermobbing statt?
Eindeutiger Spitzenreiter unter den Cybermobbing-Kanälen ist weiterhin WhatsApp. Fast sechs von zehn Jugendlichen, die Cybermobbing entweder mitbekommen haben oder selbst betroffen oder beteiligt waren, berichten, dass dies auf WhatsApp geschehen ist.
Am zweithäufigsten passiert Cybermobbing auch in diesem Jahr auf Instagram: Hier haben es vier von zehn Jugendlichen erlebt. In diesem Medium sind es besonders die Mädchen, die betroffen sind. Auf der Plattform TikTok zeigt sich die mit Abstand höchste Steigerungsrate, hier hat ein zwölf Prozentpunkte höherer Anteil als im Vorjahr Cybermobbing erlebt. Facebook, hingegen ist die Plattform mit dem höchsten Rückgang: hier hat ein acht Prozentpunkte geringerer Anteil als im Vorjahr von Cybermobbing berichtet. Auch Youtube, Snapchat und andere Kanäle haben Steigerungen zwischen drei und sechs Prozentpunkten zu verzeichnen, während die Kategorie "Foren, Chatrooms und Message-Boards" stabil bei gut zwanzig Prozent geblieben ist.
Was passiert beim Cybermobbing?
Die sehr große und 2022 noch einmal gestiegene Mehrheit der von Cybermobbing betroffenen Jugendlichen ist Beleidigungen ausgesetzt gewesen: Mehr als sieben von zehn Betroffenen berichten das. Über die Hälfte (54 Prozent) hat es erlebt, dass Gerüchte über sie in die Welt gesetzt wurden. Das ist Mädchen etwas häufiger passiert als Jungen. Drei von zehn betroffenen Jugendlichen haben jeweils erlebt, belästigt oder durch peinliche Bilder oder Videos beschämt zu werden.
Dazu sagt Lukas Pohland vom Cybermobbing-Hilfe e. V.: „Es ist erschreckend, wie vielfältig Cybermobbing ist. Die beobachteten Arten führen die Brutalität der digitalen Angriffe vor Augen. Die Studie belegt, was technische Funktionalitäten alles möglich machen können. So ist insbesondere das Posten von peinlichen Videos oder Bildern auf einem Höchststand.“
Jeder vierte Betroffene musste damit fertig werden, dass vertrauliche Informationen preisgegeben wurden (im Vorjahr war es noch jeder fünfte), jeder zehnte erlebte sogar Identitäts- bzw.-beziehungsweise Passwortklau oder Stalking.
Den massivsten Anstieg gab es beim Ausschluss aus Gruppen wie z.B. WhatsApp-Gruppen: Die Häufigkeit dieser Erfahrung stieg um sieben Prozentpunkte auf 38 Prozent der Cybermobbing-Erfahrenen.
Wohin wenden Jugendliche sich, wenn sie Cybermobbing erleben?
Im Winter 2021/22 wollte sich jeder vierte Jugendliche im Falle von Cybermobbing nicht um Hilfe bemühen, sondern es ignorieren oder selbst lösen. Diese ohnehin schon viel zu hohe Zahl hat sich im Winter 2022/23 noch einmal um sechs Prozent gesteigert. Das unterstreicht aus Expertensicht umso mehr den bestehenden Handlungsbedarf. „Zu wenige der Befragten würden sich bei einer Betroffenheit Hilfe suchen. Es zeigt, dass die Jugendlichen Angst davor haben, sich Unterstützung zu suchen“.
Zwei Drittel der Jugendlichen bezeichnen ihre Eltern als Anlaufstelle, wenn man Cybermobbing erlebt. Knapp neun von zehn sagen, dass es hilft, wenn die Eltern Verständnis haben und Rückhalt geben. Mehr als vier von zehn Jugendlichen (davon deutlich mehr Mädchen als Jungen) wenden sich an ihre Freundinnen und Freunde. Acht von zehn sagen, dass es hilft, wenn diese solidarisch zu dem Gemobbten stehen.
Nur noch einundzwanzig Prozent (Vorjahr: 24%) würden sich Lehrerinnen oder Lehrern anvertrauen. Siebzehn Prozent würden sich an die Polizei wenden. Sehr viel seltener scheint es naheliegend, die Schulleitung anzusprechen (elf Prozent, Vorjahr: sechzehn Prozent) und noch seltener, Psychologen oder Beratungsstellen (7 bzw. 6 Prozent) anzusteuern.
Was hilft Jugendlichen, wenn sie Cybermobbing erlebt haben?
Die befragten Jugendlichen, die selbst schon einmal Opfer von Cybermobbing waren, haben tatsächlich etwa zu 58 Prozent von den Eltern (Vorjahr: 64 Prozent), zu 36 Prozent von Freunden (Vorjahr: 30 Prozent) und zu fünfzehn Prozent von Lehrerinnen und Lehrern Hilfe bekommen. Psychologinnen und Schulleitungen (zehn bzw. elf Prozent) und Polizei (acht Prozent) waren ebenfalls wichtige Akteure auf stabilem Niveau.
Selbsthilfegruppen im Internet haben dieses Jahr nur zwei Prozent (Vorjahr: sechs Prozent) und Online-Beratungsangebote drei Prozent der Betroffenen geholfen. Das große Problem ist hier aber offenbar der Rest, so sagen neunzehn Prozent der Betroffenen: „Mir hat niemand geholfen“. Das ist noch einmal mehr als im Vorjahr, da waren es sechzehn Prozent und damit eigentlich bereits ein inakzeptabel hoher Anteil.
Hier sieht Pohland die Schulen in der Pflicht: „Cybermobbing findet vor allem aus dem Schulkontext heraus statt. 19 Prozent der Befragten gaben sogar an, dass ihnen gar nicht geholfen wurde. Die Studie führt vor Augen, dass das schulische Cybermobbing-Management dringend überarbeitet werden muss“.
Dazu passt, dass nach wie vor sechs von zehn Befragten sagen, dass das Thema noch viel intensiver in der Schule behandelt werden sollte.
Aus diesen Gründen wurde im Winter 2022/23 auch eine subjektive Bewertung der schulischen Maßnahmen gegen Cybermobbing erfragt. Weniger als ein Drittel der Jugendlichen ist der Meinung, dass die Aktivitäten oder Angebote ihrer Schule zum Thema Cyber-Mobbing hilfreich sind. Vierundzwanzig Prozent, also praktisch jedem Vierten, sind gar keine Aktivitäten oder Angebote der Schule gegen Cybermobbing bekannt.
Alles in allem bestätigt die zweite Erhebungswelle der Barmer Sinus-Jugendumfrage-Reihe, dass Cybermobbing nicht nur eine akute, sondern leider auch eine chronische Herausforderung der digitalen Gesellschaft ist. Manche Abweichungen gegenüber dem Vorjahr mögen damit zu tun haben, dass die Lebensbedingungen sich nach den von Corona geprägten Jahren wieder zu normalisieren beginnen. Das erste Etappenziel muss jetzt sein, den negativen Trend zu stoppen, zumindest einen graduellen Rückgang von Cybermobbing zu bewirken und vor allem Betroffene deutlich besser mit geeigneten Hilfsangeboten zu erreichen.