Pressemitteilungen 2019

Barmer-Umfrage zur Zweitmeinung: Bürger zweifeln am Sinn von Operationen

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Berlin, 5. Juli 2019 – Millionen Patientinnen und Patienten in Deutschland zweifeln an der Notwendigkeit von planbaren medizinischen Eingriffen. Das belegt eine repräsentative Barmer-Erhebung, für die im März bundesweit 1.000 Männer und Frauen ab 18 Jahren befragt wurden. Demnach ist mehr als jeder Zweite (56 Prozent) unsicher, ob die Operation tatsächlich notwendig ist. Aber nur 57 Prozent der Befragten mit einem planbaren medizinischen Eingriff veranlassen ihre Zweifel, sich eine Zweitmeinung einzuholen. Dabei zeige die Umfrage, dass die Meinung anderer Ärztinnen oder Ärzte in nicht wenigen Fällen ganz anders ausfalle. Zwar gäben 72 Prozent der Befragten an, die Diagnose bestätigt bekommen zu haben, 21 Prozent bekämen die Therapieempfehlung bestätigt. Damit wurden diese Antwortalternativen am häufigsten gewählt. Acht Prozent erhielten jedoch eine andere Diagnose, 17 Prozent eine andere Therapieempfehlung. „Wir haben ein Informationsdefizit in Deutschland, was Operationen angeht. Wissens- und Informationslücken dürfen nicht dazu beitragen, dass unnötige Eingriffe vorgenommen werden“, sagt Prof. Dr. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer. Er forderte die Patientinnen und Patienten auf, konsequent vom Recht auf Zweitmeinung Gebrauch zu machen. Wer zwei Meinungen höre, folge laut Umfrage zu mehr als der Hälfte der Alternativauffassung (56 Prozent).

Alter, Bildung und Einkommen beeinflussen Interesse

Die zusammen mit dem Marktforschungsunternehmen respondi durchgeführte Online-Umfrage zeige, dass die Faktoren Alter, Bildung und Einkommen die Offenheit gegenüber Zweitmeinungen beeinflussen. Je höher Einkommen und Bildung, desto öfter würden weitere Meinungen erfragt. Der Effekt zeige sich auch bei einzelnen Altersgruppen, wobei die 40- bis 49-Jährigen als besonders kritisch auffielen. „Mit dem sozialen Status und der Lebenserfahrung steigt die Bereitschaft, ärztliche Empfehlungen zu hinterfragen. Zweitmeinungen sind jedoch für Patientinnen und Patienten jeden Alters interessant, die vor einem planbaren Eingriff stehen“, so Straub. Die Barmer habe seit dem Jahr 2013 Angebote für Zweitmeinungen vor Eingriffen an Rücken, Knie, Hüfte und zu Zahnersatz aufgelegt. 

Ergebnisse der Umfrage im Detail

Sozioökonomische Einflussfaktoren

Zwei Drittel der Befragten (65 Prozent) bejahten, dass sie vor einem planbaren medizinischen Eingriff Wert auf eine Zweitmeinung legen würden. Bei Frauen ist die Bereitschaft dazu mit 69 Prozent deutlicher ausgeprägt als bei Männern, von denen dies nur 61 Prozent wichtig finden. Den Einfluss der sozioökonomischen Faktoren Alter, Bildung und Einkommen zeigt die folgende Grafik. Offenbar besteht ein Zusammenhang zwischen der Höhe des Einkommens und des Bildungsstandes mit der Bereitschaft zum Einholen einer Zweitmeinung. Tendenziell wächst auch mit dem Lebensalter die Bereitschaft, medizinische Diagnosen und darauf basierende Therapieoptionen zu hinterfragen.
 

Grafik Zweitmeinung

Die Grafik kann unter Angabe der Quelle „Barmer“ kostenfrei genutzt werden. 

Wenn Zweifel fehlen

Von den Befragten, die keine Zweitmeinung eingeholt haben, nennen 67 Prozent als Grund für den Verzicht, dass sie die Notwendigkeit des Eingriffs nicht bezweifelten. Mehr als jeder Zweite (55 Prozent) fühlte sich vom Arzt ausreichend aufgeklärt. 

Zwei zusätzliche Meinungen am häufigsten

Die Mehrheit derer, die Zweifel an einer anstehenden Therapie hat, wünscht sich der Umfrage nach sogar mehr als nur eine weitere Meinung. So holt mehr als die Hälfte zwei weitere Einschätzungen ein (56 Prozent). Während vier von zehn Befragten (38 Prozent) mit einer zusätzlichen Meinung auskommen, holen sechs Prozent drei und mehr zusätzliche Voten ein. Dabei scheint die Wahl mit der Zahl zusätzlicher Einschätzungen schwieriger zu werden. Von den Patientinnen und Patienten, die sich auf zwei Meinungen stützen, folgen 56 Prozent der zweiten Empfehlung. Haben die Befragten drei oder mehr Experten gehört, fällt ihre Wahl zu etwa gleichen Teilen auf die erste, zweite und dritte Meinung.  

Entscheidung folgt Nutzen-Risiko-Abwägung

Leitkriterium für die letztendliche Entscheidung der Patientinnen und Patienten ist dann eine Abwägung zwischen möglichen Risiken und dem zu erwartenden persönlichen Nutzen des Eingriffs (58 Prozent). Der Ruf der Klinik, in dem der Eingriff stattfinden sollte, war für ein Drittel der Befragten entscheidend.

Facharztgruppen und Eingriffsarten

Am häufigsten holten die Befragten Zweitmeinungen ein, wenn es um planbare Eingriffe im Bereich der Orthopädie und Unfallchirurgie (27 Prozent) und der allgemeinen Chirurgie (24 Prozent), der Gynäkologie (zehn Prozent) sowie der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde (acht Prozent) ging. Am häufigsten ging es bei Zweitmeinungen um Eingriffe am Bewegungsapparat (19 Prozent), dem Verdauungstrakt und den Geschlechtsorganen (jeweils neun Prozent).

Barmer-Umfrage Zweitmeinung

Die kompletten Ergebnisse der Barmer-Umfrage zum Thema Zweitmeinung finden Sie unter www.barmer.de/p011751.

Hintergrundinformationen zum Thema

Rechtsgrundlage

Der Gesetzgeber hat mit dem Versorgungstärkungsgesetz zum 23. Juli 2015 mit § 27b SGB V den Anspruch auf eine unabhängige ärztliche Zweitmeinung eingeführt. Der Anspruch richtet sich insbesondere auf solche Indikationen, bei denen mit Blick auf die zahlenmäßige Entwicklung die Gefahr einer Indikationsausweitung nicht auszuschließen ist.

Richtlinie

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) wurde damit beauftragt, eine Richtlinie über die Konkretisierung des Anspruchs auf eine unabhängige ärztliche Zweitmeinung zu beschließen. Die Richtlinie zum Zweitmeinungsverfahren (Zm-RL) ist im Dezember 2018 in Kraft getreten. Die Zm-RL legt den Leistungsumfang, die Aufgaben der indikationsstellenden Ärzte sowie die Anforderungen und Aufgaben der Ärzte fest, die eine Zweitmeinung abgeben. Außerdem bestimmt sie die Eingriffe, bei denen ein Anspruch auf Einholung einer Zweitmeinung besteht, sowie die eingriffsspezifischen Anforderungen. Bislang gibt es auf Basis der Zm-RL Anspruch auf Zweitmeinungen zu Mandeloperationen (Tonsillotomien und Tonsillektomien) und Gebärmutterentfernungen (Hysterektomien).

Angebote über den gesetzlichen Rahmen hinaus

Krankenkassen können über die gesetzliche Regelung nach §27b SGB V hinaus zusätzliche besondere Verträge über Zweitmeinungen mit anerkannten Spezialisten für einzelne Indikationen schließen. Die Barmer hat solche Verträge für die Bereiche geplante Rücken-, Knie- und Hüftoperationen sowie den Bereich Zahnersatz und Kieferorthopädie geschlossen. Dabei erweist sich insbesondere das Zweitmeinungsverfahren bei Knie- und Hüftarthrose als erfolgreich. Das Versorgungsangebot setzt auf ein Netzwerk aus Fachärzten und Physiotherapeuten, die mit einer konservativen Therapie Operationen vermeiden oder verzögern wollen. Dies gelang bei der Indikation Kniearthrose zu 89 Prozent, bei Hüftarthrose zu 73 Prozent. Allein im Jahr 2018 nahmen daran 1.900 Patientinnen und Patienten teil. Bei ihnen reduzierte sich durch die konservative Therapie zum Beispiel die Schmerzintensität zwischen Beginn und Abschluss der Therapie im Schnitt um 43 Prozent (bei Kniearthrose) bzw. 33 Prozent (bei Hüftarthrose). Kooperationspartner der Barmer ist die Deutsche Arzt AG.

Weiterführende Informationen

Zur Motivation des Gesetzgebers, einen erweiterten Anspruch von Versicherten auf Zweitmeinungen einzuführen, sei ein Artikel aus den GMS-Mitteilungen (GMS steht für German Medical Science) der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) empfohlen. Demnach sei es eine Intention des Gesetzgebers gewesen, einer medizinisch nicht begründeten Indikationsausweitung entgegenzutreten. Dieses Argument stützt sich im Wesentlichen auf einen Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 2013, demzufolge Deutschland Weltmeister bei der Zahl von Krankenhausbehandlungen und Operationen sein soll – insbesondere bei der Durchführung von Hüftgelenks- und Bypassoperationen (OECD Health at Glance, 2013). Laut der Gesundheitsberichterstattung des Bundes stieg die Zahl der Operationen in deutschen Krankenhäusern in den Jahren 2005 bis 2017 von 12,13 Millionen auf 16,87 Millionen.

Was Patienten wissen sollten

Recht auf eine Zweitmeinung zu haben, ist für Patientinnen und Patienten mit konkreten Ansprüchen verbunden. Für sie ist es auf Grund des Rechtes auf freie Arztwahl unproblematisch, einen zweiten Mediziner um Rat zu fragen. Zweitgutachter können ihre Beratung mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen. Die für eine Zweitmeinung notwendigen Unterlagen sind in der Patientenakte enthalten, auf die Patienten einen vollen Anspruch auf Einsicht haben. Wer eine Zweitmeinung einzuholen beabsichtigt, sollte mit dem behandelnden Arzt sprechen und sich von ihm die notwendigen Berichte, Laborergebnisse oder Röntgenbilder aushändigen lassen. In Rechnung stellen darf der behandelnde Arzt dabei allenfalls Kosten für Kopien.