STANDORTinfo Schleswig-Holstein – Ausgabe September 2025

Effizienz statt Überlastung - Wie Patientensteuerung die Gesundheitsversorgung verbessern kann

Lesedauer weniger als 5 Min

Die Gesundheitsversorgung leidet unter knappen Ressourcen, überfüllten Notaufnahmen, langen Wartezeiten und steigenden Kosten. Eine gezielte Patientensteuerung könnte das System effizienter machen. Doch wie lässt sich das umsetzen?

Dr. Bernd Hillebrandt, Landeschef der Barmer in Schleswig-Holstein, beschreibt, wie eine gezielte Patientensteuerung die Gesundheitsversorgung verbessern kann.

Dr. Bernd Hillebrandt, Landesgeschäftsführer der Barmer in Schleswig-Holstein

Dr. Bernd Hillebrandt, Landesgeschäftsführer der Barmer in Schleswig-Holstein

Doppelbehandlungen und lange Wartezeiten: ein ewiger Kreislauf

Viele Patienten gehen in die Notaufnahme, obwohl eine ambulante Behandlung ausreichen würde. Oft wird die 112 wegen Bagatellen gewählt. Gründe dafür sind fehlende Hausärzte, lange Wartezeiten auf Arzttermine und auch, dass Patienten ihre Beschwerden und die Dringlichkeit einer Behandlung falsch einschätzen. Dieses Verhalten belastet das Gesundheitswesen. Es bindet Ressourcen in Kliniken, die anderswo fehlen. Rettungskräfte rücken wegen Bagatellen aus und fehlen bei echten Notfällen. Das verursacht unnötige Behandlungen und Kosten und verlängert die Wartezeit für diejenigen, die wirklich Hilfe brauchen. Eine gezielte Patientensteuerung könnte diesen Teufelskreis durchbrechen. Doch in Deutschland gilt die freie Arztwahl.

Bundesregierung plant ein Primärarztsystem

Die Politik rüttelt gedanklich an der freien Arztwahl. Denn die Bundesregierung plant ein Primärarztsystem. Das heißt, dass Patienten dann nicht mehr direkt einen Facharzt aufsuchen dürfen. Sie müssen zuerst ihren Haus- oder Kinderarzt konsultieren. Dieser entscheidet dann, ob eine Überweisung in eine andere Praxis notwendig ist. Kritiker monieren die Einschränkung der freien Arztwahl und fragen, wie das funktionieren soll, wenn es schon jetzt an Hausärzten mangelt und Eltern keinen Kinderarzt finden.

Hausärzte entscheiden nicht, zu welchem Facharzt die Patienten gehen, sondern ob ein Facharztbesuch überhaupt notwendig ist. Das ist kein Einschnitt in die freie Arztwahl. Einige Facharztgruppen wie Augenärzte und Gynäkologen sollten allerdings von der primären Inanspruchnahme ausgenommen werden. Und ja, der Hausärztemangel erschwert die Patientensteuerung, aber das darf kein Grund sein, sie abzulehnen. Gerade deshalb sollten auch digitale Möglichkeiten genutzt und am Bedarf der Patienten ausgerichtet werden. 

Politische und medizinische Debatte 

Politiker und Ärzte streiten über die Ausgestaltung des Primärarztsystems. Klar ist: Eine zentrale Ersteinschätzung und koordinierte Versorgung sind sinnvoll. Und es muss zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit aller Gesundheitsberufe kommen, einschließlich mehr Kompetenzen für nichtärztliche Praxisassistenten, medizinische Fachangestellte und Physician Assistants

Blick ins Ausland 

Warum schauen wir nicht, wie es andere Länder machen? In Norwegen entscheidet eine vorgeschaltete Pflegekraft, ob ein Hausarztbesuch nötig ist. Die Lebenserwartung dort ist höher und die Sterblichkeit geringer als bei uns. Solche Fachkräfte sind auch für das deutsche Gesundheitswesen wichtig. Eine zeitgemäße Arbeitsteilung zwischen ärztlichem und nichtärztlichem Personal muss im Heilberufegesetz klar geregelt werden. Auch in den Niederlanden gibt es seit vielen Jahren ein Primärarzt-/Gatekeeper-System. Sie sind die ersten Ansprechpartner bei Gesundheitsfragen, lotsen die Patienten und verhindern, dass sie ungehindert Facharztpraxen aufsuchen. Interessant: in nur knapp sieben Prozent der Fälle überweisen die Hausärzte an Fachärzte weiter. Die Patienten sind übrigens nicht dazu verpflichtet, sich ins Gatekeeper-System einzuschreiben. Wenn sie sich dagegen entscheiden, müssen sie aber mit höheren Zuzahlungen sowie längeren Wartezeiten rechnen. Ein weiterer Grund, warum sich Niederländerinnen und Niederländer ins System einschreiben, liegt darin, dass Fachärzte in der Regel keine Termine ohne Überweisung durch den Gatekeeper vergeben – oder dass die Krankenversicherung die Kosten nicht übernimmt, sodass ein Facharztbesuch deutlich teurer werden kann. Das führt dazu, dass 95 Prozent der Bevölkerung im Primärarztsystem eingeschrieben sind.

Effektivere Steuerung durch verbesserte Abstimmung und Vernetzung

Auch der Gesetzentwurf zur Reform der Notfallversorgung (NotfallG) sah eine Patientensteuerung vor. Dafür sollten die Rufnummer 116 117 der Kassenärztlichen Vereinigung und die Notrufnummer 112 vernetzt werden. Experten zufolge führen die derzeit zwei getrennten Anlaufstellen zu Fehlsteuerungen und überlasten Notaufnahmen und Rettungsdienste. Laut dem Gesetzesentwurf sollten dringende Fälle in Zukunft nicht mehr von den Terminservicestellen, sondern von Akutleitstellen unter der Nummer 116 117 vermittelt werden. Das NotfallG plant zudem den flächendeckenden Aufbau Integrierter Notfallzentren. Diese zentralen Anlaufstellen an Krankenhäusern kombinieren Notaufnahme und ambulante Notdienstpraxis und leiten Patienten je nach Dringlichkeit in die passende Versorgungsebene.

Notfall oder kein Notfall? Das ist hier die Frage

Das NotfallG sah auch vor, dass alle, die den Notruf wählen oder eine Notaufnahme aufsuchen, zuerst eine medizinische Ersteinschätzung erhalten. Eine standardisierte Abfrage soll dabei helfen, in Klinik und Leitstelle zu beurteilen, ob es sich um einen Notfall handelt. Basierend auf dieser Einschätzung werden Patienten in die passende Versorgungsschiene geleitet. Das Notfallgesetz enthält viele gute Ansätze. Wichtig ist, dass der Bund klare und verpflichtende Vorgaben für alle Beteiligten macht, einschließlich eines festgelegten Zugangswegs zur Notfallversorgung für die Bürger.

Das Notfallgesetz muss kommen

Das Gesetz zur Reform der Notfallversorgung wurde am 6. November 2024 im Gesundheitsausschuss beraten. Experten forderten Nachbesserungen, dann kam der Bruch der Ampel-Koalition. Doch durch den Regierungswechsel ist das Gesetz nicht vom Tisch. Bundesgesundheitsministerin Nina Warken hat angekündigt, die Arbeit der Vorgängerregierung fortzusetzen und die Reform der Notfallversorgung voranzutreiben.

Krankenkassen als Gesundheitslotsen  

Wir sollten die Menschen auf einen gesünderen Lebensweg steuern. Unser Gesundheitssystem behandelt hauptsächlich Krankheiten, doch wir müssen mehr auf Prävention setzen. Statt Beschwerden und Notfälle zu behandeln, sollten wir diese verhindern. Dafür müssen wir die Gesundheitskompetenz der Menschen fördern, und die Krankenkassen können viel dazu beitragen. Sie könnten ihre Abrechnungsdaten nutzen, um Versicherten individuelle Informationen und Präventionsangebote bereitzustellen. Eine Datenauswertung für diesen Zweck ist zwar erlaubt, allerdings nur im engen Rahmen des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes. Hier wünsche ich mir mehr Spielraum, um unsere Versicherten noch besser zu unterstützen, ähnlich wie bei den Disease-Management-Programmen oder der Pflegeberatung. 

Vorteile für alle, die erklärt werden müssen

Patientensteuerung ist keine Entmündigung der Bürger. Sie sollen die richtige medizinische Versorgung erhalten. Im Gegenzug profitieren sie von einem effizienteren Gesundheitswesen, kürzeren Wartezeiten und Ärzten, die im Notfall schnell für sie da sind. Das müssen Krankenkassen, Politik und Ärzte den Menschen gemeinsam erklären.