Ein Mann öffnet nachts den Kühlschrank und isst dabei ein Stück Pizza.
Gendermedizin

Essstörungen: Immer mehr Männer sind betroffen

Lesedauer unter 9 Minuten

Redaktion

  • Dr. rer. nat. Dennis Herrmann (für TAKEPART Media + Science GmbH)

Qualitätssicherung

  • Dr. med. Ursula Marschall (Fachärztin für Anästhesie, Barmer)

Essstörungen können jeden treffen, es sind keine Erkrankungen kleiner, scharf definierter Gruppen. Das Klischee, dass vor allem Mädchen oder Models unter Erkrankungen wie Magersucht oder Bulimie leiden, stimmt nicht. Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft können betroffen sein, auch Jungen und Männer erkranken immer häufiger. Zwar erkranken tatsächlich mehr Frauen als Männer im Laufe ihres Lebens an einer Essstörung, die Unterschiede sind allerdings nicht so groß, wie man gemeinhin glaubt. Manche Untersuchungen mit US-amerikanischen Studierenden deuten sogar darauf hin, dass es bezüglich der Häufigkeit kaum (noch) Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt.

Welche Essstörungen gibt es?

Zu den Essstörungen zählen im Wesentlichen die Bulimie und die Magersucht (Anorexie), zudem leidet ein Großteil der Betroffenen auch unter der Binge-Eating-Störung. Vielfach treten Essstörungen auch als Mischformen auf und werden als „nicht näher bezeichnete Essstörungen“ definiert. Hierzu zählen auch Essstörungen, bei denen nicht alle typischen Merkmale der Hauptstörungsgruppen vorliegen. 

Bei der Bulimie – auch Ess-Brech-Sucht genannt – essen die Erkrankten große Mengen Nahrung auf einmal, oft heimlich und mit dem Gefühl, keine Kontrolle zu haben. Aus Scham und Angst davor, zuzunehmen, ergreifen sie anschließend Gegenmaßnahmen. Zu diesen gehört das Erbrechen, Essensentzug, der Gebrauch von Abführmitteln oder übermäßiger Sport.

Die Anorexie – oder Magersucht – zeichnet sich hauptsächlich durch das Ziel aus, ein möglichst geringes Körpergewicht erlangen zu wollen. Man unterscheidet zwei Typen: Der „restriktive Typ“ fastet vor allem, isst so wenig wie möglich und macht viel Sport. Der „Binge-Eating/Purging-Typ“ dagegen hat Essanfälle, die er mit Erbrechen und Missbrauch von Abführmitteln ausgleichen will.

Menschen mit einer Binge-Eating-Störung ernähren sich über mehrere Tage einer Woche hinweg normal, jedoch kommt es regelmäßig zu Essanfällen, die sich stark durch einen gefühlten Kontrollverlust auszeichnen. In der Regel nehmen Betroffene keine Abführmittel und erbrechen sich auch nicht, sodass es bei dieser Form der Essstörung zu einer Gewichtszunahme kommen kann. 

Essstörungen zählen daher zu den psychosomatischen Erkrankungen, da sie sich sowohl seelisch als auch körperlich auswirken und zudem auch einen Suchtcharakter haben. Für alle Arten von Essstörungen gilt, dass man sie Menschen nicht ansehen muss. Wer an einer leidet, kann unter-, normal- oder übergewichtig sein. Häufig bestehen auch weitere Erkrankungen, die sehr belastend sind, wie zum Beispiel Depressionen, Zwangserkrankungen oder Angststörungen.

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Wie häufig sind Essstörungen?

Je nach Quelle unterscheiden sich die Zahlen zur Häufigkeit von Essstörungen zum Teil deutlich. Das liegt daran, dass sich die jeweils untersuchten Altersgruppen und auch Diagnosekriterien unterscheiden können. Man geht davon aus, dass etwa 61 von 1.000 Frauen und 18 von 1.000 Männern in ihrem Leben an einer Essstörung erkranken. Die Binge-Eating-Störung ist bei beiden Gruppen am häufigsten. Frauen erkranken dagegen 7-mal häufiger als Männer an Magersucht.

Andere Quellen schätzen, dass zehn bis 25 Prozent der Menschen, die wegen Anorexie oder Bulimie behandelt werden, Jungen und Männer sind. Ihr Anteil an Betroffenen mit Binge-Eating-Störung wird auf 30 bis 40 Prozent geschätzt.

Deutlicher Anstieg bei Männern

Es gibt also geschlechtsspezifische Unterschiede, wie häufig Männer und Frauen an Essstörungen erkranken. Allerdings haben Männer eine höhere Hemmschwelle, sich eine als „weiblich“ angesehene Krankheit einzugestehen und Hilfe zu suchen, was dazu beitragen kann, dass diese bei Männern seltener und auch später diagnostiziert wird.

In den vergangenen 20 Jahren erkranken jedoch auch Männer immer häufiger. Laut einer US-amerikanischen Studie hat sich die Zahl der männlichen Studenten mit einer Essstörung zwischen den Jahren 1995 und 2008 verdreifacht. Bei den Studentinnen ist die Häufigkeit von knapp jeder vierten auf fast jede dritte Frau gestiegen. Auch eine Hochrechnung der Barmer zeigt einen deutlichen Anstieg an Essstörungen bei Männern und Frauen um 13 Prozent innerhalb von vier Jahren.

Werden die Symptome einer Essstörung wie selbst herbeigeführtes Erbrechen, Essanfälle, Gebrauch von Abführmitteln oder exzessiver Sport betrachtet, kommt eine weitere Studie zu dem überraschenden Ergebnis: Unter Jugendlichen sind diese Störungen unter Jungen und Mädchen gleichermaßen häufig.

Diese Anstiege sind besorgniserregend, zumal von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. In besonderem Maße ist dies für Männer der Fall, da für sie die Erkenntnis, an einer „Frauenkrankheit“ zu leiden, mit besonders viel Scham verbunden ist und sie somit den Gang zum Arzt oder zur Ärztin scheuen.

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Unterschiede zwischen Frauen und Männern bei Essstörungen

Eine Frau sitzt vor ihrem Kühlschrank und trinkt aus einer Flasche.

Essstörungen haben meist nicht nur einen Auslöser – weder bei Frauen noch bei Männern. Anorexie, Bulimie und die Binge-Eating-Störung sind psychosomatische Erkrankungen und haben einen Suchtcharakter. Dies bedeutet, dass seelische Ursachen auch zu körperlichen Auswirkungen bis hin zu Schädigungen führen können. 

Das Verhalten bei einer Essstörung ist zwanghaft geworden, man hat keine Kontrolle mehr darüber. Es kann jahrelang oder auch ein Leben lang andauern. Die Gründe für eine Essstörung sind individuell und vielfältig. Zum Beispiel können traumatische Erlebnisse, familiäre Konflikte oder schulische Probleme zu inneren Konflikten wie einem geringen Selbstwertgefühl, Bindungsängsten oder Unsicherheiten mit der eigenen Identität und einer verzerrten Körperwahrnehmung führen, die dann die Essstörung nach sich ziehen.

Welche Rolle spielen Körperideale?

Es ist unbestritten, dass die Medien und Fitness-Trends in den vergangenen 20 Jahren dazu beigetragen haben, ein extrem idealisiertes Körperbild zu schaffen und zu verbreiten. Auf Instagram, TikTok und Co. sehen vor allem junge Menschen ständig idealisierte Körper, die oftmals digital bearbeitet und so vollends unerreichbar sind. Frauen und Männer stehen unter hohem Druck, diesem Körperideal zu entsprechen. In Untersuchungen wirkte sich der Anblick „idealer“ Männerkörper beispielsweise direkt negativ auf die Stimmung männlicher Probanden aus. 

Wie kann sich Sport auf Essgewohnheiten auswirken?

Bewegung und Sport sind wichtige Bestandteile für ein gesundes und glückliches Leben. Wer sich in gesundem Maß bewegt, fühlt sich insgesamt leistungsfähiger und beugt vielen Erkrankungen vor. Im Kontext von Essstörungen gibt es allerdings auch zwei Dinge zu bedenken:

  1. Einige Sportarten erfordern eine gewisse Fokussierung auf den Körper und das Gewicht und stellen so ein Risiko für Essstörungen dar. Beim Boxen etwa wird in Gewichtsklassen aufgeteilt, für Jockeys bei Pferderennen ist ein möglichst leichtes Gewicht von Vorteil. Bei Sportarten wie Ballett, Sportgymnastik, Synchronschwimmen oder Kunstturnen besteht hoher Druck, viel Kraft mit möglichst geringem Körpergewicht zu haben. In diesen ästhetisch geprägten Sportarten hatten 42 Prozent der Sportlerinnen eine Magersucht.
  2. Eine weitere Störung, die hier eine Rolle spielt, ist die Muskeldysmorphie, auch Biggerexie genannt. Bei dieser als spezifisch männlich angesehenen Störung ist die Sicht auf den eigenen Körper verzerrt – er wird als zu schwach und zu wenig muskulös angesehen. In der Folge trainieren Betroffene exzessiv und entwickeln ein gestörtes Essverhalten. Als Ursache gelten intensive negative Gefühle, Scham, Selbstabwertung und Depressionen. Unter Männern ist Muskeldysmorphie vermutlich ähnlich häufig wie Anorexie bei Frauen. Man schätzt, dass einer von zehn männlichen Bodybuildern eine Muskeldysmorphie hat.

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Folgen von Essstörungen

Nehmen Menschen durch die Nahrung zu wenig Energie, Nährstoffe und Vitamine zu sich, kann das schwere körperliche Folgen haben. Zu diesen gehört eine verminderte Knochendichte, Haarausfall, niedriger Blutdruck, Ausfall der Regelblutung oder Potenzprobleme. Häufiges Erbrechen kann zu Zahnschäden, einem gestörten Elektrolyt- und Wasserhaushalt und einer Störung der Nierenfunktion führen. 

Ähnliche Folgen hat der Missbrauch von Abführmitteln. Diese Folgeerkrankungen sind nicht zu unterschätzen: Die Wahrscheinlichkeit, an den Folgen von Essstörungen – insbesondere von Anorexie – zu versterben, ist unter den psychischen Krankheiten am höchsten. Die Folgen von Essstörungen sind oft schwerwiegende Krankheitsverläufe, die sogar lebensbedrohlich sein können.

Anzeichen von Essstörungen sind sehr ernst zu nehmen. Daher ist es für Betroffene und nahestehende Personen wichtig, bei einem Verdacht sofort Hilfe bei Experten zu suchen. Denn je früher eine Erkrankung erkannt wird, desto besser kann man sie behandeln. Vermuten Sie, dass eine Essstörung vorliegen könnte, so vertrauen Sie sich einer nahestehenden Personen an und nehmen Sie Kontakt zu einer Kinder- und Jugendarztpraxis oder Hausarztpraxis und einer Beratungsstelle auf. Auf der Themenseite zu Essstörungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Servicebereich des Bundes Fachverbands Essstörungen e.V. und bei der Selbsthilfeorganisation ANAD e.V. finden Sie viele Unterstützungsangebote.

Essstörungen: Wo finde ich Hilfe?

Wenn Sie in Sorge sind, dass eine Freundin, ein Freund oder Ihr Kind eine Essstörung hat, ist es äußerst wichtig, so behutsam und einfühlsam wie möglich vorzugehen. Die Betroffenen empfinden häufig große Scham, Schuldgefühle und haben große Angst davor, dass ihnen eine ordnende Routine entzogen werden wird. Andererseits haben sie vielleicht schon eine längere Leidenszeit hinter sich und sehnen sich danach, mit ihren Problemen wahrgenommen zu werden.

Es kann sinnvoll sein, zunächst auf Angebote für Information und Beratung hinzuweisen und die Person zu animieren, sich selbst ein Bild zu machen. Entscheidet sich eine Person von selbst für eine professionelle Unterstützung, stehen die Chancen für einen Behandlungserfolg deutlich besser. Sowohl ambulante als auch tagesklinische und stationäre Behandlungen sind möglich, zudem ist eine Nachsorge sehr wichtig, um das Risiko von Rückfällen zu minimieren.

Beim Umgang mit Jungen und Männern ist es zudem wichtig klarzustellen, dass nicht nur Frauen Essstörungen entwickeln können. Betroffenen sollte Akzeptanz und Verständnis gezeigt werden. Es wird empfohlen, Motivation für eine Behandlung ruhig und geduldig aufzubauen.

Während in vielen Bereichen der Medizin zu wenig Augenmerk auf die Unterschiede zwischen den Geschlechtern gelegt wird – sei es hinsichtlich der Symptome, der Behandlung oder der klinischen Forschung –, so ist bei den Essstörungen eher das Gegenteil der Fall. Hier ist es hilfreich, auf Gemeinsamkeiten zu achten, denn im Wesentlichen ähneln sich die Gründe für eine Essstörung: zugrunde liegende psychische Probleme, die sich über ein verzerrtes Bild des eigenen Körpers und das Anstreben eines Idealbildes Ausdruck verschaffen. Auch Ärztinnen und Ärzte neigen dazu, Essstörungen eher bei Frauen zu vermuten. Daher kann eine Sensibilisierung des ärztlichen Personals für die steigenden Fallzahlen unter Jungen und Männern den Betroffenen helfen.

Es gab Anorexie schon früher: Die Geschichte der Essstörungen

Bereits 1689 beschreibt der Londoner Arzt Richard Morton eine Krankheit, bei der ein 16-Jähriger infolge nervöser Unruhe und Ängstlichkeit drastische Gewichtsverluste erlebte. Ein Jahrhundert später beschreibt William Withey Gull einen Zustand, den er Anorexia nervosa nennt und der in seinen Symptomen mit der heutigen Krankheit übereinstimmt. Nur gelegentlich, schreibt Gull, habe er diesen Zustand bei jungen Männern gesehen.

Essstörungen sind also schon lange bekannt – und eher mit jungen Frauen verbunden. Auch in Kunst und Literatur finden sich Geschichten von Essstörungen, etwa beim „Suppenkasper“ von Heinrich Hoffmann (1845) oder bei Franz Kafkas „Ein Hungerkünstler“ (1922).

In den 1960er- und 70er-Jahren brachte eine Sensibilisierung für weibliche Gesundheit das Thema Essstörungen in den Vordergrund. Eine deutliche Zunahme unter jungen Frauen in den USA verfestigte die Stellung als „Frauenkrankheit“ und wissenschaftliche Studien widmeten sich ihnen verstärkt. Aber erst seit etwa 20 Jahren bezieht die Forschung auch Männer mit ein.

Literatur und weiterführende Informationen

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