STANDORTinfo Niedersachsen/Bremen – Ausgabe Juli 2023

"Einer richtig guten Gesundheitsversorgung stehen vielerorts noch immer die starren Sektorengrenzen entgegen."

Lesedauer unter 4 Minuten

Dr. Kirsten Kappert-Gonther ist Bundestagsabgeordnete und amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Deutschen Bundestag.
Wir haben mit ihr unter anderem darüber gesprochen, wie eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung aussieht und an welchen Stellen das Land Bremen von den Vorhaben der Bundespolitik profitieren kann.

Kappert-Gonther

Die Koalition auf Bundesebene hat sich viele wichtige Reformen im Gesundheitswesen vorgenommen. Auch aus Sicht der BARMER liegt viel Arbeit vor allen Beteiligten, um eine spürbare Verbesserung in der Versorgung von Patientinnen und Patienten zu erreichen. Welche dieser Vorhaben sind für Sie entscheidend?

Kirsten Kappert-Gonther: "Der Koalitionsvertrag stellt in seinem Gesundheitskapitel den Gedanken der vorausschauenden und vorsorgenden Politik nach vorne. Das ist zentral für die Gesundheitsversorgung der Zukunft. Gesundheitspolitik ist weit mehr als die zentralen Fragen der Versorgung. Nehmen wir ernst, dass die Klimakrise die größte Gesundheitsgefahr der Zukunft ist. Bauen wir nicht nur unsere Städte so, dass sie ein gesundes Leben wahrscheinlicher machen, sondern auch unsere Krankenhäuser klimaneutral. Sorgen wir dafür, dass es gutes und gesundes Essen in Kita und Schule gibt und ausreichend Beschattung im Sommer, Begegnungsräume im öffentlichen Raum und sichere Fuß- und Radwege, so unterstützen wir die Gesundheit schon im Alltag.

Einer richtig guten Gesundheitsversorgung stehen vielerorts noch immer die starren Sektorengrenzen entgegen. Die mangelnde Vernetzung und Integration ambulanter und stationärer Versorgungsangebote geht vor allem zulasten der schwer und chronisch kranken Menschen, bei denen eine fachübergreifende Zusammenarbeit zentral wäre. Für besonders wichtig halte ich darum den Aufbau von „Gesundheitsregionen". In diesen regionalen Gesundheitsverbünden soll die Versorgung sektorenübergreifend, auch unter Berücksichtigung nicht-ärztlicher Gesundheitsangebote, gestaltet werden. So können wir das Versorgungsangebot endlich entlang der Bedarfe vor Ort gestalten.

Die großen Krisen, die Klimakrise, die Nachwirkungen der Pandemie und der Krieg gegen die Ukraine hinterlassen auch seelische Wunden. Schon aktuell besteht großer Handlungsdruck bei der psychosozialen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Der Bedarf wird künftig steigen, denn wir wissen, dass sich psychische Hilfebedarfe oft erst zeigen, wenn der akute Druck nachgelassen hat. Auch hier müssen die bestehenden Hilfsangebote, die in unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern verankert sind, besser miteinander verknüpft werden. Es ist also notwendig, den Anspruch auf ambulante Komplexleistungen auch für schwer psychisch kranke Kinder und Jugendliche zu schaffen. Zum einen wollen wir die psychotherapeutischen Behandlungskapazitäten durch eine Anpassung der Bedarfsplanung erhöhen. Zum anderen wird es auch hier um eine verbindliche Vernetzung der schon bestehenden Angebote gehen. Denn noch zu oft fallen gerade die schwer und chronisch psychisch  erkrankten Menschen durch die Maschen des Versorgungssystems. Bei der bevorstehenden Reform der Notfallversorgung müssen darum die Menschen mit psychiatrischem Hilfebedarf mitgedacht werden. Das bedeutet nicht nur entsprechende Qualifikationen in den Leitstellen und am gemeinsamen Tresen, sondern auch psychiatrische Krisenhilfen, die 24/7 erreichbar sind und auch aufsuchend arbeiten."

Sie vertreten seit 2017 als Abgeordnete im Deutschen Bundestag Ihren Wahlkreis in der Stadt Bremen. Vorher waren Sie viele Jahre Mitglied der Bremischen Bürgerschaft und auch gesundheitspolitische Sprecherin Ihrer Fraktion. Welche der auf Bundesebene geplanten Reformen im Gesundheitswesen sind aus Ihrer Sicht für Bremen am wichtigsten, um hier die Versorgung entscheidend zu verbessern?

Kappert-Gonther: "Alle beschriebenen Vorhaben werden auch in Bremen positiv spürbar werden. Bremen und Bremerhaven sind urbane Räume, in denen viele Lebensrealitäten auf engem Raum zusammenkommen. In ärmeren Stadtteilen sind in der Regel nicht nur die Gesundheitschancen geringer, sondern auch die Erreichbarkeit der Gesundheitsversorgung ist schwieriger. Gerade in diesen Gebieten braucht es Angebote der Versorgung und Prävention, die niedrigschwellig erreichbar sind.

Dem Fachkräftemangel, der sich wie überall auch in Bremen zeigt, wollen wir durch die Aufwertung nicht-ärztlicher Gesundheitsberufe und der beschleunigten Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen entgegenwirken. Wenn es gelingt, die Weichen dafür zu stellen, dass alle im Gesundheitswesen Tätigen, ob Pflegefachkräfte, Hebammen, Ärzt*innen, aber auch Physio-, Ergo und Logopäd*innen mehr auf Augenhöhe zusammenarbeiten und gemäß ihrer Expertise tätig werden können, dann verbessert das die Versorgung der Patient*innen spürbar. In Bremen haben wir bereits sehr gute Erfahrungen mit Gesundheitsfachkräften in Schulen. Ich wünsche mir, dass es gelingt, auch in Bremen in den Stadtteilen Community Health Nurses zu etablieren und grundsätzlich mehr multiprofessionelle Hilfen in den Quartieren zur Verfügung zu stellen..

Aus den Kliniken wird im Übrigen finanzieller Druck genommen, indem eine Reform der Krankenhausfinanzierung auf den Weg gebracht und für bestimmte kritische Versorgungsbereiche - etwa Pädiatrie, Notfallversorgung, Geburtshilfe - eine Basisvergütung eingerichtet wird.

Die geplante Reform der Krankenhausplanung hat zum Ziel, Doppelstrukturen zu vermeiden. Eine Konzentration der Standorte fördert die Qualität und ermöglicht es, das Personal gezielter einzusetzen. Ich halte es für zentral, dass wir grundsätzlich die Qualität der Versorgung zum Leitmotiv unserer gesundheitspolitischen Arbeit machen. Gleichzeitig muss die Krankenhausreform durch den Aufbau ambulanter Kapazitäten, zum Beispiel in Form von Medizinischen Versorgungszentren, begleitet werden. Die Entscheidung über diese Prozesse werden der Bund und die Länder gemeinsam treffen. Das ist wichtig, denn gute Gesundheitsversorgung entscheidet sich immer regional, sie muss alltagstauglich und auf die Bedürfnisse der Menschen vor Ort angepasst sein."