Die Entwicklung neuer Arzneimittel ist teuer, langwierig und komplex. Doch mit dem Aufstieg der künstlichen Intelligenz (KI) haben sich die Möglichkeiten in diesem Bereich der medizinischen Versorgung zuletzt erheblich verändert. Die neue Technik kann helfen, Medikamente schneller zu entwickeln als bislang. Doch wie genau kann KI die Entwicklung von Arzneimitteln beschleunigen? Welche Herausforderungen bringt das mit sich und was haben Patientinnen und Patienten davon? Dieser Ratgeber liefert Antworten auf diese und weitere Fragen.
Bis zur Marktreife neuer Medikamente kann es bis zu 15 Jahre dauern und mitunter Milliardenkosten mit sich bringen. „Diese Zeitspanne umfasst unter anderem die Entdeckung potenzieller Wirkstoffe, präklinische Tests, klinische Studien und die behördliche Zulassung“, sagt Dr. André Breddemann, Arzneimittel-Experte bei der BARMER. Die Einführung von KI in der Arzneimittelentwicklung verspricht nach seiner Einschätzung, einige bisherige Herausforderungen zu adressieren und den gesamten Prozess zu beschleunigen.
Wie KI die Medikamentenentwicklung schon jetzt konkret verändert
KI-Technologien, insbesondere maschinelles Lernen und Deep Learning, haben das Potenzial, die Medikamentenentwicklung in mehreren Phasen zu transformieren. Folgende Bereiche profitieren bereits jetzt von der Integration von KI:
Datenanalyse und Zielidentifikation
Der erste Schritt in der Arzneimittelentwicklung ist die Identifikation von Zielstrukturen im menschlichen Körper. Ein Beispiel ist die Entdeckung potenzieller Zielproteine für Krankheiten wie Alzheimer oder Krebs. „Traditionell wurde diese Suche von Hand durchgeführt, oft mit Hilfe von Experten und umfangreichen Datenbankrecherchen. Heute kann KI jedoch Millionen von biologischen Daten analysieren, um Muster und Zusammenhänge zu erkennen, die für Menschen schwer verständlich wären“, sagt Breddemann. Algorithmen der KI können Datensätze verarbeiten, um Zielstrukturen schneller zu identifizieren. Durch die Analyse riesiger Datenmengen aus Studien und Laborversuchen weisen KI-Modelle im Idealfall auf die vielversprechendsten Ziele hin.
Wirkstofffindung und –optimierung
Wurde ein Ziel identifiziert, muss ein passendes Molekül gefunden werden. „Das ist der Bereich, in dem KI Einfluss haben kann. Traditionell erfordern diese Prozesse jahrelange Laborforschung und -versuche“, erläutert Breddemann. Heute können KI-Modelle Millionen von Molekülen analysieren und die aussichtsreichsten herausfiltern. Virtuelle Screening-Verfahren ermöglichen es, passende Moleküle schneller zu identifizieren. Bestehende Medikamente können auf neue Anwendungen untersucht werden. Eine Möglichkeit ist der Einsatz als „Repurposed Drugs“, also bereits erprobte Wirkstoffe, die für neue Indikationen genutzt werden. „Dieser Einsatz von KI beschleunigt den gesamten Prozess und kann eventuell den Unterschied zwischen Jahren der Forschung oder einem schnellen Durchbruch ausmachen“, sagt Breddemann.
Klinische Studien und Patientenrekrutierung
Klinische Studien sind entscheidend, aber zeitintensiv. „KI-Algorithmen können helfen, schneller die richtige Zielpopulation für klinische Studien zu finden“, erläutert Breddemann. KI analysiert Patientenakten und Datenbanken, um geeignete Kandidaten zu identifizieren und die Rekrutierung zu verbessern. Zudem können KI-Modelle Patientinnen und Patienten während der Studien überwachen. Bilddaten und Laborwerte werden analysiert, um Wirksamkeit und Nebenwirkungen zu bewerten. „Dies führt nicht nur zu einer schnelleren, sondern auch zu einer genaueren Beurteilung der Wirksamkeit und Sicherheit eines Medikaments“, sagt der Experte.
Frühwarnsysteme dank KI
Ein weiterer Bereich ist die Vorhersage von Wirksamkeit und Sicherheit. „Frühere klinische Studien nehmen mitunter Jahre in Anspruch, um die Langzeitwirkungen eines neuen Medikaments zu bewerten. Heute können KI-Modelle auf Basis historischer Daten und Simulationen Vorhersagen treffen, wie sich ein Medikament im Körper tatsächlich verhalten wird“, sagt Breddemann. KI kann auch potenzielle Nebenwirkungen frühzeitig erkennen. Mit Hilfe von maschinellem Lernen, das auf pharmakologische und klinische Daten zugreift, lassen sich Risiken besser abschätzen. So können problematische Wirkstoffe schneller identifiziert werden, bevor sie breit angewendet werden.
Herausforderungen und Ethik
Trotz der Vorteile gibt es auch Herausforderungen. Eine zentrale Hürde ist der Zugang zu hochwertigen Daten. „Algorithmen der KI benötigen große Datenmengen, um gut zu funktionieren, aber nicht alle Pharmaunternehmen haben Zugang zu ausreichend umfangreichen und qualitativ hochwertigen Datensätzen“, sagt Breddemann. Datenschutzfragen und der Austausch von Gesundheitsdaten spielen dabei eine Rolle. „Damit sind natürlich ethische Fragestellungen verbunden, die eingehend politisch und gesellschaftlich diskutiert sowie rechtlich beantwortet werden müssen.“
Auch stellt sich immer die Frage, wie stark KI menschliche Entscheidungen ersetzen darf. „KI kann viele Prozesse automatisieren, aber letztlich bleibt der menschliche Faktor entscheidend, insbesondere wenn es um ethische Entscheidungen oder die Beurteilung komplexer medizinischer Zusammenhänge geht“, sagt Breddemann. Künstliche Intelligenz hat somit das Potenzial, die Entwicklung von Arzneimitteln grundlegend zu verändern. Der Weg zu neuen Medikamenten könnte dank KI kürzer werden.