Benjamin Westerhoff; ein junger Mann mit braunen Haaren, schwarzen Sakko und weißen Hemd schaut in die Kamera.
STANDORTinfo für Baden-Württemberg

"Der Begriff Digitalisierungsschub ist schon ganz passend"

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Die Starke Fragmentierung des Systems, hohe regulatorische Hürden, lange Prozesse, schier endlose Debatten und eine ungleiche Verteilung von Kosten und Nutzen sind Gründe dafür, weshalb das Gesundheitswesen bisher (zu) wenig digitalisiert ist. Die Corona-Pandemie zeigt, dass es auch anders geht. Ein Beispiel dafür ist die Videosprechstunde. Bisher kaum beachtet, boomt das Gespräch mit dem Arzt per Bildschirm. Digitale Schubrakete COVID-19? Ein Gespräch mit Benjamin Westerhoff, Abteilungsleiter Produktentwicklung und Produktstrategie der Barmer.

Herr Westerhoff, in Baden-Württemberg bieten immer mehr Ärzte eine Videosprechstunde an. Im Januar waren es gerade einmal neun Mediziner, Ende März etwa 4.000. Wird die Corona-Pandemie zum disruptiven Element im Gesundheitswesen?

Benjamin Westerhoff: Disruption ist ein großes Wort. Ich würde COVID-19 zunächst als starken Impuls verstehen, mit dem es gelingt, auch bislang eher skeptische Player im Gesundheitswesen zu erreichen und zu überzeugen. Die Steigerungsraten bei der Videosprechstunde sind tatsächlich beeindruckend. Aber wir kommen hier auch von einem extrem niedrigen Niveau. Nach Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung hat mittlerweile etwa ein Viertel der Ärzte den Videokanal in der Praxis ausprobiert. Wie viele weitere hinzukommen und wie viele dabeibleiben, sollten wir nüchtern betrachten. Ganz bestimmt freue ich mich aber über den aktuellen Push.

Gibt es, abgesehen von der Videosprechstunde, einen weiteren Bereich im Gesundheitswesen, der aufgrund der Pandemie einen Digitalisierungsschub erlebt?

Benjamin Westerhoff: Sämtliche Präventions- und Versorgungsangebote, die rein digital oder vorwiegend digital angeboten werden, sind Profiteure und können gerade unter Beweis stellen, dass sie echte Alternativen und nicht bloß Gimmicks sind. So sind beispielsweise Rehasport und Nachsorge plötzlich digital möglich. Als Barmer haben wir bestehende Möglichkeiten ausgebaut und in kurzer Zeit neue digitale Services eingeführt. So bieten wir diverse Schulungsformate im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements verstärkt als Online-Schulungen an. Unsere Hebammenberatung, die wir gemeinsam mit Kinderheldin anbieten, haben wir um eine Videosprechstunde und Online-Kurse zur Geburtsvorbereitung und Rückbildung erweitert.

Für unsere Initiative Ich kann kochen!, bei der wir Lehrerinnen und Lehrer sowie Erzieherinnen und Erzieher von Kitas und Grundschulen in praktischer Ernährungsbildung ausbilden, haben wir ein komplett digitales Format entwickelt: Von der Ansprache der Kindertagesstätten bis zur Durchführung des Seminars. Und zu Beginn der Corona-Pandemie haben wir unsere sehr erfolgreiche Coronasprechstunde über den Teledoktor geschaltet. Dies, um nur einige Beispiele zu nennen. Daneben gibt es Projekte wie die Entwicklung eines molekulargenetischen Tests auf das Coronavirus für den Hausgebrauch, die momentan große Aufmerksamkeit erfahren.

Die Barmer hat bereits viele Services digitalisiert. Haben sich die Nutzungszahlen während der Corona-Pandemie verändert?

Benjamin Westerhoff: Ja, sie sind deutlich gestiegen. Erfreulicherweise sind viele unserer Kunden sehr schnell auf unsere digitalen Angebote und Kontaktmöglichkeiten umgestiegen. Im ersten Quartal ist die Zahl der Downloads der Barmer-App um fast 20 Prozent gestiegen, und die Zahl der Krankschreibungen, die über diese App eingereicht wurden, legte um 40 Prozent im Vergleich zum Vorquartal zu. Auch das Corona-Special auf unserer Webseite wird gut angenommen, momentan liegen wir bei etwa 170.000 Aufrufen pro Monat.

Welches digitale Projekt ist bei der Barmer aktuell in der Pipeline?

Benjamin Westerhoff: Am 1. Januar geht unsere ePA, die Barmer eCare, an den Start. Zunächst mit den vorgeschriebenen Pflichtfunktionen, aber wir entwickeln bereits fleißig weitere Anwendungen. Beispielsweise wird unsere ePA die Patienten zukünftig an die Einnahme von Medikamenten erinnern. Darüber hinaus sind wir dabei, den Barmer Kompass in der Barmer-App auszubauen. Derzeit können unsere Versicherten im Barmer Kompass den Bearbeitungsstatus ihres Antrags auf Krankengeld verfolgen. Das wird zukünftig auch bei einem Antrag auf Mutterschaftsgeld, Haushaltshilfe und Hilfsmittel möglich sein. Wer schon einmal online etwas gekauft hat, der kennt dieses Tracking von der Sendungsverfolgung. Da kann ich ganz genau sehen, wann mein Paket verschickt wurde und wann es bei mir ankommt. Im E-Commerce ist das bereits gang und gäbe, in der gesetzlichen Krankenkasse ist das aber ein einmaliger Service, den die Barmer ihren Versicherten hier bietet. Auch den Ausbau des Barmer-Teledoktors treiben wir weiter voran. Triagierung und zusätzliche Services stehen hier im Fokus.

Die Beschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie wurden gelockert, das dürfte dazu führen, dass auch die Arztpraxen wieder voller werden. Bedeutet dies das Aus für die Videosprechstunde? Die Freie Ärzteschaft hat schon getitelt, dass die Corona-Pandemie die Telemedizin entzaubert habe.

Benjamin Westerhoff: Das ist für mich kein Widerspruch und im Übrigen auch keine neue Erkenntnis. Es ist bekannt, dass Hybride aus digitaler und physischer Behandlung besser funktionieren als rein digitale Angebote. Und speziell bei der Videosprechstunde ist vollkommen klar, dass sie nicht für alle Indikationen geeignet ist. Deswegen macht eine Triagierung hier auch Sinn. Jeder versteht, dass ein gebrochenes Bein oder ein Schlaganfall nicht nur über den Bildschirm behandelt werden können. Aber in Verbindung mit dem eRezept, das im Jahr 2022 verbindlich kommt, wird es eine größere Reihe an Indikationen geben, bei denen sich die Telemedizin bestens eignet, etwa bei Harnwegsinfekte oder Augenentzündungen. Und eines sollten wir auch nicht vergessen: Es gibt Landstriche in Deutschland, in denen es schwierig ist, einen Arzt zu erreichen. Und für immobile Patienten wäre die Telemedizin ebenfalls eine Erleichterung. Hier liegen die Vorteile auf der Hand. Der Begriff des Digitalisierungsschubs ist deshalb schon ganz passend. Wer einmal erlebt hat, wie unkompliziert man eine Krankschreibung per App einreichen kann, der wird sich auch in Zukunft den Weg zur Post sparen. Bei vielen digitalen Gesundheitsangeboten wird das ähnlich sein.