Prof. Dr. Gabriele Meyer
STANDORTinfo für Sachsen-Anhalt

Prof. Dr. Gabriele Meyer von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zur neuen Arbeitsteilung

Lesedauer unter 3 Minuten

Die Barmer liefert mit dem 10-Punkte-Papier 2.0 zur sektorenübergreifenden Versorgung einen wichtigen Impuls für die Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung in Sachsen-Anhalt. In unserem Sondernewsletter kommentieren wichtige Stimmen der Gesundheitsbranche Sachsen-Anhalts die einzelnen Vorschläge der Barmer.

Barmer-Vorschlag: Weg frei machen für neue Arbeitsteilung

Neue Versorgungsformen erfordern auch eine neue Arbeitsteilung zwischen ärztlichen und nichtärztlichen Berufen. Wichtig werden neue, eigenständige Berufe wie die Medizinassistenz, auch zur Entlastung von Ärztinnen und Ärzten. Details dazu finden Sie hier.

Prof. Dr. Gabriele Meyer, Inhaberin der Professur für Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Leiterin des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Medizinischen Fakultät Halle, zum Barmer-Vorschlag

"Die Probleme des deutschen Gesundheitswesens – Fehlanreize, mangelnde Steuerung, Sektorentrennung – sind hinlänglich erkannt. Auf der Jahrestagung 2022 des EbM-Netzwerks stellte Reinhard Busse klar, dass die Forderung nach mehr Geld und Personal zur Lösung der Probleme in der Gesundheitsversorgung unrealistisch sei, da beides auf absehbare Zeit nicht zur Verfügung stünde. Stattdessen ließe sich mit den vorhandenen Ressourcen bei angemessener Verteilung eine deutliche Verbesserung der Versorgungssituation erzielen. Das 10-Punkte-Papier 2.0 der Barmer, das mutige kurz- und mittelfristige Maßnahmen zur sektorenübergreifenden Gesundheitsversorgung, besseren Steuerung und bedarfsorientierten Planung und Verteilung fordert, ist darum folgerichtig. Natürlich muss die Krankenhauslandschaft systematisch umstrukturiert werden, müssen Zuständigkeiten, Leistungsbereiche und -spektren sowie Vernetzung neu geregelt werden, auch um wertvolle Personalressourcen nicht mehr im Hamsterrad eines wettbewerbsgesteuerten übermäßigen Fallaufkommens zu verschleißen. Natürlich ist eine wirksame elektronische Patientenakte überfällig.
Näher eingehen möchte ich jedoch auf die „neue Arbeitsteilung“ zwischen den Gesundheitsberufen. Sie ist anderswo längst gelebte, regulierte und wissenschaftlich evaluierte Praxis. Deutschland ist hier Jahrzehnte im Hintertreffen. Der Weg ist hierzulande mit der Möglichkeit der Heilkundeübertragung im SGB V § 63 Absatz 3c seit langem gebahnt. Mächtiger Gegenwind hat die Übernahme bisher ausschließlich von Ärztinnen und Ärzten ausgeübten Tätigkeiten durch Pflegefachpersonen wirksam verhindert. Auch die regulatorischen Barrieren wurden nicht beseitigt. Ein „Allgemeines Heilberufegesetz“ fehlt, um die Tätigkeitsbereiche und eigenständige Leistungserbringung festzuschreiben, für die eine entsprechende Vergütung geregelt sein muss. Wenn die zehn Punkte das Berufsbild der Medizinassistenz als vielversprechend deklarieren, wird umso mehr deutlich, wie wichtig eine klare Rollenbeschreibung der unterschiedlichen Gesundheitsfachberufe ist. 
Neue Berufsrollen sollten jedoch nicht mit dem Argument „Entlastung der Ärzteschaft“ hergeleitet werden. Stattdessen sollte besser mit dem Wohle der Patientinnen und Patienten argumentiert werden, die ein Recht auf qualitativ hochwertige Versorgung auch in strukturarmen Regionen haben. Aber nicht nur um Umverteilung von Aufgaben geht es, sondern auch um bisher vernachlässigte Best Practices. Dazu gehört zum Beispiel, Patientinnen und Patienten eine informierte Entscheidungsfindung durch evidenzbasierte Gesundheitsinformation zu ermöglichen. Patientinnen und Patienten mit komplexen Versorgungs- und Pflegebedarfen müssen besser durch das System navigiert werden, zum Beispiel durch Case Management für Menschen mit chronischen Erkrankungen.
Die in den zehn Punkten mehrfach erwähnte Community Health Nurse setzt ein Master-Studium, idealerweise an Universitäten voraus. Derzeit gibt es in Deutschland nur eine Handvoll Angebote, die unter anderem aufgrund fehlender Perspektiven nicht gut angenommen werden. Der an der Universität Witten/Herdecke angebotene Masterstudiengang wird aufgrund mangelnden Interesses zum Beispiel zum Wintersemester 2022/23 nicht angeboten. Die für die Pflegepraxis qualifizierenden Pflegestudiengänge – vor allem die primärqualifizierenden – befinden sich in einer prekären Lage. Die Nachfrage ist spärlich, denn es ist kaum vermittelbar, warum Pflege studiert werden sollte, wenn es keine Vergütung gibt für die geleistete Pflegepraxis gemäß Ausbildungsverordnung, die Praxisanleitung und -begleitung nicht finanziert ist, die Praxisrollen nicht geklärt oder gar vorhanden sind – um nur einige der Nöte der hochschulischen Pflegeausbildung zu nennen. 
Die Anzahl der Hochschulabsolventinnen und -absolventen in der Pflegepraxis in Deutschland bewegt sich auf archaisch niedrigem Niveau. Hier bedarf es wahrlich mutiger Schritte, um Lippenbekenntnisse zu überwinden und jungen Menschen einen Anreiz zu geben, Pflege zu studieren, um zur Umsetzung zeitgemäßer und sektorenübergreifender Versorgung wirksam beitragen zu können."