„Wir müssen nichts schönreden, aber wir sollten auch nichts schlechtreden. Es gibt viele gute Gründe, optimistisch zu sein“, sagt Robert Büssow über die aktuelle Situation im Gesundheitswesen. Wie der neue Landesgeschäftsführer der Barmer Thüringen die Dinge sieht und warum er das Gesundheitswesen mit einer Sinfonie von Franz Schubert vergleicht, gibt er im Interview preis.
Herr Büssow, wenn Sie Thüringens Gesundheitswesen mit einem Song beschreiben müssten – welcher wäre das?
„Die Unvollendete“ von Schubert.
Das ist aber eine Sinfonie, kein Song.
Der Unterschied liegt in der Größe und Komplexität, sinnbildlich passt das also sehr gut.
Warum „Die Unvollendete“?
Es ist gerade viel im Gange, was dringend erfolgreich zu Ende geführt werden muss. Beispiel Krankenhausreform: Der Krankenhaustransformationsfonds bietet eine historische Chance! Insgesamt 620 Millionen Euro vom Bund stehen bereit. So viel Geld wurde seit den 90er Jahren nicht in die Kliniken investiert. Wenn mit diesem Geld moderne Strukturen entstehen, ist das wirklich Grund zur Freude.
Aktuell hört und liest man eher von Kliniken in Not. Das kann doch kein Grund zur Freude sein!
Auch vielen Thüringer Kliniken geht es nicht gut; und das obwohl die Ausgaben der Krankenkassen von Jahr zu Jahr neue Rekorde erreichen. Woran das liegt: Die letzten größeren Reformen sind auch in Thüringen gut 30 Jahre her. Die Transformation ist unvermeidlich. Thüringen jedenfalls übernimmt mit einem Bürgschaftsprogramm Verantwortung. Das ist sehr positiv. Bedarfsnotwendigen Krankenhausstandorten, die sich aktuell in schwierigem Fahrwasser befinden, wird damit geholfen.
Thüringen ist auf dem Weg, als letztes Bundesland nun auch ein Gesetz für den öffentlichen Gesundheitsdienst zu verabschieden. Kommt das nicht etwas spät?
Besser spät als gar nicht. Wenn das Gesetz so kommt, wie es im aktuellen Entwurf steht, wird Thüringen allen anderen Bundesländern um Lichtjahre voraus sein. Prävention wird fest in den Kommunen verankert, konsequente Digitalisierung und mehr Zusammenarbeit werden auch der Gesundheitsförderung einen Schub geben; und es schafft Krisenresilienz. Es wäre das modernste ÖGD-Gesetz bundesweit!
Apropos Digitalisierung. Ein Thema, das gefühlt auch schon ewig „im Gange“ ist, ist die elektronische Patientenakte.
Die elektronische Patientenakte (ePA) ist in der Versorgung angekommen und wird sie verbessern helfen. Schon jetzt haben Ärztinnen und Ärzte die ePA millionenfach aufgerufen, denn sie haben damit mehr Informationen zur Verfügung, die sie für eine adäquate Behandlung benötigen. Es müssen keine Papierbriefe mehr gesucht oder bei anderen Praxen angefordert werden, Doppeluntersuchungen werden vermieden und Risiken durch Wechselwirkungen von Medikamenten erheblich reduziert. Natürlich geht das nur, wenn die Praxissoftware hierzu fähig ist. Ich erwarte von den Herstellern, dass sie das sicherstellen. In Notfällen können sofort verfügbare Daten aus der elektronischen Patientenakte sogar helfen, Leben zu retten.
Ist die Notfallversorgung bzw. deren Reform nicht auch eine ewige Großbaustelle?
Dieses Thema schmerzt mich ganz besonders. Denn die Lösungen liegen seit Jahren auf dem Tisch, werden jedoch im Ringen um die Hoheit von Ländern und Bund verzögert. Die Notaufnahmen sind voll; oft mit Fällen, die dort nicht hingehören. Digitale Hilfsmittel werden längst nicht so genutzt, wie es möglich wäre, sei es die Ersthelfer-Alarmierung per Smartphone oder der Tele-Notarzt. Auch eine telefonische oder digitale Ersteinschätzung halte ich für sinnvoll. Sie kann den Menschen die richtigen Pfade im Dschungel der Versorgungsangebote weisen. Es braucht mehr denn je eine konsequente Strukturpolitik für eine verlässliche und erreichbare Versorgung – gerade dort, wo sie am meisten gefährdet ist. Dazu gehört auch der Rettungsdienst. Zu konsequenter Strukturpolitik gehört auch, dass die Leitstellenreform ausnahmslos vollendet wird, ohne dass einzelne Landkreise hierbei an ihren Insellösungen festhalten.
Ausnahmen bestätigen die Regel, nicht wahr?
Im Gesundheitswesen gilt wohl eher „Ausnahmen beschädigen die Regel(-versorgung)“. Zumindest bei der Krankenhausreform droht aktuell ein Schweizer Käse an Ausnahmen. Den Kliniken würde in meinen Augen damit ein Bärendienst erwiesen. Ohne klare, restriktive Zuordnung, welche Häuser welche Leistungen erbringen, werden sich die Kliniken weiter kannibalisieren – um Behandlungsfälle, aber auch um Personal. Das Ergebnis heißt dann Ausnahmezustand. Es gibt vielleicht (!) eine flächendeckende Versorgung, aber zum Preis regional schlechterer Qualität. Wer das politisch will, muss den Menschen diese Unterschiede transparent kommunizieren. Denn nur so können die Menschen sagen, da gehe ich trotzdem hin.
Ist all das am Ende nicht vor allem ein Problem, weil es an Personal mangelt?
Hier mal eine positive Botschaft: In Thüringens Kliniken arbeiten so viele Pflegekräfte und Ärztinnen und Ärzte wie nie zuvor. Doch sie werden von ineffizienten Strukturen sozusagen verschluckt. Mit der Krankenhausreform würde sich der Knoten des Personalmangels spürbar lösen. Werden die Angebote nicht fokussiert, geht das nicht nur auf Kosten der Behandlungsqualität, es wäre auch die reinste Personalverschwendung.
Das klingt jetzt schon nicht mehr so optimistisch wie eingangs.
Wir müssen nichts schönreden, aber wir sollten auch nichts schlechtreden. Es gibt viele gute Gründe, Optimismus walten zu lassen. Das gilt auch und vor allem im Gesundheitswesen. Ich denke, die Politik in Bund und Land hat erkannt, dass Gesundheit ein Fokusthema dieser Zeit sein muss. Wenn es um die medizinische Versorgung geht, verstehen die Menschen keinen Spaß.
Kommt die „Sinfonie“ in all ihrer Größe und Komplexität also noch zur Vollendung?
Das wäre zu dogmatisch gedacht. Nichts ist so beständig wie der Wandel und Anpassungen werden immer nötig sein. Wichtig ist, dass die Sinfonie fortschreitend gut orchestriert wird. Dazu braucht es politischen Willen, Mut und klare Kommunikation. Das möchte ich unterstützen.