Prof. Dr. Enno Swart
STANDORTinfo für Sachsen-Anhalt

Prof. Dr. Enno Swart von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg zum sektorenübergreifenden Versorgungsbedarf

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Die Barmer liefert mit dem 10-Punkte-Papier 2.0 zur sektorenübergreifenden Versorgung einen wichtigen Impuls für die Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung in Sachsen-Anhalt. In unserem Sondernewsletter kommentieren wichtige Stimmen der Gesundheitsbranche Sachsen-Anhalts die einzelnen Vorschläge der Barmer.

Barmer-Vorschlag: Sektorenübergreifenden Versorgungsbedarf ermitteln

Um den tatsächlichen Versorgungsbedarf in den Regionen bestimmen zu können, müssen zuverlässige Daten vorliegen. Ein unabhängiges Institut ermittelt Referenzwerte für den Versorgungsbedarf aus einem bundesweiten Datensatz, dem „empirischen Anker“. Details dazu finden Sie hier.

Prof. Dr. Enno Swart, stellvertretender Leiter des des Instituts für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, zum Barmer-Vorschlag

"Es ist zu begrüßen, dass sich eine Versorgungsplanung zukünftig verstärkt am morbiditätsorientierten Bedarf ausrichten soll. Ebenso ist es in hohem Maße sinnvoll, dass die bisher eigenständigen sektorenspezifischen Planungen im vertragsärztlichen und stationären Bereich synchronisiert werden. Schwierig erweist sich im Kontext dieses Positionspapiers aber die Konkretisierung und Operationalisierung, also Messbarmachung, der Begriffe ‚zuverlässig‘ und ‚Versorgungsbedarf‘ sowie die Definition geeigneter Versorgungs- bzw. Planungsregionen.
Versorgungsbedarf bemisst sich epidemiologisch an der Morbidität der zu versorgenden Bevölkerung in einem definierbaren Planungsgebiet. Daraus kann unter Status-Quo-Annahmen die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen aus Leistungszahlen der Vergangenheit, dem sogenannten ‚empirischen Anker‘, prognostiziert werden. Inanspruchnahme medizinischer Leistungen ist jedoch bekanntermaßen von einem erheblichen Ausmaß an Über-, Unter- und Fehlversorgung geprägt. Neben dem tatsächlichen morbiditätsorientierten Bedarf wird die Inanspruchnahme darüber hinaus bestimmt von bürgerbezogenen Faktoren (z.B. die subjektiv wahrgenommene Erreichbarkeit von Versorgungseinrichtungen in ländlichen Teilen Sachsen-Anhalts), leistungserbringerbezogenen Gewohnheiten (sogenannte physician practice styles, also regional implizit gewachsene Handlungs- und Kooperationsgewohnheiten der Ärztinnen und Ärzte) oder bestehenden Strukturen der medizinischen Versorgung (z.B. drohende vertragsärztliche Unterversorgung im ländlichen Raum). Diese Faktoren wirken kleinräumig auf Ebene von Landkreisen oder darunter. Auswirkungen des demographischen Wandels sind dabei dank belastbarer Bevölkerungsprognosen – jenseits unvorhersehbarer externer Ereignisse – noch vergleichsweise gut zu antizipieren.
Die im Positionspapier vorgeschlagene Nutzung von Sekundärdaten aus realisierter Inanspruchnahme (z.B. aus den Krankenkassenabrechnungsdaten) kann daher nur der Einstieg in eine bedarfsorientierte sowohl sektorübergreifende als auch kleinräumige Versorgungsplanung sein. Diese Versorgungsplanung unterhalb der Bundeslandebene muss zusätzlich demographische, strukturelle und verhaltensbezogene Unterschiede zwischen den Landesteilen angemessen berücksichtigen, z.B. zwischen den städtischen Ballungsräumen und ländlich geprägten und strukturell benachteiligten Landkreisen. Der Ansatz im Positionspapier bedarf also der Ergänzung um weitere z.B. sozioökonomische Daten (Sekundärdaten) sowie vor allem um Primärdaten aus spezifischen Erhebungen, die in der Lage sind, die oben genannten weichen Determinanten der Inanspruchnahme zu erfassen und in die Bedarfsabschätzung zu integrieren.
In diesen Prozess einer umfassenden Bedarfsermittlung und ihrer regelmäßigen Fortschreibung als kontinuierliches und kleinräumiges Bedarfsmonitoring sollten neben den Partnern der Selbstverwaltung (Leitungserbringer und Kostenträger), Vertreter der Gesundheitspolitik auf verschiedenen Ebenen sowie der Wissenschaft (Epidemiologie, Versorgungsforschung) eingebunden werden, nicht zuletzt aber auch die Bürgerinnen und Bürger selbst im Sinne einer aktiven Partizipation."