Porträt von Benjamin Westerhoff
Digitale Ethik

Interview Benjamin Westerhoff: Gesundheitsdaten und Digitalisierung

Lesedauer unter 4 Minuten

Autoren/Interview

  • Barmer Internetredaktion

Zur Person

  • Benjamin Westerhoff war Abteilungsleiter Produktentwicklung und Produktstrategie.

Ein Gespräch mit Benjamin Westerhoff, Abteilungsleiter Produktentwicklung und Produktstrategie, über den adäquaten Umgang mit Gesundheitsdaten. 

Herr Westerhoff, Daten gelten als wichtiger Baustein eines digitalen Gesundheitswesens. Warum?
Benjamin Westerhoff: In der zielgerichteten Auswertung von Daten liegen große Chancen. Denken Sie an eine Patientin, die ein Arzneimittel von Ihrem Hausarzt verordnet bekommt.

Zwei Wochen vorher hat ihr ihre Kardiologin ein anderes Medikament verordnet, das gefährlich mit dem neuen interagiert. Wüsste der Hausarzt davon und hätte er Hilfe dabei, die vollkommen unüberschaubaren Wechselwirkungen in allen Kombinationen zu kennen, wäre das ein Plus für die Sicherheit der Patientin.

Daten schaffen hier Transparenz und können einen sinnvollen Beitrag leisten. Solch eine Hilfe stellen wir dem Hausarzt mit Einwilligung unserer Versicherten aus dem Beispiel bereits heute zur Verfügung. Solche Anwendungen müssen jedoch den hohen Ansprüchen an den Datenschutz genügen.

Warum braucht eine Krankenkasse einen eigenen, auf die Digitalisierung abgestimmten Wertekanon?
Benjamin Westerhoff: Ein solcher sittlicher Kompass regt zum Denken an und hilft, Entscheidungen selbstbestimmt zu treffen, ohne jeden Extremfall vorab zu regeln, was angesichts der Dynamik ja gar nicht geht.

Nehmen Sie die Genomsequenzierung. Bis vor wenigen Jahren war es nur begrenzt möglich und sehr teuer, Einzelpersonen molekulargenetisch zu decodieren. Mittlerweile können Sie eine solche Analyse im Netz buchen. Darauf basierend bekommen Sie dann Hinweise beispielsweise auf ihr Risiko, jemals an Multipler Sklerose zu erkranken.

Was mache ich mit so einer Information? Muss ich mich jetzt behandeln lassen? Wie sicher ist der Eintritt der Erkrankung? Was macht das mit meiner Psyche? Kann mich meine private Versicherung doch irgendwann zu einem solchen Test auffordern und versichert mich dann ggf. nicht? Habe ich das Recht, nicht zu wissen, wie mein individuelles Risiko ist? Solchen schwerwiegenden Fragestellungen müssen wir uns gemeinsam stellen.

Manche Menschen sehen nur die Aspekte der Digitalisierung, die ihr Leben einfacher machen. Wie sensibilisiert man sie für die Risiken?
Benjamin Westerhoff: Das ist ein interessantes Phänomen. Bietet der smarte Lautsprecher uns nach dem Husten an, einen Hustensaft oder Kräuterbonbons zu bestellen, sind wir häufig weniger skeptisch als beispielsweise bei der Corona-Warn-App. Ausgerechnet dort, wo der Umgang mit Daten am besten und am strengsten geregelt und reglementiert ist, haben wir die meisten Bedenken. Das sollten wir der Öffentlichkeit verstärkt bewusstmachen.

Besteht die Gefahr, dass eine ethische Betrachtung den Fortschritt ausbremst?
Benjamin Westerhoff: Jede wirkliche Innovation sollte einer kritischen Betrachtung standhalten können und sich vorausschauend mit diesen Fragestellungen beschäftigt haben. Eine frühzeitige ethische Analyse kann sogar ein Vorteil sein, weil sie verhindert, dass später viel Zeit und Aufwand für die Verteidigung oder Nachbesserung einer – moralisch fraglichen – Innovation nötig werden.

Wie kann der Einsatz von Algorithmen die Gesundheitsversorgung verantwortungsvoll verbessern?
Benjamin Westerhoff: Mit Hilfe von Algorithmen lassen sich gesundheitliche Probleme oder Komplikationen antizipieren, was ein präventives Handeln ermöglicht. Bei einem Auto schenken wir auch der Ölwarnleuchte Beachtung und warten nicht auf den Motorschaden.

Die größte Herausforderung steckt allerdings darin, nur vor Problemen zu warnen, die relevant und wahrscheinlich sind. Algorithmen müssen sensitive und spezifische Ergebnisse liefern, also weder Risikofälle übersehen noch Fehlalarme geben. Weiterhin müssen systematische Verzerrungen ausgeschlossen sein.

Das kennt man beispielweise aus Prognosen zur Kriminalität aus den USA. Hier werden Afroamerikaner systematisch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit belegt, kriminell zu sein/werden, weil der Datensatz, mit dem der Algorithmus lernt, auf Gefängnisinsassen basiert. Und hier sitzen überproportional afroamerikanische US-Bürger ein. Das ist weder fair, noch richtig. In der Medizin wäre so etwas potenziell gesundheitsschädigend.

Mit den Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) bieten die gesetzlichen Krankenkassen ihren Versicherten eine neue Versorgungsform. Was hat es damit auf sich?
Benjamin Westerhoff: DiGAs sind sogenannte Medizinprodukte niedriger Risikoklassen, die einen speziellen Zulassungsprozess des Bundesamtes für Medizinprodukte und Arzneimittel (BfArM) durchlaufen haben.

Es sind also nicht irgendwelche Anwendungen. Sie müssen über geeignete Studien nachweisen, dass sie einen positiven Versorgungseffekt erzielen. Wir sehen die Entwicklung positiv, aber auch hier gibt es ethische Fragen.

Ist es beispielsweise fair, wenn eine Anwendung – ganz gleich wie gut sie ist – teurer ist als ein Therapeut, beispielsweise in der Psycho- oder Physiotherapie? DiGAs können einen Beitrag zu besserer Versorgung leisten. Ihren Platz im Therapiespektrum werden sie über die Zeit noch finden.

Wie kann sichergestellt werden, dass solche Neuerungen das Gesundheitssystem nicht mehr belasten als sie nutzen?
Benjamin Westerhoff: Als Ökonom vertraue ich grundsätzlich auf die Kräfte des Marktes. Lösungen und Angebote, die keinen Nutzen stiften, werden sich nicht nachhaltig durchsetzen. Da Nachfrager (Patientinnen und Patienten) und die Zahlenden (Solidargemeinschaften) allerdings nicht deckungsgleich sind, greift das Selbstregulativ des Marktes nur bedingt und es gibt immer auch das Risiko eines Marktversagens.

Hier müssen wir deshalb in der Gestaltung der Regeln unseres Gesundheitsmarktes darauf achten, dass er robust gegen Angebote ist, die eben keinen adäquaten Nutzen stiften oder überzogen teuer sind. Die ethische Frage der Preise liegt in der Opportunität, also dem entgangenen Nutzen an anderer Stelle. Ein Euro, der für etwas Unwirksames ausgegeben worden ist, kann nicht mehr in etwas Sinnstiftendes investiert werden.