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Riskante Medikamente: Barmer fordert besseren Schutz für Ungeborene

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Düsseldorf, 6. Oktober 2021 – Mehr als acht Prozent der nordrhein-westfälischen Frauen im gebärfähigen Alter bekommen potenziell kindsschädigende Arzneimittel verordnet, sogenannte Teratogene. Laut aktuellem Arzneimittelreport der Barmer betrifft das in Nordrhein-Westfalen jährlich mehr als 300.000 Frauen zwischen 13 und 49 Jahren. Problematisch wird die Einnahme entsprechender Medikamente ab dem Beginn einer Schwangerschaft. „Die grundsätzliche Verordnung von teratogenen Arzneimitteln vor einer Schwangerschaft ist nicht das Problem. Vor allem dann nicht, wenn verhütet wird. Spätestens mit Eintritt der Schwangerschaft darf aber kein teratogenes Arzneimittel mehr zum Einsatz kommen. Genau genommen muss der Schutz des Ungeborenen bereits davor beginnen“, sagt Heiner Beckmann, Landesgeschäftsführer der Barmer in NRW. Um den Schutz zu verbessern, sollten auch Frauen im gebärfähigen Alter mit Dauermedikation einen Rechtsanspruch auf einen bundeseinheitlichen Medikationsplan erhalten. Aktuell besteht dieser erst, wenn mindestens drei Medikamente dauerhaft gleichzeitig eingenommen werden. „Derzeit wird die Arzneimitteltherapie unzureichend dokumentiert. Das führt zu gefährlichen Informationslücken zu Beginn der Schwangerschaft. Vor allem für Gynäkologinnen und Gynäkologen ist es schwer bis unmöglich, rechtzeitig teratogene Arzneimittel abzusetzen. Mit einem Medikationsplan schon ab dem ersten dauerhaft eingenommenen Medikament kann das Risiko für das ungeborene Kind bei einer notwendigen teratogenen Medikation massiv reduziert werden“, so Beckmann.

Nur wenige Frauen haben einen Medikationsplan

62 Prozent der Arzneimittelverordnungen erfolgen durch Hausärzte, nur 24 Prozent durch Gynäkologen. 86 Prozent der Frauen mit Arzneimitteltherapie vor der Schwangerschaft haben keinen Medikationsplan. Das zeigt eine vertiefende Umfrage unter knapp 1.300 bei der Barmer versicherten Frauen, die im vergangenen Jahr entbunden haben. „Mit dem Eintritt der Schwangerschaft kommt es zu einem Wechsel des primären Ansprechpartners für die Arzneimitteltherapie – hin zum Gynäkologen – wobei oft eine Informationslücke entsteht. Der Schutz des Ungeborenen muss deshalb schon vor der Schwangerschaft beginnen. Dazu sollte die Gesamtmedikation junger Frauen grundsätzlich auf kindsschädigende Risiken geprüft werden“, sagt Beckmann. Nun seien nicht alle riskanten Wirkstoffe im selben Maße gefährlich. Es gebe aber „unzweifelhaft starke“ Teratogene, die das Risiko für grobe Fehlbildungen des Embryos auf bis zu 30 Prozent erhöhen, so Beckmann. Trotzdem haben in NRW im Jahr 2018 mehr als 21.000 Frauen im gebärfähigen Alter ein starkes teratogenes Arzneimittel verordnet bekommen. „Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte passen die Arzneimitteltherapie an die Schwangerschaft zwar sehr wohl an. Das belegen die zurückgehenden Verordnungszahlen von teratogenen Arzneimitteln. Allerdings liegen die Absetzquoten bei den besonders kritischen Präparaten lediglich zwischen 31 und 60 Prozent. Das ist viel zu wenig“, sagt Beckmann.

Prüfung der Therapie nach Eintritt der Schwangerschaft zu spät

Im Mittel bemerken Frauen ihre Schwangerschaft in der fünften Schwangerschaftswoche. Die vulnerabelste Phase für den Embryo ist die Organogenese, die etwa bis zur elften Schwangerschaftswoche dauert. Entscheidend ist, in dieser Phase die Anwendung von teratogenen Arzneimitteln zu verhindern. „Unsere Umfrage hat gezeigt, dass die erste Besprechung der Sicherheit der Arzneimitteltherapie mit der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt im Mittel häufig erst in der siebten Schwangerschaftswoche erfolgte. Das ist definitiv zu spät, weil zu diesem Zeitpunkt die Organogenese schon weit vorangeschritten ist und ein möglicher Schaden durch teratogene Arzneimittel bereits eingetreten sein könnte. Wer einen Medikationsplan führt, hat schon vor der Schwangerschaft einen Risikoüberblick“, sagt der Landeschef der Barmer.

Barmer erprobt Frühwarnsystem

Die Barmer treibt mehrere Projekte voran, bei denen es auch darum geht, dass riskante Verordnungen bei Schwangeren zu „never events“ werden. Das sind Ereignisse, die grundsätzlich vermeidbar sind und solche katastrophalen Konsequenzen haben, dass sie nie auftreten dürfen. Diese Klassifizierung von Ereignissen erfolgt so bereits in Großbritannien. In Deutschland soll es durch das geplante Projekt eRIKA künftig möglich werden, dass Ärztinnen und Ärzte bereits beim Ausstellen eines Rezeptes automatisch Hinweise auf Arzneimittel erhalten, die in der Frühschwangerschaft problematisch sein können. Auch eine patientenfokussierte digitale Anwendung soll bereitgestellt werden, um ergänzend Schwangeren oder Frauen, die eine Schwangerschaft planen, derartige Warnhinweise zu geben.

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Grundsätzlich besteht bei Schwangerschaften auch ohne jegliche Arzneimitteltherapie ein Risiko struktureller Fehlbildungen in Höhe von drei Prozent. Bei Einnahme eines „schwachen“ Teratogens erhöht sich das Risiko auf bis zu vier Prozent, bei einem „gesicherten“ Teratogen auf bis zu zehn Prozent und bei einem „unzweifelhaft starken“ Teratogen auf bis zu 30 Prozent. Zur Risikoklasse der „unzweifelhaft starken“ fruchtschädigenden Mittel gehören Valproinsäure und Retinoide. Valproinsäure wird angewendet zur Behandlung von Epilepsie und Krampfanfällen sowie zur Stimmungsstabilisierung bei bipolaren Störungen. Retinoide werden in der Dermatologie sowohl zur örtlichen Therapie (Creme oder Salbe) als auch in Tablettenform angewendet. Am häufigsten kommen sie in der Behandlung einer schweren Akne oder einer Schuppenflechte zum Einsatz.

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Pressesprecher Barmer Nordrhein-Westfalen
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