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Blutarmut - die verborgene Volkskrankheit

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Nachdem in Hessen planbare Operationen ohne unmittelbare medizinische Dringlichkeit, die sogenannten elektiven Eingriffe, zunächst seit dem 16. März 2020 auf Basis des Infektionsschutzgesetzes ausgesetzt waren, haben Krankenhäuser wieder mit diesem Teil der medizinischen Regelversorgung begonnen. Laut einer aktuellen Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind etwa 25 Prozent der Weltbevölkerung zeitweise von Blutarmut, der sogenannten Anämie, betroffen. Folgt man der Einschätzung, so wären in Hessen 1,5 Millionen Menschen zumindest phasenweise betroffen. Da die Anämie weitgehend unspezifische Symptome aufweist wird sie häufig nur in Verbindung mit anderen Erkrankungen diagnostiziert. Die genaue Zahl der Betroffenen bleibt damit nicht nur in Deutschland im Dunkeln. Der Barmer Krankenhausreport 2019 zeigt allerdings, dass Blutarmut insbesondere in Verbindung mit planbaren chirurgischen Eingriffen erhebliche Risiken mit sich bringt.

Anämie vermindert Behandlungserfolge

„Wird eine Anämieerkrankung vor einer planbaren Operation erkannt und behandelt, sind bessere Behandlungsergebnisse, kürzere Krankenhausaufenthalte, eine niedrigere Sterblichkeitsrate, geringere Kosten und ein verminderter Verbrauch an Blutkonserven die Folge. Planbare Operationen sollten gerade jetzt nur nach einer Behandlung der Blutarmut erfolgen“, schlussfolgert Prof. Dr. Kai Zacharowski, Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie am Universitätsklinikum Frankfurt und Mitbegründer Deutsches Netzwerk Patient Blood Management. So lag die bundesweite Sterblichkeitsrate im Krankenhaus bei einer Bypassoperation unter Anämiepatientinnen und -patienten bei 4,3 Prozent. Bei den Operierten ohne Anämie kam es nur bei 1,8 Prozent zu einem Todesfall im Krankenhaus. Bei Operationen an der Wirbelsäule liegt das Verhältnis bei 0,6 zu 1,2 Prozent.

Fremdbluttransfusionen mit erheblichem Gesundheitsrisiko

Bei Anämie-Betroffenen kann der Blutverlust während einer Operation den Bedarf an Fremdbluttransfusionen signifikant erhöhen. So erhielten im Untersuchungszeitraum von 2005 bis 2016 bundesweit rund 67 Prozent der Anämie-Betroffenen bei einer Herzkranzgefäß-Operation eine Bluttransfusion, während es bei den Patientinnen und Patienten ohne Anämie nur 49 Prozent waren. Bei Operationen am Knie erhielten knapp 19 Prozent der Anämiepatienten eine Transfusion, unter den Operierten ohne Anämie waren es nur knapp 10 Prozent. Bei Darmkrebsoperationen lag das entsprechende Verhältnis bei 41 zu 27 Prozent. Bluttransfusionen bringen Risiken und Nebenwirkungen mit sich, die erheblichen Einfluss auf die Ergebnisse medizinischer Eingriffe haben. Während HIV und Hepatitis-Infektionen weitgehend ausgeschlossen werden können, ist bereits die Gabe einer Transfusionseinheit mit einem mehr als doppelt so hohen Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall assoziiert. Immunschäden, Thrombose, Embolie, Nieren- und Lungenversagen sind weitere mögliche Negativfolgen einer Bluttransfusion.

Hoher Blutverbrauch in Hessen

Laut Barmer Report wurden im Jahr 2017 in Hessen über 240.000 Bluttransfusionen aufgewendet, der Verbrauch lag bei 38,9 Einheiten je 1000 Einwohner. Zum Vergleich: In den Niederlanden liegt der Verbrauch bei nur 23,8 Einheiten je 1000 Einwohner. 2009 wurden in Hessen noch bei 8,2 Prozent der Operationen Transfusionen verabreicht. 2017 ist der Wert auf 6,8 Prozent zurückgegangen; er liegt aber damit über dem Bundeswert von 6,6. Der Rückgang von Bluttransfusionen entwickelt sich demnach in Hessen weniger dynamisch als im Bundesdurchschnitt. In Hessen beliefen sich deshalb in 2017 die Gesamtkosten für die Verabreichung von Bluttransfusionen auf über 35.700.000 Euro. „Die Lage im deutschen Gesundheitswesen ist angespannt. Um aktuelle und kommende Herausforderungen zu meistern, ist es wichtiger denn je, dass effiziente, ressourcenschonende Systeme wie Patient Blood Management zum Tragen kommen. Es erhöht die Patientensicherheit und schont kritische Ressourcen“, stellt Martin Till fest.