Arzt hält virtuelle Karte in der Hand. Medizin digital
STANDORTinfo Hamburg

„Datenschützer und Ärzte haben das gleiche Interesse.“

Lesedauer unter 6 Minuten

Seit Jahresbeginn ist Prof. Dr. Christian Gerloff (60) Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des UKE. Das Haus fit für die Zukunft zu machen, auch durch mehr Digitalisierung und die Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI), ist erklärtes Ziel. Wie so etwas funktionieren kann, davon überzeugte sich der UKE-Chef bei einer Reise nach Israel. Das Land hat ein Sozialversicherungssystem, das mit dem in Deutschland vergleichbar ist. In puncto Technologieoffenheit spielt es jedoch in einer ganz anderen Liga. Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews, inwieweit Israel als Vorbild dienen kann.

Ein Mann lächelt in die Kamera

Prof. Dr. Christian Gerloff, Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf

(Foto: UKE)

Jüngst waren Sie in Israel, das als Vorreiter für zukunftsweisende Neuentwicklungen gilt. Stichworte Digitalisierung und Künstliche Intelligenz – was gibt es dort, was es auch hier geben sollte?

Darüber könnte ich ein ganzes Buch zu schreiben! Nein, mal im Ernst: Zusammengefasst kann man sagen, Deutschland hat schon ordentlich aufgeholt. Israel ist uns aber voraus, allein ob seiner besonderen geopolitischen Situation. KI-Anwendungen gibt es dort an jeder Ecke, insbesondere im Bereich der Bilderkennung. KI-basierte Überwachungssysteme sorgen im Land für zusätzliche Sicherheit. Erkenntnisse aus diesem Bereich werden übertragen auf andere Bereiche, etwa wenn es darum geht, kritische Muster in Gesundheitsdaten zu erkennen. Das ist spannend und effektiv. Generell ist das Vorgehen im Digitalen dort ein anderes: Das Verhältnis von 60 Prozent Bedenkenträgern und 40 Prozent Vorwärtsdenkern ist dort umgekehrt. Sie trauen sich etwas. Israel nennt sich zu Recht ‚Start-up-Nation‘. 
Das UKE ist hierzulande – und auch in Europa – sicherlich Vorreiter in Sachen Digitalisierung der klinischen Prozesse. Was mich aber in Israel sehr beeindruckt hat, sind der Mut und der unbedingte Wille, neue digitale, automatisierte oder robotisierte Systeme schnell in einen Testlauf zu bringen, ehrlich und transparent die Vor- und Nachteile zu sichten, Verbesserungen schnell zu implementieren, um dann – wiederum schnell – eine zweite oder dritte Generation dieser Geräte oder Algorithmen anzuwenden. Ein Beispiel: Ein digitaler Check-In in der zentralen Notaufnahme. Beeindruckt hat mich, wie professionell Start-ups in Israel gegründet und auch unterstützt werden. Dafür wird systematisch Venture-Capital organisiert, damit die neuen Unternehmen dann schnell auf den Markt gehen können.

Wenn Sie die Gesundheitssysteme beider Länder vergleichen: Wo steht Israel, wo steht Deutschland? 

Das Sozialversicherungssystem beider Länder zur Versorgung der Kranken ist durchaus vergleichbar. Ein Unterschied ist aber: Es gibt in Israel vier Krankenkassen, in der praktisch alle neun Millionen Bürgerinnen und Bürger versichert sind. In Deutschland haben wir knapp 100 Kassen bei 84 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. In Israel liegen die Daten zentral ab, sodass KI-basierte Algorithmen darauf produktiv aufsetzen können. Da ist Israel uns meilenweit voraus, wir können in Deutschland überhaupt nicht nachverfolgen, ob Patienten hierzulande von einer Behandlung profitiert haben oder nicht. Und das ist nicht zu verstehen: Warum bekommen wir das in Deutschland nicht hin? Auch in Israel haben Cybersicherheit und Datenschutz oberste Priorität. Datenschützer und Ärzte haben am Ende das gleiche Interesse. Beide wollen Menschen beschützen, die einen vor Datenmissbrauch, die anderen vor Krankheiten. Aber was wir in puncto Digitalisierung mit Bankdaten hinbekommen haben, müsste auch im medizinischen Bereich möglich sein: Daten von A nach B senden, Portallösungen, übergreifende Datenbanken. Da müssen wir einen vernünftigen Weg mit den Datenschützern finden. Statt sich von moderner, datenbasierter Forschung abhalten zu lassen, erfindet Israel sichere Lösungen - auch durch innovative Start-ups. Die Umsetzungsgeschwindigkeit ist beeindruckend. 

Und wo steht das UKE?

Wie schon erwähnt: Für sich genommen auf einem hohen digitalen Niveau. Gerade befinden wir uns mitten in einem weiteren digitalen Transformationsprozess und führen ein hochmodernes klinisches Informationssystem als Ablösung für unser 2009 in Betrieb genommenes System ein. Dies wird uns eine noch bessere Vernetzung mit Patienten sowie niedergelassenen Ärzten und Therapeuten oder auch den zuständigen Krankenkassen ermöglichen. Dennoch können wir uns von Israel hinsichtlich der Umsetzungsgeschwindigkeit und dem Austesten neuer Lösungen eine Scheibe abschneiden. Auch dafür haben wir das Memorandum of Understanding mit dem Tel Aviv Sourasky Medical Center unterzeichnet.

Egal ob generell betrachtet oder mit Blick aufs Gesundheitswesen: Deutschland tut sich beim Thema digitale Transformation schwer – was sind aus Ihrer Sicht die Vorteile von weniger analog und mehr digital?

Die Vorteile von ‚mehr digital‘ sind vielfältig: Sicherheit von Prozessen, Unterstützung von weniger erfahrenem Personal, Geschwindigkeit, Zugang zu Informationen, neue Dimensionen der Analyse, bessere und schnellere Evaluationen von Routineleistungen – um nur einige Beispiele zu nennen. Richtig eingesetzt kann die Digitalisierung die Gesundheitsberufe attraktiver machen, weil die Handelnden von Tätigkeiten entlastet werden, die automatisiert werden können, und sich dann mehr auf die Patientinnen und Patienten konzentrieren können.

Welche Rolle spielt das UKE in Zukunft für die Gesundheitsversorgung in Hamburg und im Umland/in der Metropolregion?

Das UKE ist als Maximalversorger sehr gut aufgestellt. Und das ist auch unsere Zielrichtung. Ich sehe uns als Treiber medizinischer Innovation, als zentrale Schaltstelle in unserem Gesundheitsnetzwerk mit einem öffentlichen Auftrag. Nämlich den Menschen in der Metropolregion die bestmögliche medizinische Versorgung zukommen zu lassen, auch und gerade, wenn es sich um neueste Behandlungsmethoden handelt. Unseren Netzwerkpartnern wollen wir unser Wissen zur Verfügung stellen, um das System gemeinsam besser und effizienter zu machen. 

Ist in diesem Zusammenhang die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach angestrebte Krankenhausreform ein Schritt in die richtige Richtung? 

Es ist ein enormer Schritt vorwärts. Und die Reform ist dringend nötig. Wenn 96 Prozent der Krankenhäuser in Deutschland für die kommenden Jahre Defizite aus dem laufenden Betrieb melden, wenn auf dem Land die Versorgung immer schmaler wird und in Ballungsgebieten dringend nötige Betten nicht mehr betrieben werden können, weil das Personal fehlt, können wir nicht wegsehen. Heute liegen Menschen aus ethischen Gründen oft wochenlang in Maximalversorger- und Universitätskliniken, weil nach initialer Therapie keine Weiterverlegungsmöglichkeit besteht, kein Platz in einer Pflegeeinrichtung zu finden oder kein Pflegedienst zu organisieren ist, diese Menschen sich aber Zuhause nicht allein versorgen können. Das kann so nicht weitergehen. 
Mir gefallen an den Reformplänen zwei Aspekte besonders gut: Erstens das klare Bekenntnis zur Universitätsmedizin, das angedachte ‚Levell IIIu, und zweitens das Konzept, um den Übergang von stationär zu ambulant zu verbessern, um den Weg zurück in die Häuslichkeit zu ermöglichen, das angedachte ‚Level Ii‘. Der erste Punkt adressiert erstmals offen und ehrlich, dass Universitätsmedizin eine unverzichtbare Rolle in jedem modernen Gesundheitssystem spielt. Der zweite Punkt könnte das jetzt so prekäre Problem der Weiterversorgung nach initialer Therapie im Maximalversorger lösen. Diese kleineren Einrichtungen müssen aber attraktiv gestaltet werden. Sie sind enorm wichtig. Man muss sie konsequent digitalisieren und automatisieren, wo immer möglich, sie sehr gut ausstatten und sie am besten wirklich aus dem DRG-System nehmen. Dann dürften sie auch attraktive Arbeitsplätze bieten. Im Fokus müssen die Patientinnen und Patienten in einem modernen Umfeld stehen. 

Noch einmal zurück zur Künstlichen Intelligenz: Was kann sie schon heute leisten, und was wird sie in den kommenden Jahren zu leisten imstande sein, soweit sich das vom heutigen Standpunkt aus überblicken lässt? 

Digitale Intelligenz wird menschliche Intelligenz nicht ersetzen. Das ist auch nicht das Ziel. Sondern es geht darum, Medizin besser und sicherer zu machen, ärztliche Einschätzungen zu prüfen und zu unterstützen. Schon jetzt haben wir Assistenzsysteme, Diagnostikalgorithmen und vieles mehr. Wir müssen schnellstmöglich schlanke regulatorische Prozesse schaffen, mit denen wir diese Leistungen in die Praxis bringen. Als Beispiel können wir ganz konkret ein am UKE entwickeltes System zur Vorhersage kritischer Hirndruckzustände bei Intensivpatientinnen und -patienten nennen.

Anders gefragt: Was kann und was sollte KI nicht leisten? 

Fragt man die Menschen, ob sie ihre Diagnose vom Computer oder Roboter erhalten möchten oder von einem Arzt, antworten mehr als 90 Prozent: Natürlich von einem Arzt. Wir müssen technische Neu- und Weiterentwicklungen immer aus der Patientenperspektive betrachten. Ich mache mir keine Sorgen, dass wir in die Situation kommen, das Künstliche Intelligenz allein entscheidet. Sie wird uns aber als Leistungserbringer noch einmal deutlich verbessern.  
 

+ + +

Hier gelangen Sie zum ersten Teil des Interviews aus Ausgabe 2/2023 der STANDORTinfo Hamburg.