Ein junger Mann nutzt digitale Möglichkeiten, um noch besser mit seiner Ärztin kommunizieren zu können.
STANDORTinfo für Thüringen

Digital durch die Pandemie

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Berlin/Erfurt. Ein stark fragmentiertes System, hohe regulatorische Hürden, lange Prozesse, schier endlose Debatten und die ungleiche Verteilung von Kosten und Nutzen sind Gründe dafür, weshalb das Gesundheitswesen bisher (zu) wenig digitalisiert ist. Die Corona-Pandemie zeigt, dass es auch anders geht. Ein Beispiel dafür ist die Videosprechstunde. Bisher kaum beachtet, boomt das Arztgespräch per Bildschirm. Digitale Schubrakete COVID-19? Ein Gespräch mit Benjamin Westerhoff, Abteilungsleiter Produktentwicklung und Produktstrategie der Barmer.

Benjamin Westerhoff; ein junger Mann mit braunen Haaren, schwarzen Sakko und weißen Hemd schaut in die Kamera.

Herr Westerhoff, auch in Thüringen bieten immer mehr Ärzte eine Videosprechstunde an. Ende 2019 waren es gerade einmal 24 Ärzte und Psychotherapeuten, ein halbes Jahr später bereits knapp 550. Wird die Corona-Pandemie zum disruptiven Element im Gesundheitswesen?

Disruption ist ein großes Wort. Ich würde COVID-19 zunächst als starken Impuls verstehen, mit dem es gelingt, auch bislang eher skeptische Player im Gesundheitswesen zu erreichen und zu überzeugen. Die Steigerungsraten bei der Videosprechstunde sind tatsächlich beeindruckend. Aber wir kommen hier auch von einem extrem niedrigen Niveau. Nach Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung hat mittlerweile etwa ein Viertel der Ärzte den Videokanal in der Praxis ausprobiert. Wie viele weitere hinzukommen und wie viele dabeibleiben, sollten wir nüchtern betrachten. Ganz bestimmt freue ich mich aber über den aktuellen Push.

Gibt es, abgesehen von der Videosprechstunde, einen weiteren Bereich im Gesundheitswesen, der aufgrund der Pandemie einen Digitalisierungsschub erlebt?

Sämtliche Präventions- und Versorgungsangebote, die rein digital oder vorwiegend digital angeboten werden, können gerade unter Beweis stellen, dass sie echte Alternativen und nicht bloß Gimmicks sind. So sind beispielsweise Rehasport und Nachsorge plötzlich digital möglich. Auch die Barmer hat bestehende Möglichkeiten ausgebaut und neue digitale Services eingeführt. Diverse Schulungsformate im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements sind verstärkt online möglich. Unsere Hebammenberatung für Schwangere und Eltern, die wir gemeinsam mit Kinderheldin anbieten, haben wir um eine Videosprechstunde und Online-Kurse zur Geburtsvorbereitung und Rückbildung erweitert. Für unsere Initiative „Ich kann kochen!“, bei der wir Pädagoginnen und Pädagogen in praktischer Ernährungsbildung schulen, haben wir ein komplett digitales Format entwickelt. Und zu Beginn der Corona-Pandemie haben wir unsere sehr gefragte Coronasprechstunde über den Teledoktor geschaltet. Das sind natürlich nur einige Beispiele. Überdies gibt es Projekte wie die Entwicklung eines molekulargenetischen Tests auf SARS-CoV-2 für den Hausgebrauch, die momentan große Aufmerksamkeit erfahren.

Die Barmer hat bereits viele Services digitalisiert. Haben sich die Nutzerzahlen während der Corona-Pandemie verändert?

Ja, sie sind deutlich gestiegen. Erfreulicherweise sind viele unserer Kunden sehr schnell auf unsere digitalen Angebote und Kontaktmöglichkeiten umgestiegen. Im ersten Quartal ist die Zahl der Downloads der Barmer-App um fast 20 Prozent gestiegen, und die Zahl der Krankschreibungen, die über diese App eingereicht wurden, legte um 40 Prozent im Vergleich zum letzten Quartal 2019 zu. Auch das Corona-Special auf unserer Website wird mit monatlich mehr als 36.000 Aufrufen gut angenommen.

Welches digitale Projekt ist bei der Barmer aktuell in der Pipeline?

Am 1. Januar geht unsere elektronische Patientenakte (ePA), die Barmer eCare, an den Start. Zunächst mit den vorgeschriebenen Pflichtfunktionen, aber wir entwickeln bereits fleißig weitere Anwendungen. Beispielsweise wird unsere ePA die Patienten zukünftig an die Einnahme von Medikamenten erinnern. Darüber hinaus sind wir dabei, den Barmer Kompass in der Barmer-App auszubauen. Derzeit können unsere Versicherten im Barmer Kompass den Bearbeitungsstatus ihres Antrags auf Krankengeld verfolgen. Das wird künftig auch bei einem Antrag auf Mutterschaftsgeld, Haushaltshilfe und Hilfsmittel möglich sein. Wer schon einmal online etwas gekauft hat, kennt dieses Tracking von der Sendungsverfolgung. Dort ist einsehbar, wann ein Paket verschickt wurde und wann es ankommt. Im E-Commerce ist das bereits gang und gäbe, in der gesetzlichen Krankenkasse ist das aber ein einmaliger Service, den die Barmer ihren Versicherten hier bietet. Auch den Ausbau des Barmer Teledoktors treiben wir weiter voran. Triagierung und zusätzliche Services stehen dabei im Fokus.

Die Arztpraxen haben sich nach dem Lockdown allmählich wieder gefüllt. War es etwa nur ein kurzes Hoch für die Videosprechstunde?

Sicher nicht. Es ist bekannt, dass Hybride aus digitaler und physischer Behandlung besser funktionieren als rein digitale Angebote. Und speziell bei der Videosprechstunde ist vollkommen klar, dass sie nicht für alle Indikationen geeignet ist. Deswegen ist eine Triagierung sinnvoll. Jeder versteht, dass ein gebrochenes Bein oder ein Schlaganfall nicht nur über den Bildschirm behandelt werden können. Aber in Verbindung mit dem e-Rezept, das im Jahr 2022 verbindlich kommt, wird es eine größere Reihe an Indikationen geben, bei denen sich die Telemedizin bestens eignet, etwa bei Harnwegsinfekten oder Augenentzündungen. Und eines sollten wir auch nicht vergessen: Es gibt Landstriche in Deutschland, in denen es schwierig ist, einen Arzt zu erreichen. Und für immobile Patienten wäre die Telemedizin ebenfalls eine Erleichterung. Hier liegen die Vorteile auf der Hand. Der Begriff des Digitalisierungsschubs ist deshalb schon ganz passend. Wer einmal erlebt hat, wie unkompliziert man eine Krankschreibung per App einreichen kann, der wird sich auch in Zukunft den Weg zur Post sparen. Bei vielen digitalen Gesundheitsangeboten wird das ähnlich sein.