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Zukunft des Gesundheitswesens

Richtige Weichenstellung für digitale Versorgung und Patientensicherheit

Lesedauer unter 7 Minuten

Autor

  • Prof. Dr. Christoph Straub (Vorstandsvorsitzender der Barmer)

Die Bundesregierung hat mit dem Digital-Gesetz und dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz zwei wichtige Gesetzentwürfe für eine bessere, digitale Gesundheitsversorgung auf den Weg gebracht. Die neuen Regelungen können die Patientensicherheit erhöhen und jedes Jahr zehntausenden Menschen das Leben retten.

Berlin, Oktober 2023 – Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, warum Sie beim Besuch einer neuen Arztpraxis immer wieder die gleichen Fragen beantworten müssen: Allergien, Vorerkrankungen, regelmäßige Medikamente? Diese Informationen müssen doch irgendwo gespeichert sein. Wer weitgehend gesund ist, macht diese Erfahrung nur beim Wechsel der Haus- oder Zahnarztpraxis oder wenn ein Facharztbesuch notwendig ist. Für Menschen mit schweren oder chronischen Erkrankungen ist der schlecht funktionierende Austausch von Patientendaten aber ein gravierendes Problem.

Deutschland steht bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens im internationalen Vergleich nicht gut da. Gesundheitsminister Karl Lauterbach spricht sogar von einem Entwicklungsland. Das betrifft den Datenaustausch, aber auch das geringe Angebot an digitalen Versorgungslösungen wie der Videosprechstunde. 

Die Bundesregierung hat jetzt zwei wichtige Gesetze auf den Weg gebracht, die die Rahmenbedingungen wesentlich verbessern könnten – das Digital-Gesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Beide werden gerade im Bundestag diskutiert. Sie greifen mehrere Forderungen der Barmer auf, die aus unseren Erfahrungen aus Digitalprojekten resultieren und das Potenzial haben, die Gesundheitsversorgung in Deutschland wesentlich zu verbessern.

Weniger Hürden für die Videosprechstunde

Eine Frau telefoniert mit einer Ärztin per Videochat

Videosprechstunden können besonders in ländlichen Regionen die Versorgungsqualität verbessern und unnötige Wege und Wartezeiten reduzieren. Verschiedene Studien gehen davon aus, dass bis zu 20 Prozent aller Arzt-Patienten-Kontakte digital stattfinden könnten. Davon sind wir sehr weit entfernt. Deutschlandweit bieten heute nur 6,5 Prozent der Vertragsärztinnen und -ärzte überhaupt eine Videosprechstunde an. Und weniger als ein Prozent aller bei der Barmer abgerechneten Sprechstunden findet bisher digital statt.

Verantwortlich dafür sind unter anderem unnötige regulatorische Hürden wie die Beschränkung der Videotermine auf 30 Prozent der Kapazität einer Praxis. Der jetzt diskutierte Entwurf eines Digital-Gesetzes sieht die Abschaffung dieser Begrenzung vor, was ich sehr begrüße.

Eine Ärztin steht vor einer Wand, hält ihr Smartphone in der Hand und schaut lächelnd in die Kamera.

Datenaustausch im Gesundheitswesen ermöglichen

Videosprechstunden lösen aber das grundlegende Problem eines schlecht funktionierenden Datenaustauschs im Gesundheitswesen nicht. In kaum einem anderen Land werden so viele Daten digital erfasst. Doch sie sind für Ärztinnen und Ärzte und andere an der Behandlung Beteiligte nicht ohne Weiteres zugänglich. 
Die notwendige Infrastruktur existiert bereits in Form der elektronischen Patientenakte (ePA). Seit 1. Januar 2021 bieten alle gesetzlichen Krankenkassen ihren insgesamt rund 73 Millionen Versicherten eine solche digitale Akte an. In Umfragen gibt die Mehrheit der Deutschen an, die ePA nutzen zu wollen. Tatsächlich hat sich fast drei Jahre nach der Einführung aber nur rund 1 Prozent der Versicherten eine Akte eingerichtet.

Nach heutiger Gesetzeslage erhalten Versicherte eine elektronische Patientenakte nur, wenn sie sich selbst darum kümmern. Der Entwurf des Digital-Gesetzes sieht nun die flächendeckende Einführung der ePA ab Januar 2025 vor und kehrt die Bringschuld um. Künftig soll die Akte standardmäßig für alle Versicherten eingerichtet werden. Aktiv werden muss nur, wer dies nicht möchte: Versicherte können einer ePA weiterhin jederzeit widersprechen, die Akte wird dann gelöscht oder gar nicht erst angelegt.

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Der Gesetzentwurf sieht zudem vor, dass Krankenkassen das E-Rezept in ihre ePA-Apps integrieren dürfen. Das war bisher nicht möglich. Versicherte können dann künftig nicht nur Gesundheitsdaten und Zugriffsrechte über die App verwalten, sondern auch elektronische Rezepte. Das ist ein wesentlicher Mehrwert für die Nutzerinnen und Nutzer und kann die Verbreitung und Akzeptanz der ePA zusätzlich stärken.

Gesetzeslücken schließen und Rechtssicherheit schaffen

Allerdings bremst nicht nur die sehr geringe Verbreitung der ePA die Digitalisierung im Gesundheitswesen aus, sondern auch regulatorische Hürden und bisher fehlende spezifische Datenschutzregelungen. In Europa gilt mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ein einheitlicher Rahmen mit sehr hohen Standards. Die DSGVO hebt in Artikel 9 die besondere Bedeutung von Gesundheitsdaten hervor. Sie sieht eine Ausgestaltung durch die nationale Gesetzgebung vor, mit der eine intensive digitale Nutzung medizinischer Daten rechtssicher geregelt wird, um die entsprechenden Potenziale auszuschöpfen. Bisher existieren diese spezifischen Regeln aber in Deutschland nicht. Das nun diskutierte Gesundheitsdatennutzungsgesetz soll diese Lücke in der Gesetzgebung endlich schließen. Der Entwurf enthält wichtige Regelungen, die die Versorgung und die Patientensicherheit wesentlich verbessern können.

Vorhandene Gesundheitsdaten für die Therapieplanung nutzen

Hochgerechnet auf Deutschland könnte der mit AdAM erprobte Ansatz jedes Jahr bis zu 70.000 Menschen das Leben retten.

Ein gutes Beispiel für das Potenzial des Gesetzentwurfes ist die Sicherheit in der Arzneimitteltherapie. Ärztinnen und Ärzte brauchen Transparenz und einen leichten Zugang zu Patientendaten, um unerwünschte Wirkungen von Medikamenten oder Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln richtig einschätzen zu können. 

In eine offene Hand werden Tabletten gekippt.

Die Barmer hat in einem Projekt getestet, was es bringt, wenn wir Hausarztpraxen jene Daten zur Verfügung stellen, die standardmäßig bei der Krankenkasse gespeichert sind. An diesem Projekt namens AdAM haben sich fast 1.000 Hausärztinnen und -ärzte und über 12.000 Patientinnen und Patienten beteiligt. Mit Einverständnis der Patienten erhielt die Hausarztpraxis Informationen zur medizinischen Vorgeschichte, zu allen Arzneimitteln und allen Diagnosen auf Basis der Abrechnungsdaten der Krankenkasse. Zudem wurden vermeidbare Risiken wie Wechselwirkungen von Arzneimitteln automatisch digital überprüft. Das Ergebnis: Das Sterberisiko der Patientinnen und Patienten verringerte sich signifikant. Hochgerechnet auf Deutschland könnte der mit AdAM erprobte Ansatz jedes Jahr bis zu 70.000 Menschen das Leben retten.

Digitales Angebot der BARMER: Behandlungshistorie in der eCare

Die im Projekt AdAM erprobte Technologie hat die Barmer in die elektronische Patientenakte (ePA) integriert. Mit wenigen Klicks können Barmer-Versicherte die automatische Erstellung einer Behandlungshistorie in der ePA aktivieren. Sie enthält eine chronologische und thematische Zusammenfassung der verschriebenen Medikamente, Heil- und Hilfsmittel sowie der Diagnosen und Krankenhausaufenthalte der vergangenen drei Jahre. Die Historie wird alle sechs Wochen aktualisiert und kann von Ärztinnen und Ärzten nach Freigabe über die Praxissoftware abgerufen werden.

Die Erfahrungen aus dem Pilotprojekt konnten noch nicht in die Regelversorgung überführt werden, denn bisher dürfen Krankenkassendaten nicht für die Therapieplanung genutzt werden. Das soll sich jetzt mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz ändern. In Zukunft wären so etwa automatisierte Wechselwirkungschecks für Medikamente auf Basis der Kassendaten möglich.

Versicherte aktiv und individuell beraten

Ein Frau hält ein Tablet in der Hand, auf dem ein Arzt zu sehen ist.

Ein weiteres Beispiel ist die aktive Unterstützung von Versicherten durch ihre Krankenkasse. Auf Grundlage vorhandener Daten lassen sich schon heute zahlreiche Gesundheitsrisiken frühzeitig erkennen. Das gilt beispielsweise für Menschen mit mehreren chronischen Erkrankungen zugleich. Diese Menschen sind mitunter mit der Krankheitsbewältigung und allen damit verbundenen Aufgaben überfordert. Eine Krankenkasse kann diesen Menschen aktiv Hilfe anbieten – sei es bei der Vereinbarung von Arztterminen, bei der Beantragung von Leistungen oder bei der Vermittlung weiterer Versorgungs- oder Unterstützungsangebote. 

In mehreren Projekten hat die Barmer nachgewiesen, dass eine solche individuelle Hilfestellung oft dankend angenommen wird und dazu beiträgt, eine Verschlimmerung der Erkrankungen zu vermeiden. Erprobt haben wir das unter anderem bei Diabetes, schweren, chronischen Rückenschmerzen und psychischen Erkrankungen. Bisher fehlte aber die gesetzliche Grundlage, um diese Ansätze in dauerhafte Angebote zu überführen. Der Gesetzentwurf der Regierung will diese Grundlage nun schaffen. Künftig wäre es uns dann möglich, Versicherte individuell und gezielt auf für sie empfehlenswerte Früherkennungs- und Versorgungsangebote der Leistungserbringer hinzuweisen. So ließen sich etwa Krebserkrankungen früher erkennen und so könnten wir chronisch Erkrankte besser unterstützen.

Höhere Versorgungsqualität und mehr digitale Innovation

Die Entwürfe für das Digital-Gesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz haben das Potenzial, die Versorgungsqualität und Digitalisierung entscheidend voranzubringen. Ich wünsche mir sehr, dass diese guten Ansätze umgesetzt werden und endlich Rechtssicherheit für den Einsatz innovativer und erprobter Lösungen schaffen. Das würde die Versorgung insgesamt verbessern und besonders die Menschen stärken, die unter chronischen Krankheiten leiden, die mehrere Medikamente dauerhaft einnehmen müssen oder die mit der Bewältigung ihrer Krankheit und der Komplexität des Gesundheitssystems allein überfordert sind.

Professor Dr. Christoph Straub ist Vorstandsvorsitzender der Barmer.

Prof. Dr. Christoph Straub ist Vorstandsvorsitzender der Barmer.

Der Autor:
Prof. Dr. Christoph Straub ist seit 2011 Vorsitzender des Vorstands der Barmer und seit 2016 Honorarprofessor an der Universität Bayreuth. Er studierte Medizin in Heidelberg und den USA, erhielt 1991 die Vollapprobation als Arzt und 1992 die Promotion zum Dr. med.
Vor seinem Wechsel zur Barmer war er von 2009 bis 2011 als Mitglied des Vorstands bei der Rhön Klinikum AG tätig.

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