Junger Mann sitzt am Schreibtisch und hält sich den schmerzenden Nacken
Transparenzbericht

Multimodale Schmerztherapie als ganzheitlicher Ansatz gegen chronische Schmerzen

Lesedauer unter 11 Minuten

Redaktion

  • Jessica Braun

Qualitätssicherung

  • Dr. med. Ursula Marschall (Fachärztin für Anästhesie, Schmerztherapeutin)

Schmerzen zählen zu den häufigsten Leiden. Werden sie chronisch, beeinträchtigen sie die Lebensqualität oft über Jahre. Die Barmer erprobt deshalb neue Ansätze in der Schmerztherapie. Denn eine ganzheitliche Herangehensweise kann chronische Schmerzen verhindern oder die Beschwerden lindern.

Es bohrt im unteren Rücken, zieht im Nacken oder dröhnt im Kopf: Laut der Deutschen Schmerzgesellschaft lebt in jedem dritten Haushalt in Europa eine Person, die unter Schmerzen leidet. Diese sind immer lästig, oft aber auch qualvoll oder zermürbend. Wer sie verspürt, will sie deshalb in der Regel schnell wieder loswerden. Doch Schmerzen sind eine Sinneswahrnehmung und ähnlich überlebenswichtig wie Durst oder Frieren. Sie warnen, wenn potentielle Schäden drohen oder etwas im Körper im Argen liegt. Sei es von außen, zum Beispiel, wenn die Hand eine heiße Herdplatte streift, oder von innen, wenn beispielsweise die Harnwege entzündet sind. So verhindern sie, dass Gewebe geschädigt wird oder sorgen dafür, dass die betroffene Person sich schont, um weiteren Schaden zu vermeiden. „Haben wir uns den Finger verbrannt, fassen wir damit erstmal nichts mehr an, bis die Verletzung wieder geheilt und der Schmerz weg ist“, sagt Dr. Ursula Marschall, leitende Medizinerin der BARMER. Als Fachärztin für Anästhesie und Schmerztherapeutin hat sie selbst lange Jahre eine Schmerzambulanz geleitet. „Schmerzen sind auch Selbstschutz“, sagt sie.

Chronische Schmerzen sind weit verbreitet und beeinträchtigen das Leben massiv

Eine Frau hält sich vor Schmerzen den Kiefer und ihr Mann steht besorgt hinter ihr

Schmerzen können sich aber auch verselbständigen. In der Regel klingen sie nach einigen Tagen oder Wochen ab. Tun sie das nicht, entwickeln sie ein Eigenleben. „Chronische Schmerzen sind eine eigenständige Erkrankung“, sagt Ursula Marschall. „Allein in Deutschland leiden mehr als 12 Millionen Menschen an einer Form von chronischem Schmerz. Und dieser beeinträchtigt das Leben massiv.“ Weil er weltweit so viele betrifft und das Leben so nachhaltig aus den Angeln hebt, gehört chronischer Schmerz zu den kostspieligsten Erkrankungen. Was zu Wenige wissen: Der quälende Dauerzustand ließe sich bei rechtzeitiger Behandlung durchaus vermeiden. „Haben Schmerzen keine eindeutige körperliche Ursache und halten länger als sechs Monate an, sprechen wir von einer Chronifizierung“, sagt Ursula Marschall. „Zu dieser muss es aber nicht zwangsläufig kommen.“

Schmerzen ohne organische Ursache durch Veränderungen in den Nervenzellen

Um das zu verstehen, hilft es, sich bewusst zu machen, wie das Schmerzsystem funktioniert. Wird dem Körper Schaden zugefügt – zum Beispiel, weil man von einem Insekt gestochen wird –, registrieren das spezielle Schmerzrezeptoren in der Haut, die sogenannten Nozizeptoren. Diese reagieren auf Verletzungen, aber auch auf Kälte, Hitze, Strom, chemische Reize oder hohen Druck. Derart stimuliert, senden sie über lange Nervenfasern elektrische Impulse ins Rückenmark. Von dort leiten Nervenzellen die eingehenden Informationen weiter an das Gehirn. Dort werden diese weiterbearbeitet. Der verarbeitende Hirnbereich steht in engem Kontakt mit dem limbischen System. Hier entstehen unsere Emotionen. Durch die intensive Verbindung kullern die Tränen, wenn uns etwas weh tut.

Die involvierten Nervenzellen leiten eingehende Schmerzreize nicht nur weiter. Abhängig zum Beispiel von früheren Schmerzerfahrungen, können sie die Intensität und Dauer der Impulse auch verstärken oder verringern. Chronischer Schmerz entsteht, wenn sich die Erbinformation in diesen Nervenzellen verändert. Betroffene empfinden dann Schmerzen, obwohl die eigentliche Ursache längst verheilt ist. „Werden akute Schmerzen nicht ausreichend behandelt, kann sich so ein Schmerzgedächtnis entwickeln“, sagt Ursula Marschall.

Schmerzen nicht einfach aushalten, sondern möglichst schnell behandeln

Porträt-Foto Sebastian Alsleben

Der Solinger Hausarzt Sebastian Alsleben

Das kennt der Solinger Hausarzt Sebastian Alsleben aus der Praxis. Zu ihm kommen beispielsweise Menschen mit Kopfschmerzen, solchen im Magen-Darm-Bereich oder dem Bewegungsapparat. Manche dieser Patientinnen und Patienten ließen nach der ersten Diagnose und Behandlung zu viel Zeit verstreichen, sagt er: „Sie warten wochenlang auf Besserung, anstatt mich nochmal aufzusuchen. Nach drei Monaten haben sich die Schmerzen aber vielleicht schon verselbständigt.“ 

Alsleben ist nicht nur Hausarzt, sondern auch ein sogenannter Medfluencer: Er erklärt in den Sozialen Medien medizinische Zusammenhänge. Alsleben: „Bei Schmerzen gilt: Je früher therapiert wird, desto besser stehen die Heilungschancen.“

Vorbereitung auf den Besuch in der Arztpraxis: Kenne deinen Schmerz

Als Vorbereitung für den Besuch in der Praxis empfiehlt Sebastian Alsleben einen Selbst-Check. Fragen, die man sich stellen solle: „Wo genau sitzt der Schmerz? Wie stark ist er? Wie fühlt er sich an: zieht er, sticht er? Strahlt er vielleicht aus? Gab es einen konkreten Auslöser? Wie lange spüre ich ihn schon?“ Genauso wichtig sei ein ganzheitlicher Blick auf die eigene Gesundheit: „Wie geht es mir derzeit? Habe ich mehr Stress als sonst? Schlafe ich gut? Bewege ich mich ausreichend? Ernähre ich mich vielleicht schlechter als sonst?“ Die entsprechenden Informationen parat zu haben helfe der Ärztin oder dem Arzt dabei, die bestmögliche Therapie zu finden.

Stress oder Depression als Ursache chronischer Schmerzen

Egal, ob beim Hausarzt oder der Orthopädin – wer über Schmerzen klagt, dem wird in der Praxis üblicherweise folgende Frage gestellt: „Wie stark tut es weh?“ Sie klingt erstmal einfach, ist aber schwer zu beantworten. Schließlich möchte niemand den Anschein erwecken, zu übertreiben. Die Ärztin oder der Arzt sollen den Schmerz aber schon ernst genug nehmen, um eine entsprechende Behandlung einzuleiten. „Schmerzen sind sehr individuell und für viele Menschen schwer in Worte zu fassen“, sagt Alsleben. Denn ihr Ursprung ist nicht nur rein physisch: Auch psychologische, emotionale und soziale Faktoren beeinflussen, wie ein Mensch Schmerzen wahrnimmt. „Das kann sogar von Tag zu Tag verschieden sein“, so der Hausarzt. „Schmerz hat immer auch etwas mit Emotionen zu tun. Körperlichen Schmerz ohne seelischen gibt es nicht“, bestätigt Ursula Marschall. Sichtbar macht dies der Schmerz-Atlas des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung (bifg): Demnach leiden in Deutschland 39 Prozent der Personen mit chronischem Schmerz zugleich an einer Depression.

Schmerztherapie braucht Zeit

Ein Mann sitzt im Schneidersitz mit geschlossenen Augen auf dem Fußboden

Um das subjektive Empfinden objektiv beurteilen zu können, hat sich in der Schmerztherapie die Schmerzskala von 1 – 10 durchgesetzt. Die 1 steht in diesem Fall für keinen Schmerz, die 10 für den schlimmsten vorstellbaren. Sich zwischen diesen Zahlen zu verorten, ist nicht ganz einfach. Um zu verstehen, was ein Mensch gerade empfindet, genügen diese alleine auch nicht. Ärztin oder Arzt sollten eigentlich die Vorgeschichte und die aktuellen Lebensumstände besprechen. Hat die Person Stress im Beruf? Gibt es Konflikte in der Familie? Trauer, Verlust, Beziehungsprobleme? Doch dafür fehle zu oft die Zeit, sagt Sebastian Alsleben. Patientinnen und Patienten wiederum betrachten ihre Schmerzen häufig als ausschließlich körperliches Problem. Sie kommen gar nicht auf die Idee, dass auch psychische Beeinträchtigungen das Schmerzerleben beeinflussen. Darunter leidet dann unter Umständen die Verordnung: Die Patientin bekommt das falsche Schmerzmittel oder gar keines, der Patient soll „im Bett bleiben“ obwohl Bewegung in Maßen gutgetan hätte. Eigentlich therapierbare Schmerzen entwickeln sich dadurch vielleicht erst zu einem langfristigen Problem.

Das bestehende Vergütungssystem setze noch zu sehr auf invasive Maßnahmen, sagt Ursula Marschall. „Eine OP wird sehr hoch vergütet, weil sie einen großen Aufwand bedeutet. Was wir in der Schmerztherapie jedoch benötigen, sind Zeit für das Gespräch und psychologisch geschulte Fachkräfte, die Zusammenhänge zwischen Körper und Psyche aufzeigen und gemeinsame Wege entwickeln helfen, wie der Schmerz bewältigt werden kann. Zusätzlich gehören in das Schmerzteam auch Physiotherapeutinnen und -theraputen, die dazu beitragen, dass auch die Muskulatur auftrainiert wird.“ Nicht immer sind Ärztinnen und Ärzte ausreichend für die Schmerztherapie qualifiziert. Spezialisierte Schmerztherapeutinnen und –therapeuten hingegen gibt es zu wenige. Ihre Wartezeiten sind lang.

Ganzheitlich ansetzen: die multimodale Schmerztherapie

Schnell helfen, damit Schmerzen erst gar nicht chronisch werden: Die Barmer verfolgt diesen Ansatz in verschiedenen Projekten des Innovationsfonds. Dieser Fonds wird von den gesetzlichen Krankenkassen gemeinsam finanziert, um neuartige Therapieverfahren zu testen. Jedes dieser Forschungsprojekte muss sich innerhalb von drei oder vier Jahren bewähren. Ist es erfolgreich, kann es zum Versorgungsstandard werden. Dann profitieren alle gesetzlich Versicherten davon.

Eines der jüngsten dieser bundesweiten Forschungsprojekte ist die inzwischen abgeschlossene Studie PAIN2020. Die Studie, an der die Barmer als einzige Krankenkasse beteiligt war, wurde in Zusammenarbeit mit der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. durchgeführt. PAIN2020 erprobte das sogenannte multimodale Assessment: Um einen ganzheitlichen Blick auf die Beschwerden der Teilnehmenden zu bekommen, arbeiten Fachleute aus Medizin, Physiotherapie und Psychologie dafür im Team. Gemeinsam erfassen sie die Symptome: Gibt es zum Beispiel Hinweise auf Osteoporose oder Rheuma? Zeigt die Person Anzeichen einer Depression? Sind vielleicht die Muskeln durch zu wenig Bewegung verkürzt? Basierend auf den Erkenntnissen entwickelt das Team dann zusammen einen Behandlungsplan.

Bisher gibt es nur wenige Krankenhäuser, die eine multimodale Schmerztherapie anbieten

Dr. Ursula Marschall

Dr. Ursula Marschall ist die leitende Medizinerin bei der Barmer.

Dieser ganzheitliche Ansatz zeigte gute Ergebnisse, sagt Ursula Marschall: „Es fehlt noch die abschließende Bewertung, um dieses System in die Regelversorgung zu überführen.“ Versicherte der Barmer profitieren aber heute schon von dieser Art der Untersuchung – dank eines sogenannten Selektivvertrags. Die Selektivverträge einer Krankenkasse ermöglichen ihren Versicherten Behandlungen, die nicht zur Regelversorgung gehören, also nicht oder noch nicht von allen Kassen übernommen werden. Das neue Angebot heißt A-IMA. Das Kürzel steht für ambulantes interdisziplinäres multimodales Assessment. Es richtet sich an Versicherte der Barmer, die über 18 Jahre alt sind und deren Schmerzen mindestens sechs Wochen andauern.

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Basierend auf den Ergebnissen von PAIN2020 startete Anfang 2022 ein Nachfolgeprojekt: PAIN2.0. Ziel war es, die multimodale Schmerztherapie berufsbegleitend zu erproben. Denn bislang gibt es diese nur im Rahmen eines mindestens 14-tägigen Krankenhausaufenthaltes. In Deutschland bieten aber nur 20 Prozent aller Krankenhäuser eine multimodale Schmerztherapie an. Und für viele Menschen mit chronischen Schmerzen ist ein so langer Aufenthalt eine zusätzliche Belastung. PAIN2.0 soll zeigen, ob eine ganzheitliche Behandlung auch berufsbegleitend funktioniert. 
 

Die Schmerzhotline: Schnelle Hilfe – nicht nur für BARMER-Versicherte

Für alle Fragen zum Thema Schmerzen ist der Teledoktor der BARMER für Versicherte ein erster Anlaufpunkt. Unter 0800 3333 500 können sie sich direkt in der Schmerzsprechstunde beraten lassen (täglich von 6 bis 24 Uhr). Der Teledoktor vermittelt auch Facharzttermine und übernimmt die Einschreibung in spezielle BARMER-Angebote wie die multimodale Diagnostik und Therapie. Aber auch für all jene, die nicht bei der BARMER versichert sind, ist die Krankenkasse da: Unter der Rufnummer 0800 84 84 111 erreichen alle Bürgerinnen und Bürger die Offene Schmerzhotline. Hier erhalten sie eine erste Beratung zu Schmerzmitteln und Informationen darüber, wie sich chronische Schmerzen vermeiden lassen.

Mit diesen und weiteren Projekten positioniert sich die Barmer als Krankenkasse mit dem stärksten Fokus auf ganzheitliche Schmerztherapie – damit Betroffene informierte Entscheidungen für ihre Therapie treffen und aktiv daran mitwirken können. Denn so lässt sich mitunter jahre- oder sogar jahrzehntelanges Leiden verhindern.

Welches Schmerzmittel ist das richtige?

Es gibt verschiedene Arten von Schmerz – und entsprechend unterschiedliche Schmerzmittel. Was in einer Situation hilft, kann in einer anderen nutzlos sein oder das Problem sogar verschlimmern. Um den richtigen Wirkstoff zu finden, gilt es die Art des Schmerzes einzuordnen. „Der sogenannte Nozizeptorschmerz oder auch Gewebeschmerz fühlt sich eher spitz, scharf und stechend an“, sagt Dr. Ursula Marschall. Er tritt üblicherweise punktuell auf und lässt sich deshalb gut lokalisieren: das Ziehen im Backenzahn hinten links oder die stechende Stelle in der Leiste. Hier empfehlen sich zum Beispiel nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) wie, Diclofenac oder Ibuprofen. Diese sind schmerzlindernd und dabei stark entzündungshemmend. Bei krampfartigen Schmerzen wirken vor allem Paracetamol oder auch Metamizol.

Eine andere Schmerzempfindung ist der sogenannte Nervenschmerz oder auch neuropathischer Schmerz. Dieser fühle sich eher dumpf, drückend und ziehend an, so Marschall. „Zu den neuropathischen Schmerzen zählt zum Beispiel die Trigeminusneuralgie, also plötzlich einschießende Schmerzen im Gesicht. Auch Bandscheibenvorfälle können Nervenscherzen verursachen. Die Schmerzen im Rücken strahlen aus bis zum kleinen Zeh.“

Typisch für neuropathische Schmerzen ist, dass diese nicht so gut lokalisiert werden können, weil größere Bereiche betroffen sind. Zuweilen treten auch Gefühlsstörungen wie Taubheit oder eine Überempfindlichkeit auf. Hier helfen Medikamente, die ursprünglich für andere Indikationen entwickelt wurden: sogenannte Antikonvulsiva, also Wirkstoffe gegen epileptische Anfälle, oder Antidepressiva, also Medikamente gegen Depressionen. Diese werden zur Schmerzlinderung meist in Kombination mit anderen Wirkstoffen im Schmerzkonzept eingesetzt.

Wichtig: Zu hoch dosiert oder über zu lange Zeiträume eingenommen, können Schmerzmittel unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen. In Kombination mit anderen Medikamenten sind Wechselwirkungen möglich. Weitere Informationen zur richtigen Einnahme finden Sie hier.

 

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