Porträt Dr. Regina Vetters
STANDORTinfo für Berlin und Brandenburg

Interview: „Wir sprechen von der Kür“

Lesedauer unter 5 Minuten

Seit gut zwei Jahren führt Dr. Regina Vetters die Barmer ins Zeitalter der Digitalisierung. Die Standortinfo sprach mit ihr über bisherigen Erfahrungen, politischen Rahmenbedingungen und Berlin und Brandenburg als Zukunftsregion für digitale Gesundheit.

Wenn über die Digitalisierung gesprochen wird fallen viele Schlagworte: ePA, Apps, Telemedizin, BigData und KI. Wie fügt sich da eine Digitalstrategie für das Gesundheitswesen zusammen?

Vetters: Hinter diesen Schlagworten verbergen sich zunächst ganz unterschiedliche Chancen und Herausforderungen. Bei der ePA geht es vor allem um den regulatorischen Rahmen für die Vernetzung aller Akteure im Gesundheitswesen, bei Gesundheits-Apps um die Zugangswege zum stark regulierten Gesundheitsmarkt, bei Telemedizin geht es um technische Infrastruktur sowie Nutzerakzeptanz und bei der KI spielt die ethische Dimension eine zentrale Rolle – welche Daten können wie genutzt werden und wer trifft am Ende nach welchen Regeln eine Entscheidung? Einen wesentlichen Punkt haben diese ganz unterschiedlichen Konzepte aber gemeinsam. Sie stellen die tradierte Rollenverteilung in unserem Gesundheitssystem in Frage. Wer bietet eine Therapie an? Wem gehören die Patientendaten? Durch die neuen Technologien müssen wir uns mit diesen und vielen weiteren Fragen neu befassen. Die Technik determiniert aber nicht, wie Ärzte, Therapeuten, Krankenhäuser, Kassen und Versicherte oder Patienten zukünftig interagieren. Und hier haben wir als Barmer eine klare Vorstellung, was der Orientierungspunkt ist: Der selbstbestimmte Versicherte oder Patient. Daraus folgt für alle genannten Schlagworte die konsequente Nutzerzentrierung bei der Entwicklung und Implementierung solcher Innovationen. Gleiches gilt aber nicht nur mit Blick auf die Versicherten, sondern auch auf die Leistungserbringer – Lösungen, die im Workflow der Behandlung nicht integriert werden können, sind oft zum Scheitern verurteilt. Wir arbeiten bei der Barmer hart daran, die jeweilige Nutzerperspektive immer in den Mittelpunkt zu stellen – aber wir sind noch auf dem Weg und nicht am Ziel.

Welches sind die wichtigsten Erfahrungen und Erkenntnisse für die Barmer auf dem Weg zu digitalen Anwendungen?

Vetters: Die Barmer beschäftigt sich seit über zehn Jahren intensiv mit digitalen Anwendungen im Gesundheitswesen. Da sind eine Menge, teils auch schmerzhafte Erfahrungen zusammengekommen. So haben wir 2007 als erste Kasse in Europa eine elektronische Gesundheitsakte pilotiert, also einen Vorläufer der ePA. Eine wichtige Erfahrung damals war, dass Insellösungen langfristig nicht überlebensfähig sind. Das war übrigens auch der Grund, warum wir im vergangenen Jahr im Gegensatz zu anderen Kassen noch keine eigene Aktenlösung auf den Markt gebracht haben, sondern darauf gewartet haben, dass der Gesetzgeber einheitliche Standards definiert – was mit dem Terminservice- und –Versorgungsgesetz (TSVG) im Frühjahr 2019 nun geschehen ist. Eine andere Erfahrung betrifft die enorm hohen Innovationshürden in unserem Gesundheitssystem, die aus einer vor-digitalen Zeit stammen und die wir dringend überdenken müssen. 2014 waren wir erneut die ersten in Europa, die eine Medizin-App auf Rezept angeboten haben. „Caterna“ ist eine digitale Therapie für Kinder gegen die Sehschwäche Amblyopie. Der Ansatz war damals hoch innovativ, die Wirksamkeit nachgewiesen und die Kinder hatten auch noch Spaß an der Therapie. Trotzdem wäre „Caterna“ damals um ein Haar an den Zugangshürden zum Gesundheitsmarkt gescheitert. Jetzt begrüßen wir sehr, dass der Gesetzgeber hier einfachere Zugangswege erprobt und den Zugang zu digitalen Innovationen besser regelt.

Das Gesundheitswesen ist beim Thema Digitalisierung weiterhin das Schlusslicht des Branchenvergleichs 2018. Werden mit dem Digitalen Versorgungs-Gesetz wesentliche Hemmnisse abgebaut oder wünschen Sie sich weitergehende Regelungen?

Vetters: Das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) ist ein wichtiger Vorstoß und geht genau in die richtige Richtung, an vielen wichtigen Stellschrauben wurde gedreht. Ein ganz wesentlicher Punkt ist das Thema Innovationshürden abbauen und für digitale Anwendungen klare Wege in die Regelversorgung aufzeigen. Wir dürfen aber bei der derzeitigen Euphorie und den durchaus entschlossenen Schritten des Gesetzgebers eins nicht vergessen: Den gesetzlichen Rahmen für Digitalisierung und Innovation gestalten, ist ganz zentral, wird aber allein nicht zum Erfolg führen. Wir müssen auch im Blick behalten, dass die notwendigen Veränderungen, wie sie mit TSVG oder DVG angestoßen werden, bei den zahlreichen Akteuren im Gesundheitswesens und nicht zuletzt bei den Patienten zu Fragen, teils zu Verunsicherungen, in jedem Fall aber zu viel Orientierungsbedarf führen. Es ist also nicht damit getan, einfach noch weitreichendere Regelungen zu fordern – wir müssen uns auch Gedanken machen, wie wir Ärzte, Therapeuten, Patienten und auch junge Gesundheits-Startups dabei unterstützen und begleiten, die neuen Anforderungen zu erfüllen und die Spielräume zu nutzen. Die Barmer sieht sich hierbei in einer ganz wesentlichen Rolle.

Die Barmer hat entschieden, eine elektronische Patientenakte (ePA) auszuschreiben. Was war der Grund?

Vetters: Der Gesetzgeber schreibt vor, dass alle Kassen zum 1. Januar 2021 ihren Versicherten eine ePA anbieten. Er unterscheidet dabei aber zwischen zwingend erforderlichen Kernfunktionen – eArztbrief, Medikationsplan, Notfalldatensatz – und individuellen Anwendungen, über die sich die einzelnen Kassen im Wettbewerb abheben können. Wir sprechen von der Kür. Allein für die gesetzlich definierte Pflicht würde sich eine eigene Akte kaum lohnen. Die genannten Kernfunktionen sollen den Informationsaustausch innerhalb des Gesundheitssystems, also zwischen Ärzten, Therapeuten, Krankenhäusern verbessern. Die Versicherten können aber mit dieser Datensammlung noch nicht viel anfangen. Wir wollen eine Patientenakte anbieten, die sowohl für Ärzte als auch für Patienten Mehrwerte bietet – deshalb schreiben wir eine eigene Akte aus.

Das Bundesministerium für Gesundheit hat Berlin und Brandenburg zur Zukunftsregion Digitale Gesundheit erklärt und die Berliner Gesundheitssenatorin hat einen eckigen Tisch zur Digitalisierung eingerichtet. Welche Chancen sehen Sie in diesen Initiativen für die Region und für die Umsetzung einer Digitalstrategie?

Vetters: Berlin bietet herausragend gute Voraussetzungen. Wir haben ein exzellentes Cluster aus hervorragenden Krankenhäusern wie der Charité und Vivantes, zahlreichen Pharma- und Medizintechnik-Unternehmen und mit medizinischer Spitzenforschung. Dazu kommt eine hochlebendige, internationale Startup-Szene. Und dann ist Berlin auch noch ein Magnet für die Nutzer innovativer Gesundheitsangebote, für eine junge, aufgeschlossene, digital-affine Zielgruppe. Wenn da noch der politische Wille dazukommt – und so deute ich die aktuellen Signale aus Bund und Land – dann ist das doch die optimale Mischung.