Warum verspüren manche Menschen plötzlich den Drang, von einer hohen Klippe oder Brücke zu springen, obwohl sie gar nicht wollen? Das „Höhenphänomen“ ist weit verbreitet und kein Anzeichen für Suizidgedanken. BARMER-Psychologin Andrea Jakob-Pannier erklärt, warum unser Gehirn uns manchmal widersprüchliche Signale sendet.
Stellen Sie sich vor, Sie laufen über eine hohe Brücke, lehnen sich ein wenig über das Geländer und blicken in die Tiefe. Vielleicht kommt dann für einen kurzen Moment die Frage in ihrem Kopf auf, wie es sich wohl anfühlen würde, hier und jetzt hinunterzuspringen oder zu fallen. Doch keine Angst, mit einem geheimen Suizidwunsch hat dieser Impuls nicht unbedingt etwas zu tun. Die Psychologie kennt diese Form der plötzlich auftretenden und unerhört wirkenden Gedanken als "The Call of Void" (Der Ruf der Leere) oder auch als "High Place Phenomenon" (Höhenphänomen). Letzteres tritt weit häufiger auf, als viele meinen.
Erstmals näher beschrieben wurde das Höhenphänomen in einer im Jahr 2012 veröffentlichten Studie der Florida State Universität. Von den 431 Befragten gaben damals etwas mehr als die Hälfte an, bereits einmal solche Gedanken gehabt zu haben, ohne dass bei ihnen eine aktuelle oder frühere Suizidgefährdung diagnostiziert wurde. Weitere Untersuchungen in den vergangenen Jahren stützten dieses Ergebnis, wonach etwa 30 bis 50 Prozent der Menschen diesen Impuls bereits einmal verspürt haben.
Wie sich das Höhenphänomen erklären lässt
„Das Höhenphänomen betrifft sowohl ängstliche als auch furchtlose Personen gleichermaßen“, sagt Andrea Jakob-Pannier, Psychologin bei der BARMER. Die Forschung geht davon aus, dass das Höhenphänomen durch einen paradoxen Schutzmechanismus des Gehirns ausgelöst wird. „Das Gehirn verarbeitet die Gefahr der Höhe und sendet widersprüchliche Signale, einerseits zur Vorsicht mahnend, andererseits als eine Art Fehlinterpretation des Überlebensinstinkts“, erklärt die Psychologin. Das heißt, unser Verstand prüft unbewusst, ob wir tatsächlich sicher sind, und dieser Prozess kann fälschlicherweise als Sprungimpuls wahrgenommen werden. „Tatsächlich möchten uns diese Gedanken eher motivieren, uns in Sicherheit zu bringen, also einen Schritt vom Abgrund zurücktreten.“ Besonders Menschen, die empfindlicher auf angstbedingte Symptome wie Schwindel, Herzrasen oder Schweißausbrüche reagieren, sind für das Höhenphänomen anfälliger.
Was gegen den Impuls hilft
Betroffene können lernen, mit dem Höhenphänomen umzugehen. Das Wichtigste ist, den Impuls als das zu erkennen, was er ist, ein biologisch erklärbarer Irrtum. „Zu erkennen, dass das Gehirn einem lediglich einen Streich spielt, kann helfen, Distanz zu schaffen“, sagt Jakob-Pannier. Mit kleinen mentalen Übungen, lässt sich die Situation zusätzlich entschärfen. Neben der Fehlleitungserkenntnis können dies ebenso Atemübungen sein, die den Körper beruhigen. Auch eine Steuerung des Fokus, den Blick bewusst von der Kante fort zu bewegen und zusätzlich Halt am Geländer zu suchen, kann in den Situationen hilfreich sein. „Wenn der Impuls kommt, einfach gedanklich 'Stopp!‘ sagen, um die Gedanken aufzuhalten, so die Psychologin.
Wenn Sie selbst von Gedanken an Suizid betroffen sind oder jemanden kennen, der entsprechende Hilfe benötigt, dann zögern Sie nicht, sich Unterstützung zu holen. In Deutschland können Sie sich rund um die Uhr anonym und kostenfrei an die Telefonseelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 wenden. Weitere Informationen und Hilfsangebote finden Sie auch online unter www.telefonseelsorge.de. Sie sind nicht allein.