Barmer-Arzneimittelreport

Riskante Informationslücken bei der Arzneimitteltherapie

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Der Contergan-Skandal liegt mehr als 60 Jahre zurück. Aber noch immer erhalten Frauen im gebärfähigen Alter Arzneimittel, die zu Fehlbildungen bei ungeborenen Kindern führen können. Das geht aus dem diesjährigen Barmer-Arzneimittelreport hervor. Diese riskanten Medikamente, sogenannte Teratogene, wurden innerhalb eines Jahres mehr als sieben Prozent der Baden-Württembergerinnen im Alter zwischen 13 und 49 Jahren verordnet. Hochgerechnet sind das mehr als 178.000 Frauen. Von ihnen erhielten mehr als 13.000 ein unzweifelhaft starkes Teratogen. Diese Teratogene, die zum Beispiel bei der Behandlung von Epilepsie angewendet werden, verzehnfachen das Risiko einer Fehlbildung.

Ein Mann mit Glatze, Brille und Anzug lächelt in die Kamera

Winfried Plötze, Landesgeschäftsführer der BARMER in Baden-Württemberg

"Wir verteufeln Teratogene nicht und deren Verordnung ist auch nicht zwangsläufig ein Behandlungsfehler. Was wir aber fordern, ist, dass die Medikation von jungen Frauen grundsätzlich auf kindsschädigende Risiken geprüft wird. Und zwar unabhängig von einer Schwangerschaft. Denn der Schutz des Kindes muss schon vorher beginnen", sagt Winfried Plötze, Landesgeschäftsführer der Barmer in Baden-Württemberg. Momentan ist diese Kontrolle nicht der Standard. In einer Umfrage unter 1.300 bei der Barmer versicherten Frauen, die im vergangenen Jahr entbunden haben, gaben 32 Prozent der Frauen mit geplanter und 69 Prozent der Frauen mit ungeplanter Schwangerschaft an, dass ihre Arzneimitteltherapie vorher nicht auf Unbedenklichkeit überprüft wurde. Ein Medikamenten-Check während der Schwangerschaft kommt aber zu spät, um das Kind vor möglichen Missbildungen zu schützen.

Rechtsanspruch auf bundeseinheitlichen Medikationsplan gefordert

Problematisch ist auch, dass die Verordnung von Arzneimitteln nur unzureichend dokumentiert wird. 17,7 Prozent der Baden-Württembergerinnen im gebärfähigen Alter nehmen mindestens ein Medikament regelmäßig ein. Idealerweise wird eine Arzneimitteltherapie im Medikationsplan festgehalten. Er informiert alle behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Doch der Medikationsplan ist häufig Mangelware. 86 Prozent der befragten Frauen gaben an, keinen Medikationsplan zu besitzen.

Portraitfoto von Doktor Ursula Marschall, Leitende Medizinerin der Barmer

"Arzneimittelverordnungen vor und in der Schwangerschaft sind keine Seltenheit. Etwa, wenn eine chronische Krankheit behandelt wird. Die Informationslücke ist aber ein Risiko. Gynäkologinnen und Gynäkologen können nur adäquat beraten, wenn ihnen die vollständige Medikation der Patientinnen bekannt ist", sagt Dr.  med. Ursula Marschall, leitende Medizinerin bei der Barmer. Hinzukommt, dass nicht alle jungen Frauen einen Rechtsanspruch auf den sogenannten bundeseinheitlichen Medikationsplan haben. Den haben nur Patientinnen, die dauerhaft mindestens drei Arzneimittel gleichzeitig einnehmen. Ein Fehler, sagt Marschall. "Dabei wird übersehen, dass das Risiko für das ungeborene Kind nicht von der Anzahl, sondern von der Art des verordneten Arzneimittels abhängt." Die Barmer fordert deshalb einen Rechtsanspruch auf den bundeseinheitlichen Medikationsplan für alle junge Frauen, die dauerhaft mindestens ein Medikament einnehmen. 

Schwangere setzen Arzneimittel aus Sorge vor Schäden ab

Auch an anderer Stelle gibt es riskante Kommunikationslücken. Vor einer Schwangerschaft sind es vor allem die Hausärzte, die Medikamente verordnen. Sie werden von den Patientinnen aber nur selten über eine geplante Schwangerschaft informiert. Das kann dazu führen, dass Teratogene nicht rechtzeitig abgesetzt oder ersetzt werden, sofern möglich. Auch das spricht dafür, dass bei jungen Frauen grundsätzlich bewertet werden muss, ob die verordneten Medikamente im Fall einer Schwangerschaft Fehlbildungen verursachen können. "Das ist auch deshalb sinnvoll, weil ein Drittel der Schwangerschaften nicht geplant ist", ergänzt Ursula Marschall. Viele Frauen haben auch Angst davor, ihr Kind durch die Einnahme von Arzneien zu schädigen. Deshalb setzt laut Umfrage jede Fünfte ihre Medikamente ab, teilweise ohne ärztliche Rücksprache. Aber auch das kann für Mutter und Kind riskant sein. Etwa beim eigenmächtigen Absetzen von Antidepressiva. Auch deshalb ist es wichtig, dass die Ärztinnen und Ärzte die Frauen umfassend über die verordneten Medikamente aufklären. Plötze: "Auch hier zeigt sich, dass wir bei der Arzneimitteltherapie in erster Linie über Informationslücken sprechen, die geschlossen werden müssen. Denn sie sind ein Risiko, das grundsätzlich vermeidbar ist."

Informationen über Arzneimittel und Schwangerschaft

Die Website www.embryotox.de des Embryonaltoxikologischen Instituts der Charité berät laienverständlich zu Fragen der Arzneimitteltherapie. Hier finden Schwangere Informationen zu mehr als 400 Arzneimitteln. Unter www.barmer.de/s000073 stellt die Barmer Informationen zum Thema Arzneimitteleinnahme während der Schwangerschaft zur Verfügung. Etwa zu Medikamenten bei akuten Erkrankungen während der Schwangerschaft oder welche Medikamente zur Behandlung einer chronischen Erkrankung während der Schwangerschaft erlaubt sind. 

Barmer-Projekt soll kindsschädigende Verordnungen reduzieren

Zudem treibt die Barmer Innovationsfondsprojekte an, welche die Sicherheit der Arzneimitteltherapie erhöhen sollen. Das neueste geplante Projekt eRIKA soll etwa dafür sorgen, dass die Ärztin oder der Arzt bereits beim Ausstellen eines Rezeptes Transparenz zur Gesamtmedikation erhalte. Hier arbeitet die Barmer neben Ärzteschaft und Apotheken mit der Berliner Charité zusammen. Für Frauen im gebärfähigen Alter erhalten die Ärztinnen und Ärzte im Rahmen von eRIKA zum Zeitpunkt der Verordnung automatisch Hinweise auf Arzneimittel, die in der Frühschwangerschaft problematisch sind. Weiterhin kann eine patientenfokussierte digitale Anwendung bereitgestellt werden, um ergänzend Schwangeren oder Frauen, die eine Schwangerschaft planen, derartige Warnhinweise zu geben.