Pressemitteilungen aus Thüringen

Bei jedem vierten jungen Erwachsenen in Thüringen wird eine psychische Störung diagnostiziert

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Erfurt, 14. Juni 2018 – Körperlich fit, aber die Seele leidet: Jeder vierte junge Erwachsene in Thüringen ist von einer psychischen Erkrankung betroffen. Laut Arztreport der Barmer wurde 2016 in Thüringen bei 27,2 Prozent der Versicherten im Alter von 18 bis 25 Jahren eine psychische Störung diagnostiziert. Umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung sind das über 38.000 Betroffene. Insbesondere Depressionen sowie Angst- und Verhaltensstörungen machen der vermeintlich gesunden Altersgruppe zu schaffen. Im Bundesvergleich liegt Thüringen etwas über dem Durchschnitt (25,8 %). Für den Report wurden Arzt-Abrechnungen aller Versicherten der Barmer ausgewertet.

Die Grafik zeigt die die Anzahl der psychischen Störungen im Alter von 18 bis 25 Jahren im Jahr 2016.

Psychische Störungen im Alter von 18 bis 25 Jahren im Jahr 2016


Birgit Dziuk, Landesgeschäftsführerin der Barmer: „Zeit- und Leistungsdruck sowie Sorgen um die Zukunft hinterlassen deutliche Spuren. Unser Report zeigt, dass wir verstärkt auf Präventionsangebote setzen müssen. Zumal wir davon ausgehen, dass die Dunkelziffer noch höher ist. Denn nicht jeder junge Mensch mit psychischen Problemen sucht ärztliche Hilfe.“ Hinzu kämen geänderte Lebensgewohnheiten: „Das Handy ist für viele zum Taktgeber ihres Lebens geworden. Abschalten und zur Ruhe zu kommen, fällt einem dann immer schwerer“, so Dziuk.

Erkrankungsrisiko steigt mit der Dauer des Studiums

Ältere Studierende sind laut Arztreport besonders gefährdet psychisch zu erkranken. Während im 18. Lebensjahr erst 1,4 Prozent der Studierenden erstmals an einer Depression erkrankten, waren es zum 30. Lebensjahr bereits rund 4 Prozent. Bei den 30-jährigen Nicht-Studierenden beträgt der Anteil dagegen nur 2,7 Prozent.

Mehr niedrigschwellige Hilfsangebote erforderlich

Aus Sicht der Barmer sind insbesondere niedrigschwellige Angebote erforderlich. „Häufig meiden Betroffene den Gang zum Arzt. Ein großes Potenzial sehen wir daher in Online-Angeboten, vor allem, wenn sie anonym sind und den Nutzungsgewohnheiten der Generation Smartphone entgegenkommen. Sie können eine Behandlung nicht ersetzen, aber ergänzen und Wartezeiten überbrücken“, so Dziuk.

Diese Einschätzung teilt Dr. David Daniel Ebert vom Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Friedrich-Alexander Universität Erlangen Nürnberg (FAU). „57 Prozent der Menschen mit psychischen Beschwerden suchen keinen Arzt auf. Und das liegt nicht an zu langen Wartezeiten oder zu wenigen Therapeuten. Der Grund ist, dass die Betroffenen nicht zum Arzt gehen weil sie glauben, das Problem selbst in den Griff zu bekommen“, so Ebert.

So vergehen im Schnitt acht bis zehn Jahre, bis sich psychisch Kranke in ärztliche Behandlung begeben. Die Barmer hat deshalb gemeinsam mit der FAU das Projekt StudiCare aufgelegt, um geeignete Maßnahmen für Studierende in Deutschland zu erforschen und zu entwickeln. StudiCare wird auch von der WHO unterstützt. Online-Trainings sind eher ein Coaching, sie ersetzen keine Psychotherapie. Ebert: „Wir sehen aber ganz deutlich, dass sich die Lebensqualität der Teilnehmer verbessert. Und wir erreichen mit diesen niederschwelligen Online-Angeboten Menschen, die sich ansonsten gar keine Hilfe holen würden.“ Noch früher, nämlich bei Schülern und Lehrern, greifen gezielte Fortbildungen (MindMatters) und Beratungsnetzwerke („Verrückt? Na Und!“), die von der Barmer in Thüringen unterstützt werden.

Statement: Paul Jäckel, Sprecher des Fachschaftsrats Psychologie der Universität Erfurt

Paul Jäckel

Viele Erstsemester sind zunächst mit dem universitären Alltag überfordert und haben Probleme mit der Selbstorganisation. Ich erlebe beispielsweise, dass sich einige Eltern übermäßig einmischen, beziehungsweise viele Studierende das zulassen und ihre Eigenständigkeit nur langsam entwickeln. Das kommt insbesondere bei Studierenden vor, die nach der Schule direkt ein Studium aufgenommen haben, ohne vorher andere Eindrücke zu sammeln und damit ihre eigenen Interessen, Fähigkeiten und ihre Persönlichkeit zu entwickeln.

Später können in den vollen Prüfungsphasen auch schnell Versagensängste entstehen. Wenn neben den Zweifeln an die eigenen Fähigkeiten dann noch Zweifel am Studium aufkommen, gehen Motivation und Energie auf Tauchstation. Nach dem Motto: "Was will ich und was kann ich davon? Habe ich mich zwischen all den Studiengängen überhaupt für den Richtigen entschieden?" Vielen fällt dies, bei einem so großen Angebot, einem verschulten Bachelorsystem und in einer Welt voller Ablenkungen, schwer. Dann werden sie schwermütiger, blenden aus und schieben auf, fallen mal durch, wechseln den Studiengang und plötzlich studieren sie bis Ende zwanzig. Ohne Kindergeld, mit weniger Unterstützung der Eltern und sie müssen sich selbst versichern und nebenbei jobben, während der Druck auf sie weiter ansteigt.

Ich habe aber auch den Eindruck, dass manche heute schneller zum Arzt oder Psychotherapeuten gehen, selbst wenn es nur eine kurze Krise oder depressive Episode ist. Ich kenne selbst mehrere Kommilitonen, die in Behandlung sind - stationär wie ambulant.

Nicht zu unterschätzen ist auch die Abhängigkeit von Handy und sozialen Medien. Der Körper befindet sich in einer Art permanentem Bereitschaftsdienst und kommt nicht mehr zu Ruhe. Viele junge Menschen können sich ein Leben ohne Smartphone, selbst zeitweise, gar nicht mehr vorstellen. Um sich besser konzentrieren und den Anforderungen in der Klausurenphase gerecht werden zu können, wird dann auch mal auf Koffeintabletten bis hin zu Drogen zurückgegriffen.

Dies bestätigt sich in einer Befragung der Universität Lübeck, in der ein Drittel der Studierenden mindestens einmal Mittel zur Leistungssteigerung eingenommen haben – dazu wurden Drogen wie Speed, aber auch Ritalin und Vitamintabletten gezählt. Ich empfehle als Maßnahmen niedrigschwellige, kostenfreie Angebote und Trainings zur Achtsamkeit und Psychohygiene, die er auch selbst durchführt. Das Studierendenwerk Thüringen bietet außerdem eine Psychosoziale Beratung an.

Paul Jäckel ist Sprecher des Fachschaftsrats Psychologie der Universität Erfurt. Er arbeitet zudem bundesweit als geprüfter und zertifizierter Mental-Trainer sowie Kursleiter für Meditation & Entspannung. Zusätzlich studiert er Lehr- Lern- und Trainingspsychologie und ist Mitarbeiter wie Studierendenvertreter an der Universität Erfurt.

Das Studierendenwerk Thüringen bietet landesweit eine Psychosoziale Beratung an. Studenten können sich sowohl mit studienbedingten Problemen als auch in persönlichen Konfliktsituationen an uns wenden. Auch eine anonyme Online-Beratung ist möglich. Die Psychosoziale Beratung hilft unter anderem bei Lern- und Arbeitsstörungen, familiären Konflikten, sozialen Störungen, Prüfungsängste, depressiven Verstimmungen oder einer Suchtgefährdung. Weitere Informationen unter: www.stw-thueringen.de/deutsch/beratung/psychosoziale-beratung/index.html

Barmer bietet Hilfe bei psychischen Problemen:

Die Barmer hat mit der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg das von der WHO unterstützte Projekt „StudiCare“ aufgelegt. Darin werden nicht nur zielgerichtete Maßnahmen für Studierende in ganz Deutschland entwickelt. Es wird auch erforscht, wie Betroffene möglichst frühzeitig erreicht werden können. Mehr zu StudiCarewww.studicare.com

Darüber hinaus hat die Barmer im Jahr 2015 als erste Krankenkasse mit „PRO MIND“ ein Online-Training implementiert, das nachgewiesenermaßen Depressionen erfolgreich verhindert. Beispielsweise konnte das Risiko, innerhalb eines Jahres an einer Depression zu erkranken, um 40 Prozent reduziert werden. Das Online-Training haben bereits rund 2.100 Menschen genutzt. Mehr zum Online-Training PRO MIND unter www.barmer.de/g100069.