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Jeder fünfte Hamburger nimmt mindestens fünf Medikamente - Fehlender Überblick führt zu riskanten Kombinationen

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Hamburg, 22. Oktober 2018 – Wer krank ist, muss oft Tabletten schlucken. Die Frage ist nur wie viele verschiedene: Rund 35.000 Hamburger Barmer Versicherte haben im Jahr 2016 fünf oder mehr Medikamente pro Jahr verordnet bekommen, darunter waren allein 21.000 Frauen. Das geht aus dem aktuellen Barmer Arzneimittelreport 2018 hervor. Hochgerechnet wäre damit jeder fünfte Hamburger betroffen. Experten sprechen ab fünf Medikamentenwirkstoffen von Polypharmazie.

„Die Verordnung einer größeren Anzahl an Medikamenten bedeutet ein erhöhtes Risiko für unerwünschte Wechselwirkungen“, sagt Frank Liedtke, Landesgeschäftsführer der Barmer in Hamburg. „Je mehr Medikamente eine Patientin oder ein Patient einnimmt, desto unsicherer wird jedoch die Arzneimitteltherapie aufgrund der zu erwartenden Wechselwirkungen“, so Liedtke weiter.

27,4 % der Betroffenen lösen Rezepte in vier oder mehr Apotheken ein

Vor allem ältere Menschen mit verschiedenen Erkrankungen müssen häufig mehrere Tabletten einnehmen, dazu manchmal noch Salben, Tropfen oder Sprays. So kommt es fast bei jedem zweiten Rentner zu Polypharmazie, bei den über 80-Jährigen sind es nach Analysen der Barmer bereits 65 Prozent. „Unsere Auswertungen zeigen auch, dass über ein Viertel aller Hamburger Patienten, die gleichzeitig fünf oder mehr verschiedenen Medikamente einnehmen, die Rezepte in vier oder mehr Apotheken einlösen. Dadurch wird es natürlich nicht einfacher, unerwünschte Wechselwirkungen zu erkennen“, sagt Frank Liedtke.

Und je mehr Arzneimittel verordnet werden, umso häufiger kann es zu Einnahmefehlern kommen: Seien es Abweichungen von der empfohlenen Dosis, das schlichte Vergessen der Anwendung oder das Verwechseln verschiedener Medikamente. „Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte werden jedes Jahr etwa eine halbe Million Bundesbürger aufgrund solch vermeidbarer Medikationsfehler ins Krankenhaus eingewiesen“, ergänzt Liedtke.

Riskante Verordnungen

Zwei Drittel der Barmer-Versicherten mit einer Polypharmazie sind im Jahr 2016 von drei oder mehr Ärzten medikamentös behandelt worden. Der Schutz vor vermeidbaren Risiken in der Arzneimitteltherapie gelingt den Reportergebnissen zufolge nicht immer. Ein Beispiel ist Methotrexat, ein Arzneistoff für die Krebs- und Rheumatherapie. Von den rund 1.000 Hamburger Barmer-Versicherten wurde 20 Versicherten das Mittel verordnet, obwohl es bei diesen Patienten wegen gleichzeitig stark eingeschränkter Nierenfunktion nicht eingesetzt werden dürfte.

Ein weiteres Beispiel betrifft Patienten mit Herzschwäche. Studien zeigen, dass bei ihnen ein erhöhtes Risiko einer verschlechterten Symptomatik mit der Notwendigkeit stationärer Krankenhausbehandlung besteht, wenn sie schmerzlindernde und entzündungshemmende Medikamente wie Naproxen, Diclofenac oder Ibuprofen erhalten. Diese Medikamente sollten also nur mit äußerster Zurückhaltung eingesetzt werden. Sollten sie dennoch notwendig sein, so wäre aufgrund der Hinweise auf ein geringeres kardiovaskuläres Risiko für Naproxen einerseits und ein besonders hohes Risiko durch Diclofenac andererseits eine Bevorzugung von Naproxen bei Patienten mit Herzinsuffizienz zu erwarten. Tatsächlich kommen in Hamburg auf einen Herzinsuffizienz-Patienten mit Naproxen-Verordnung aber 6,5 Patienten mit einer Diclofenac-Verordnung und sogar 14 mit einer Ibuprofen-Verordnung (die nicht erfassten Selbstmedikationen sind dabei noch nicht berücksichtigt).

Medikation überprüfen lassen

Bei den Senioren kommt ein weiteres Problem hinzu: Im Alter wirken Medikamente oftmals anders. Beispielsweise arbeitet die Niere nicht mehr so effektiv wie in jungen Jahren. Durch die eingeschränkte Funktion werden Arzneien langsamer ausgeschieden und wirken länger als beabsichtigt. Daher sollten betroffene Patienten regelmäßig ihre Medikation auch darauf vom Hausarzt überprüfen lassen. „Ein sogenannter Medikationsplan kann helfen, den Überblick über die verordneten Medikamente zu behalten. Versicherte haben seit dem vergangenen Jahr Anspruch darauf, wenn sie mehr als drei Arzneimittel erhalten“, sagt Frank Liedtke.

Barmer Arzneimittelreport zum Downloaden www.barmer.de/p009799

Daten aus dem Barmer-Arzneimittelreport 2018

Arzneimittelausgaben

Die Arzneimittelausgaben sind im Jahr 2017 um vier Prozent pro Versicherten im Vergleich zum Jahr 2016 gestiegen. Von dem Jahr 2015 zu 2016 betrug der Ausgabenanstieg pro Versicherten 5,2 Prozent. Der Anstieg ist bei weiblichen Versicherten mit 4,3 Prozent größer als bei männlichen, bei denen die Ausgaben um 3,6 Prozent gestiegen sind.

Der Anstieg der Arzneimittelausgaben ist zu etwa 85 Prozent auf eine Kostensteigerung und nur zu 15 Prozent auf eine zahlenmäßige Steigerung verordneter Arzneimittel zurückzuführen (im Report Seite 24). Die Ausgaben für Arzneimittel (einschließlich Rezepturen) lagen im Jahr 2017 für weibliche Barmer-Versicherte bei 661 Euro, für Männer bei 612 Euro. Das ergibt Durchschnittsausgaben von 640 Euro (Seite 25). In den Jahren 2010 bis 2017 sind die Ausgaben für Fertigarzneimittel (ohne Rezepturen) um 24,6 Prozent gestiegen, von 3,89 Milliarden Euro auf 4,83 Milliarden Euro (Seite 26).

Konzentrationseffekt

Der Effekt, dass eine immer kleinere Gruppe von Versicherten die Hälfte aller Arzneimittelausgaben auf sich konzentriert, verstärkt sich weiter. Während diese Gruppe im Jahr 2010 noch 4,56 Prozent aller Versicherten umfasste, waren es im Jahr 2017 nur noch 2,7 Prozent. Berücksichtigt man auch die Rezepturen, sind es sogar nur 1,9 Prozent. Für ein Prozent aller Versicherten werden 40 Prozent aller Arzneimittelausgaben benötigt. Verursacht wird dieser Trend durch neue hochpreisige Arzneimittel, deren Kosten pro Jahr und Patient häufig über 100.000 Euro liegt (Seite 42).

Regionale Verteilung

Betrachtet man die Ausgaben für die Arzneimitteltherapie, so zeigen sich Unterschiede von mehr als 25 Prozent bezüglich der durchschnittlichen Kosten einer Tagesdosis (DDD). Die Gesamtausgaben pro Versicherten ergeben sich bei kombinierter Betrachtung von Kosten pro DDD und Anzahl verordneter Tagesdosen pro Versicherten. Dass pro Versicherten in Sachsen 69 Prozent mehr für Arzneimittel ausgegeben werden als in Bremen, ist im Wesentlichen auf die unterschiedliche Altersstruktur der Barmer-Versicherten in den Regionen zurückzuführen (im Vergleich zu Hamburg wurden in Sachsen 26,3 Prozent mehr für Arzneimittel ausgegeben). In absoluten Zahlen lagen die Ausgaben in Sachsen im Jahr 2017 bei 816 Euro, in Bremen bei 483 Euro und in Hamburg dazwischen bei 646 Euro (Seite 62).