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Zukunft des Gesundheitswesens

Transparenz in der Arzneimitteltherapie: Viele Todesfälle sind vermeidbar

Lesedauer unter 6 Minuten

Autor

  • Prof. Dr. Christoph Straub (Vorstandsvorsitzender der Barmer)

Ärztinnen und Ärzte haben auf wichtige Patientendaten oft keinen Zugriff. Mehr Transparenz könnte jedes Jahr bis zu 65.000 Todesfälle durch Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten vermeiden.

Berlin, Juni 2023 – Die Therapie mit Arzneimitteln ist eine wesentliche Grundlage in der Behandlung von Erkrankungen und in sehr vielen Situationen ein Segen. Arzneimittel lindern Schmerzen, heilen Krankheiten und verbessern die Lebensqualität bei chronischen Erkrankungen. Aber Arzneimittel haben auch unerwünschte Wirkungen und können schwere gesundheitliche Schäden verursachen.

Unüberschaubare Anzahl möglicher Wechselwirkungen

113 Arzneimittelpackungen mit 20 verschiedenen Wirkstoffen erhält ein Mensch im Alter von über 40 in Deutschland innerhalb von zehn Jahren. Das sind wohlgemerkt Durchschnittszahlen. Schaut man sich nur die oberen zehn Prozent an, also Patientinnen und Patienten mit mehreren, oft chronischen Krankheiten, dann liegen wir bei 270 Packungen und 38 verschiedenen Wirkstoffen. Jedes dieser Medikamente hat Nebenwirkungen. Werden mehrere Arzneimittel gleichzeitig eingenommen, kann es zudem zu Wechselwirkungen kommen.

Ärztinnen und Ärzte wissen oft nicht, welche Medikamente ihre Patientinnen und Patienten bereits einnehmen und welche Vorerkrankungen vorliegen. Denn Patientendaten werden in Deutschland nirgends zusammengeführt. Sie liegen verstreut in Datenbanken von Arztpraxen, Apotheken, Krankenhäusern, Pflegedienstleistern oder Krankenkassen.

Viele Frauen wissen, dass manche Antibiotika oder auch Johanniskrautpräparate die Wirkung der Pille hemmen. Das ist überschaubar, hier geht es um die Kombination von nur zwei Medikamenten. Viele Patientinnen und Patienten nehmen aber drei, fünf oder noch mehr Arzneimittel gleichzeitig ein. Die BARMER hat ausgewertet, dass den bei ihr Versicherten rund 1.800 unterschiedliche Wirkstoffe in einem Jahr verschrieben werden. Und daraus ergeben sich 450 Tausend verschiedene Kombinationen, in denen diese Wirkstoffe eingenommen werden.

Ein Mann guckt skeptisch auf zwei Medikamentendosen im Badezimmer

Wichtige Informationen für die Therapie fehlen

Die bloße Anzahl möglicher Wirkstoffkombinationen und Wechselwirkungen ist für einen Menschen nicht mehr zu überblicken. Das ließe sich aber durch digitale Wechselwirkungschecks lösen. Viel problematischer ist die fehlende Transparenz. Ärztinnen und Ärzte wissen oft nicht, welche Medikamente ihre Patientinnen und Patienten bereits einnehmen und welche Vorerkrankungen vorliegen. Denn Patientendaten werden in Deutschland nirgends zusammengeführt. Sie liegen verstreut in Datenbanken von Arztpraxen, Apotheken, Krankenhäusern, Pflegedienstleistern oder Krankenkassen.

Behandlungshistorie in der elektronischen Patientenakte

Die Barmer hat die bei AdAM erprobte Technologie in die elektronische Patientenakte (ePA) integriert, die bei der BARMER eCare heißt. Seit März können Barmer-Versicherte mit wenigen Klicks die automatische Erstellung einer Behandlungshistorie in der eCare aktivieren.

Sie enthält eine chronologische und thematische Zusammenfassung der verschriebenen Medikamente, Heil- und Hilfsmittel sowie der Diagnosen und Krankenhausaufenthalte der vergangenen drei Jahre. 

Die Historie wird alle sechs Wochen aktualisiert und kann von Ärztinnen und Ärzten nach Freigabe über die Praxissoftware abgerufen werden.

Ich habe selbst als Arzt immer wieder die Folgen dieser Intransparenz erlebt. Das war in den 90er Jahren, aber die Situation ist bis heute unverändert. Ein typisches Beispiel: Ich nehme eine ältere Dame im Krankenhaus auf und frage, welche Medikamente sie einnimmt. Sie öffnet ihre Handtasche und da kommen drei Packungen harntreibender Mittel zum Vorschein, sogenannte Diuretika. Die wurden ihr in drei verschiedenen Praxen verschrieben, offenbar wussten die behandelnden Ärzte nichts voneinander. Und die Patientin nimmt das alles gleichzeitig ein. Das ist nicht nur sinnlos, sondern gefährlich.

Risiken in der Schwangerschaft

Nicht nur ältere oder chronisch erkrankte Menschen sind durch Neben- und Wechselwirkungen gefährdet. Ein großes Risiko besteht auch für Schwangere und ihre ungeborenen Kinder. Eine BARMER-Analyse hat gezeigt, dass rund 30 Prozent der Frauen vor einer Schwangerschaft regelmäßig Arzneimittel einnehmen, darunter auch Medikamente, die den Fötus schädigen können.

Eine Frau liegt schlafend im Bett, vor ihr liegt ein umgekippter Becher mit Tabletten.

Ärztinnen und Ärzte passen die Medikation während einer Schwangerschaft natürlich an. Doch unsere Analyse hat gezeigt, dass selbst besonders kritische Präparate nur in 30 bis 60 Prozent der Fälle abgesetzt werden.

Oft liegt das daran, dass mehrere Ärztinnen oder Ärzte eine Frau behandeln, aber niemand über alle relevanten Informationen verfügt. Der Gynäkologe weiß möglicherweise nichts von einer vorhandenen Epilepsie oder rheumatischen Erkrankung, die Neurologin oder Rheumatologin weiß umgekehrt nichts von der geplanten Schwangerschaft. Und deshalb kommt es immer wieder vor, dass eine Schwangere mit einem für ihr ungeborenes Kind hochriskanten Medikament behandelt wird, obwohl es Alternativen gäbe.

Jährlich könnten bis zu 65.000 Todesfälle vermieden werden

Ärztinnen und Ärzte brauchen mehr Transparenz und einen leichten Zugang zu vorhandenen Patientendaten. Das ist der erste und wichtigste Schritt, um vermeidbare Risiken durch die Einnahme von Arzneimitteln zu reduzieren. In einem Projekt gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Westfalen-Lippe hat die BARMER getestet, was es bringt, wenn wir Hausarztpraxen die Daten zur Verfügung stellen, die standardmäßig bei der Krankenkasse gespeichert sind.

In eine offene Hand werden Tabletten gekippt.

An diesem Projekt namens AdAM haben sich fast 1.000 Hausärztinnen und -ärzte und über 12.000 Patientinnen und Patienten beteiligt. Mit Einverständnis der Patienten erhielt die Hausarztpraxis Informationen zur medizinischen Vorgeschichte, zu allen Arzneimitteln und allen Diagnosen auf Basis der Abrechnungsdaten der Krankenkasse. Zudem wurden vermeidbare Risiken wie Wechselwirkungen von Arzneimitteln automatisch digital überprüft. Das Ergebnis: Das Sterberisiko der
Patienten verringerte sich signifikant. Hochgerechnet auf Deutschland würde der mit AdAM erprobte Ansatz jährlich bis zu 65.000 Todesfälle vermeiden.

3,7 Millionen Arbeitsstunden für die Dokumentation von Medikamenten

Die Erfahrungen aus AdAM überträgt die BARMER nun in zwei weiteren Projekten auf Krankenhäuser und Apotheken und entwickelt den Ansatz dabei weiter. Wir testen in den Apotheken jetzt auch die automatische Dokumentation der abgegebenen Arzneimittel. So könnten auch Arzneimittel in einer Behandlungshistorie erfasst werden, die ohne Rezept frei verkäuflich sind, aber in Kombination mit anderen Medikamenten gefährlich werden können.

Eine automatische Erfassung spart zudem sehr viel Zeit, denn die manuelle Dokumentation jedes Arzneimittels auf einem Medikationsplan würde hochgerechnet auf ein Jahr 3,7 Millionen Arbeitsstunden verursachen.

Zweckbestimmung der Abrechnungsdaten sollte erweitert werden

Es würde die Therapiesicherheit wesentlich stärken, Ärztinnen und Ärzten den Zugang zu bereits vorhandenen Informationen über Ihre Patientinnen und Patienten zu ermöglichen. Die digitale Überprüfung von Medikationsrisiken oder eine automatisierte und vollständige Erfassung therapierelevanter Informationen bei der Abgabe von Medikamenten würde die Sicherheit noch weiter steigern.

Durch mehr Transparenz in der Arzneimitteltherapie wären viele Todesfälle vermeidbar. Die Bereitstellung von Krankenkassendaten für Ärztinnen und Ärzte ist eine effiziente, sofort verfügbare und erprobte Lösung und sollte Teil der Routineversorgung werden.

Das Innovationsprojekt AdAM hat gezeigt, dass durch mehr Transparenz viele Todesfälle vermeidbar wären. Die Bereitstellung von Krankenkassendaten für Ärztinnen und Ärzte ist eine effiziente, sofort verfügbare und erprobte Lösung und sollte Teil der Routineversorgung werden. Bisher lässt sich das aber nicht deutschlandweit umsetzen, denn die Daten haben eine gesetzlich festgelegte Zweckbestimmung. Und dazu zählt nicht die Unterstützung der Arzneimitteltherapie.

Professor Dr. Christoph Straub ist Vorstandsvorsitzender der Barmer.

Prof. Dr. Christoph Straub ist Vorstandsvorsitzender der Barmer.

Deshalb sollten Politik und zuständige Institutionen jetzt die nötigen Voraussetzungen schaffen: Die Zweckbestimmung der Abrechnungsdaten der Krankenkassen muss erweitert werden, damit diese auch zur Behandlungsunterstützung genutzt werden dürfen. Natürlich immer unter der Voraussetzung, dass die Patientin oder der Patient zustimmt. Zudem braucht es einheitliche Standards für die digitale Erfassung der Arzneimitteltherapie inklusive der Dosierung, die gleichermaßen für Krankenhäuser, Arztpraxen und Apotheken gelten.

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Literatur und weiterführende Informationen