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Psychische Erkrankungen

Barmer Arztreport 2020: Zugang zu Psychotherapie erleichtern

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Redaktion

  • Barmer Internetredaktion

Qualitätssicherung

  • Nora Hoffmann (Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung)

Immer mehr Menschen in Deutschland benötigen eine Psychotherapie. Allein im Jahr 2018 suchten 3,22 Millionen Personen einen Therapeuten auf und damit 41 Prozent mehr als in 2009. Und Menschen, die eine psychotherapeutische Versorgung benötigen, brauchen schnell und unkompliziert Hilfe.

Um den Betroffenen schneller zu helfen, wurde im Jahr 2017 die Psychotherapie-Richtlinie reformiert. Seither muss in der Praxis zum Beispiel eine Psychotherapeutische Sprechstunde angeboten werden. 

In der Sprechstunde wird zum Beispiel entschieden, ob eine Therapie notwendig ist und wenn ja, wie dringend sie ist. Diese Sprechstunde wurde laut dem aktuellen Barmer-Arztreport allein im ersten Jahr nach der Reform neun Millionen Mal abgerechnet. Fast 90 Prozent der Patienten haben sich positiv darüber geäußert, wie umfassend die Therapeuten auf ihre Anliegen eingegangen seien.

Der Barmer-Arztreport 2020 untersucht die Auswirkungen der Reform der Psychotherapie-Richtlinie. Die Auswertung basiert auf Versorgungsdaten von mehr als neun Millionen Versicherten. Ergänzt wurde sie um eine repräsentative Befragung unter 2.000 Barmer-Versicherten. Somit liegt erstmals eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung zu diesem Thema vor.

Schneller Weg zur Erstberatung unter 116117

Um herauszufinden, ob eine Psychotherapie überhaupt das Richtige ist, vereinbart man zunächst einen Termin für ein Erstgespräch bei der Psychotherapeutischen Sprechstunde. In den meisten Fällen (89,2 Prozent) wird der erste Termin direkt zwischen Therapeut und Patient vereinbart.

Nur wenige Versicherte nutzen bisher die Terminservicestelle (TSS) der Kassenärztlichen Vereinigung unter der Nummer 116117, die für einen schnellen Erstberatungstermin sorgen und den Zugang zur passenden Unterstützung verbessern soll. Sie ist rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche erreichbar und verpflichtet, innerhalb von vier Wochen einen Termin für die Psychotherapeutische Sprechstunde zu vermitteln.

Auch einen Termin zur eventuell daraus resultierenden, zeitnah erforderlichen Therapie oder Akutbehandlung kann sie ermöglichen. Doch in nur 7,9 Prozent der Fälle werden Termine bisher so vereinbart.

Nicht in jeder Praxis, die Psychotherapeutische Sprechstunden anbietet, können Patienten sich auch behandeln lassen. Denn manchmal sind keine Termine mehr frei. Doch in dringenden Fällen bekommen Patienten einen Vermittlungscode.

Wenn sie diesen Code bei der Terminservicestelle durchgeben, haben sie Anspruch auf einen baldigen Termin. Die Versichertenbefragung zeigt jedoch auch, dass die TSS nicht alle Wünsche erfüllen konnte. So hat der Patient kein Anrecht darauf, dass der Therapeut in nächster Nähe ist. Wenn es nicht anders geht, müssen die Servicestellen leider an einen weiter entfernten Experten vermitteln. Auch die Uhrzeit entspricht nicht immer den Vorstellungen der Versicherten.

Gruppentherapien haben wichtige Vorteile

In manchen Fällen können auch bereits eine Selbsthilfegruppe oder ein Achtsamkeitstraining weiterhelfen. Wenn es psychologisch sinnvoll ist, kann auch eine verstärkte Nutzung von Gruppentherapien den Zugang zur Psychotherapie erleichtern.

Den Ergebnissen des Arztreports zufolge machen 94,4 Prozent der Patienten Einzeltherapien. Gruppentherapien sind zwar kein Allheilmittel, haben aber wichtige Vorteile. Zum Beispiel, dass die Betroffenen gemeinsam an der Lösung ihrer Probleme arbeiten können. Sie können mit dem Therapeuten in der Gruppe gemeinsam nach Lösungen suchen und sich gegenseitig unterstützen.

So kann eine Gruppentherapie oder eine Kombination aus Gruppen- und Einzeltherapie wichtige zusätzliche Effekte auf den Therapieprozess und -erfolg haben. Eine weitere, moderne Option können auch noch Videosprechstunden sein, die auch bei der Psychotherapie möglich sind.

Realistische Behandlungsziele formulieren

Wichtig ist es zudem, die Therapie mit einer realistischen Erwartungshaltung zu beginnen, soweit das die Erkrankung zulässt. Denn nur so kann die Patientin oder der Patient die schrittweisen Erfolge einer Psychotherapie bei sich selbst feststellen und auch wertschätzen lernen.

Dies ist der Start in die Therapie. Der Therapeut versucht von Beginn an, unrealistische Erwartungen mit den Patientinnen und Patienten zu klären und realistische Behandlungsziele zu erarbeiten. Alles andere führt zu unnötiger Frustration, was eine Genesung zusätzlich erschwert. Eine machbare Erwartungshaltung könnte die Zufriedenheit mit dem Ergebnis der Therapie noch steigern. Denn hier gibt es durchaus noch Verbesserungsbedarf, wie der Arztreport belegt.

So waren zwar fast 89 Prozent der Befragten mit dem Vertrauensverhältnis zum Therapeuten sehr zufrieden, allerdings nur 66 Prozent mit dem Ergebnis der Therapie. Jeder Dritte war demnach teilweise oder gänzlich unzufrieden mit den Resultaten.

Viele Patientinnen und Patienten wünschen sich eine konkrete Lösung für ihre Probleme. Eine Psychotherapie deckt aber eher Verhaltensmuster auf und gibt Denkanstöße zum eigenen Handeln. Deshalb ist es wichtig, dass die Therapeuten den Patientinnen und Patienten zu Beginn klar formulieren, was sie sich von einer Therapie erhoffen können.

Zahl der Therapeuten deutlich gestiegen

Dem Barmer-Arztreport zufolge gab es im Jahr 2018 mehr als 36.500 Ärzte und Therapeuten mit einer psycho-therapeutischen Qualifikation. Seit 2009 stieg die Zahl der psychologischen Psychotherapeuten um 54 Prozent von 13.700 auf 21.000. Die Zahl der ambulant tätigen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten hat sich mehr als verdoppelt, von rund 2.600 auf etwa 5.500.

Die steigende Anzahl der Therapeuten kommt aber nicht eins zu eins in der Versorgung an, weil immer mehr ihre Arbeitszeit reduzieren. Im Jahr 2013 haben 89 Prozent der psychologischen Psychotherapeuten in Vollzeit gearbeitet und 2018 nur 73 Prozent. Zudem ist die regionale Verteilung unterschiedlich. Während in dünnbesiedelten Gebieten 21 Therapeuten auf 100.000 Einwohner kommen, sind es in dichtbesiedelten Regionen 69 Therapeuten.

Weitere Anstrengungen notwendig

Der Arztreport 2020 belegt, dass die Reform der Psychotherapie-Richtlinie insgesamt ein erster Erfolg war. Sie hat den Zugang zur Therapie erleichtert und kann den steigenden Bedarf an Psychotherapie in Deutschland besser abdecken. Das zeigt auch der überproportional starke Anstieg zwischen den Jahren 2016 und 2018 um 345.000 Patienten, die einen Psychotherapeuten aufsuchten.

Davon lassen sich 176.000 Menschen auf die Reform zurückführen. Die Reform hat gute Impulse gesetzt, indem sie den Zugang zu psychotherapeutischer Hilfe erleichtert hat. Das ist ein wichtiger Schritt im Sinne der Patientinnen und Patienten! Doch allein ein leichterer Zugang zur psychotherapeutischen Ersthilfe reicht nicht aus. 

Es bleibt einiges zu tun. So hat sich mit der Reform nichts daran geändert, dass es in Städten mit einer hohen Therapeutendichte leichter ist, eine Therapie zu bekommen, als auf dem Land, wo aufgrund von gesamtgesellschaftlichen Faktoren und der geringeren Bevölkerungsdichte weniger Therapeuten vorhanden sind.

Weitere Anstrengungen sind daher notwendig, um Patienten noch besser zu unterstützen, die auf der Suche nach einem Therapeuten sind. Etwa, indem die Ressourcen effizienter genutzt werden. Mehr Gruppentherapien wären hier ein sinnvoller Schritt im Sinne der Patientinnen und Patienten.