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Reform der Psychotherapie-Richtlinie ist ein Erfolg

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Im Jahr 2017 wurde Psychotherapie-Richtlinie reformiert. Seitdem sind die Praxen verpflichtet, eine Psychotherapeutische Sprechstunde anzubieten, die von den Patientinnen und Patienten ohne Überweisung aufgesucht werden kann. Laut Barmer-Arztreport wurde dieses niederschwellige Angebot gut angenommen. Rund 9 Millionen Mal wurde die Psychotherapeutische Sprechstunde im Jahr 2018, also im ersten Jahr nach der Reform, abgerechnet. Ein Gespräch mit Dr. Dietrich Munz, dem Vorsitzenden der Landes- und der Bundespsychotherapeutenkammer und Barmer Landesgeschäftsführer Winfried Plötze über die Reform und die Ergebnisse des Barmer-Arztreports.

Herr Dr. Munz, Herr Plötze, bewerten Sie die Einführung der Psychotherapeutischen Sprechstunde als Erfolg?

Ein Mann mit Glatze, Brille und Anzug lächelt in die Kamera

Winfried Plötze, Landesgeschäftsführer der BARMER in Baden-Württemberg

Winfried Plötze: Ja. Seit der Einführung der Sprechstunde hatten innerhalb eines Jahres fast 32.000 Baden-Württemberger mehr Kontakt zu einem Psychotherapeuten. Und auch unsere Versicherten stellen der psychotherapeutischen Sprechstunde ein gutes Zeugnis aus. In unserer Befragung lobten 70 Prozent der Patienten, welche die Psychotherapeutische Sprechstunde besucht hatten, dass sich der Therapeut intensiv mit ihren Beschwerden befasst habe. Die Sprechstunde ist auch deshalb ein Erfolg, weil sie helfen kann. 21 Prozent der Sprechstundenbesucher sagten, dass es ihnen nach diesem ersten Gespräch besser gegangen sei. Nicht jeder brauchte im Anschluss eine Psychotherapie.

Doktor Dietrich Munz, Vorsitzender der Bundespsychotherapeutenkammer

Dr. Dietrich Munz: Das widerlegt das liebevoll gepflegte Vorurteil, wir Therapeuten würden jeden nehmen. Solche Daten sind für uns extrem wichtig. Bisher konnten wir nur die Kollegen fragen, welche Maßnahme sie angewendet haben. Aber jetzt sehen wir die Perspektive der Patienten.

Eine Patientenperspektive ist, dass fast 30 Prozent unzufrieden mit dem Ergebnis der nachfolgenden Psychotherapie waren.

Dr. Dietrich Munz: Den Patienten wird zum Beginn der Therapie deutlich gemacht, dass sie sich aktiv beteiligen müssen, damit es ihnen nach der Therapie besser geht. Das ist für viele eine Überraschung und auch eine Herausforderung, weil sie ihre eigene Einstellung hinterfragen müssen. Das ist häufig ein Grund für die Unzufriedenheit mit dem Therapieergebnis. Ebenso die Tatsache, dass ein Therapeut viele Fragen stellt und Dinge wissen möchte, welche die Patienten oft nicht erzählen wollen. 

Den meisten Sprechstundenbesuchern wurde im Anschluss eine Psychotherapie empfohlen. 16 Prozent der Befragten sagten, dass sie zwei bis drei Monate auf den Beginn der Therapie warten mussten.

Winfried Plötze: Diese Wartezeit ist definitiv zu lang, das muss sich ändern. Aber 33 Prozent konnten in weniger als zwei Wochen mit der Therapie beginnen. Man muss das differenzierter sehen.

Gibt es zu wenig Psychotherapeuten?

Winfried Plötze: Nein. Wir haben im Rahmen unserer Analyse keine Unterversorgung feststellen können. Wohl aber, dass sich die Therapeuten ungleich verteilen. Im Landkreis Freudenstadt gibt es gerade mal drei Psychotherapeuten, in Heidelberg 295 und in Freiburg 379. Freiburg hat bundesweit die höchste Therapeutendichte.

Ist die Not in Städten wie Freiburg und Heidelberg besonders groß?

Dr. Dietrich Munz: Dass es dort so viele Psychotherapeuten gibt, ist historisch bedingt. Die Bedarfsplanung wurde 1999 eingeführt, vorher konnten sich die Therapeuten frei niederlassen und viele sind dort geblieben, wo sie studiert oder ihre Ausbildung absolviert haben. Aber diese Versorgungsdichte wird inzwischen auch kritisch beleuchtet. Es wird zum Beispiel geprüft, wie viele Behandlungen es dort in den letzten ein, zwei Jahren gegeben hat. 

Offenbar viele. Laut Barmer-Arztreport hatten in Freiburg und Heidelberg deutlich mehr Menschen Kontakt zu einem Psychotherapeuten als im Bundesdurchschnitt.

Dr. Dietrich Munz: Das hat auch mit der Bevölkerungsstruktur zu tun. Wir beobachten eine Zunahme psychischer Erkrankungen und Inanspruchnahme von Psychotherapie bei jungen Frauen und bei gut Gebildeten. Und von denen dürfte es in den Universitätsstädten vergleichsweise viele geben. 

Winfried Plötze: Das stimmt. Dennoch müssen sich die Psychotherapeuten besser im Land verteilen. Dass die Therapeutendichte in Baden-Baden vergleichsweise hoch ist liegt wohl weniger daran, dass dort die Not der Menschen besonders groß ist.

Die Corona-Pandemie treibt gerade die Digitalisierung voran. Stichwort Videosprechstunde oder Apps. Wie sieht es diesbezüglich bei den Psychotherapeuten aus? 

Dr. Dietrich Munz: Zu Beginn der Pandemie war das für viele Kolleginnen und Kollegen schwierig, weil sie bis dahin sehr wenig Erfahrung mit Behandlungen per Videokonferenzsystem hatten. Aber das hat sich schnell geändert, notfalls waren auch Behandlungen per Telefon möglich. Grundsätzlich sind digitale Anwendungen hilfreich. Etwa das Führen eines digitalen Tagebuchs oder der Einsatz von Virtual-Reality-Brillen bei Angstpatienten. Bisher war aber nicht klar, welche Anwendungen erprobt sind, wie sie abgerechnet werden können und wie es mit dem Datenschutz aussieht.

Winfried Plötze: Aber das alles ist nun im Digitale-Versorgung-Gesetz geregelt worden. Ich bin davon überzeugt, dass jetzt mehr digitale Gesundheitsanwendungen den Weg in die Praxen finden, um die Psychotherapie zu ergänzen. 

Psychotherapeutische Sprechstunde

Im Jahr 2017 wurde die Psychotherapie-Richtlinie mit dem Ziel reformiert, den Zugang zu einem Therapeuten einfacher und niederschwelliger zu gestalten. Seither müssen Psychotherapeuten oder niedergelassene Ärzte, die psychotherapeutisch tätig sind, eine psychotherapeutische Sprechstunde und eine Akutbehandlung anbieten. Die Sprechstunde kann ohne eine Überweisung aufgesucht werden. Sie ist die erste Möglichkeit für einen intensiveren Austausch zwischen Patient und Therapeut. Hier soll festgestellt werden, ob eine seelische Erkrankung vorliegt und wenn ja, wie diese nachfolgend behandelt werden sollte. Eine Sprechstunde dauert mindestens 25 Minuten und kann bei Erwachsenen höchstens sechsmal je Krankheitsfall durchgeführt werden. Therapeuten müssen pro Woche mindestens 100 Minuten für diese Sprechstunde zur Verfügung stellen, bei hälftigem Versorgungsauftrag mindestens 50 Minuten. Die psychotherapeutische Sprechstunde ist auch die Voraussetzung für eine Psychotherapie. Seit dem 1. April 2018 müssen Patienten an der psychotherapeutischen Sprechstunde teilgenommen haben, bevor sie eine Therapie beginnen.

Psychotherapeutische Akutbehandlung

Diagnostiziert ein Therapeut in der psychotherapeutischen Sprechstunde eine seelische Erkrankung, die dringend behandelt werden muss, dann kann er sofort mit einer Akutbehandlung beginnen oder für diese an einen anderen Therapeuten überweisen. Die Akutbehandlung dient dazu, Patienten ambulant in akuten psychischen Krisen und Ausnahmezuständen zu entlasten und einer Chronifizierung vorzubeugen. Die Akutbehandlung wurde 2017 neu eingeführt. Die Wartezeit auf einen Behandlungstermin darf zwei Wochen nicht überschreiten. Eine Überweisung ist nicht erforderlich.

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Pressesprecherin Barmer Baden-Württemberg
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