Der Pflegenotstand in Nordrhein-Westfalen droht nach neuesten Berechnungen des Barmer-Pflegereports noch brisanter zu werden als bislang angenommen. Die Autoren des Reports gehen davon aus, dass 2030 in NRW 1,346 Millionen Pflegebedürftige leben werden. Das seien 238.000 mehr als in bisherigen Prognosen angenommen. Dadurch erhöhe sich auch der Personalbedarf erheblich. Statt wie bislang kalkuliert 224.000 brauche NRW in weniger als zehn Jahren 230.000 Pflegekräfte, um die Aufgabe bewältigen zu können. „Bei den nun vorgenommenen Hochrechnungen handelt es sich um ein mittleres Szenario und damit nicht um eine Extremberechnung“, sagt Heiner Beckmann, Landesgeschäftsführer der Barmer in NRW. „Trotz dieser konservativen Herangehensweise steigt die Zahl der Pflegebedürftigen stark und der Personalbedarf erhöht sich. Angesichts dieser Zahlen sind wir auf dem besten Weg, in einen dramatischen Pflegenotstand zu geraten.“
Pflegebedürftige finanziell entlasten
Das neue Szenario wirke sich nicht nur auf den Personal-, sondern auch auf den Finanzbedarf aus. Nach Angaben der Autoren kommen auf die Pflegeversicherung in Deutschland 2030 jährliche Ausgaben von 59 Milliarden Euro zu – das sind zehn Milliarden Euro mehr als Ende 2020. „Der Reformbedarf ist also enorm. Einerseits muss die Pflege bezahlbar bleiben, gleichzeitig braucht es eine hohe Qualität“, so Heiner Beckmann. Beim drohenden Kostenanstieg muss nach Ansicht des Landesgeschäftsführers aber eines klar sein: „Die Pflegebedürftigen und deren Angehörige dürfen keineswegs zusätzlich belastet werden.“ Mit Blick auf die ohnehin schon hohen Kosten müssten sie sogar entlastet werden. Der Eigenanteil eines Pflegebedürftigen in einer stationären Einrichtung liegt nach Berechnungen des Verbands der Ersatzkassen in NRW bei 2.496 Euro im Monat. Nordrhein-Westfalen ist damit im Ländervergleich der Kosten Spitzenreiter und liegt deutlich über dem bundesweiten Schnitt von 2.125 Euro. „Diese hohe Belastung der Pflegebedürftigen ist auch der Tatsache geschuldet, dass das Land NRW seiner Verpflichtung bei der Übernahme von Investitionskosten nicht in vollem Umfang nachkommt“, so Beckmann. Diese Kosten würden aktuell von den Einrichtungen an die Bewohnerinnen und Bewohner weitergebeben. „Hier muss die künftige Landesregierung ansetzen und die Pflegebedürftigen finanziell entlasten“, sagt der Landesgeschäftsführer im Vorfeld der Landtagswahl am 15. Mai.
Ausbildung weiter reformieren
„Um einen drohenden Notstand abzuwenden, muss mehr Nachwuchs in der Pflege gewonnen werden. Die neue Bundesregierung muss ihre Absicht umsetzen und die Ausbildung attraktiver machen“, so Heiner Beckmann. Die Vereinheitlichung der Pflegeausbildung und der Wegfall des Schulgeldes durch das Pflegeberufegesetz in der letzten Legislaturperiode seien schon wichtige Schritte gewesen. Den Fokus auf eine attraktivere Ausbildung zu legen, sei auch deshalb so wichtig, weil die Länder und der Bund bei der Rekrutierung von ausländischen Pflegekräften an Grenzen stoßen werden. Heiner Beckmann: „Der Beschäftigungszuwachs der vergangenen Jahre ist größtenteils auf ausländische Kräfte zurückzuführen. Die Autoren des Reports bezweifeln stark, ob dieser Effekt dauerhaft noch gesteigert werden kann.“
Gesundheitsförderung ausbauen
Mit Blick auf die neuen Barmer-Berechnungen wird also deutlich, dass NRW in weniger als zehn Jahren 6.000 Pflegerinnen und Pfleger mehr braucht als bislang angenommen. „Angesichts eines ohnehin hohen Krankenstands in den Pflegeberufen, stehen wir ohne Frage vor einer immensen Aufgabe“, ergänzt der Landeschef der Krankenasse. Bereits im Pflegereport 2020 habe die Barmer nachgewiesen, dass in NRW jährlich 5.700 Pflegekräfte wegen Krankheit und Frühverrentung fehlen. „Um die noch größer werdende Personallücke zu schließen, müssen wir die Gesundheit der Beschäftigten in den Fokus rücken“, so Beckmann. „In einer Umfrage zum Pflegereport 2020 gaben nur 43 Prozent der Leitungskräfte an, dass ihr Arbeitgeber Programme zur Gesundheitsförderung anbietet. Das ist zu wenig. Nur eine ausreichende Präventionsarbeit kann helfen, den psychischen Stress im Berufsfeld der Pflege abzufedern.“
Pflegende Angehörige unterstützen
Keinesfalls außer Acht lassen dürfe die Gesellschaft die pflegenden Angehörigen, so Heiner Beckmann. Laut Barmer-Report werden 2030 mehr als 700.000 Menschen zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt werden. Derzeit seien es etwa 520.000. „Familienangehörige tragen auch in Zukunft die Hauptlast in der Pflege. Ohne diesen größten Pflegedienst des Landes wird es nicht gehen. Deshalb begrüßen wir, dass die Bundesregierung Lohn-Ersatzleistungen im Falle pflegebedingter Auszeiten einführen möchte“, sagt der Landeschef der Barmer. „In NRW werden weit mehr als die Hälfte der Pflegebedürftigen zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt. Aus einer früheren Barmer-Studie wissen wir, dass diese Pflegenden erschöpfter und kränker sind als andere Menschen, die nicht pflegen. Deshalb müssen deutlich mehr Entlastungsangebote geschaffen werden. Das Land sollte daher systematisch den Ausbau von Tages- und Kurzzeitpflegeplätzen fördern.“