Immer häufiger suchen Menschen auch während der regulären Praxisöffnungszeiten und ohne ärztliche Einweisung Krankenhäuser auf. Sie belasten die Notaufnahmen, verschwenden Ressourcen, verursachen Kosten und sorgen für Unmut zwischen niedergelassenen Ärzten und Kliniken. Dr. Johannes Fechner, Stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW), wehrt sich gegen den Vorwurf, die Kliniken müssten für die niedergelassenen Ärzte in die Bresche springen. Ein Austausch mit Barmer Landesgeschäftsführer Winfried Plötze.
Herr Dr. Fechner, wie sehr ärgert Sie die Anschuldigung der Kliniken?
Dr. Fechner: Die ärgert mich schon sehr, aber letztendlich ärgert die ganze Situation auch die Kliniken. Die haben keine Kapazitäten für noch mehr ambulante Fälle.
Fakt ist aber: Immer mehr Patienten gehen in die Notaufnahme. Geht es deshalb in den Praxen der niedergelassenen Ärzte entspannter zu?
Dr. Fechner: Wenn dem so wäre, dann würden wir keine Terminservicestelle benötigen. Fakt ist auch, dass jährlich 50 Millionen Patienten ambulant behandelt werden. Davon schlagen innerhalb eines Jahres 430.000 werktäglich in den Klinikambulanzen auf und von denen gehören zwei Drittel auch tatsächlich dort hin. Und ein Gutachten des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung kommt auf eine Auslastung der Klinikambulanzen von 1,2 Patienten pro Stunde. Diese Zahlen rücken das Verhältnis gerade.
Dann haben wir also gar kein Problem mit ungesteuerten Patientenströmen?
Dr. Fechner: Doch. Denn jeder fehlgeleitete Patient in der Klinikambulanz bindet dort Ressourcen, die für die echten Notfälle fehlen. Aber die niedergelassenen Mediziner sind auch am Limit. Ich sage nur Regelleistungsvolumina. Wer pro Quartal 1.700 Fälle vergütet bekommt, hat nur wenig Ambitionen, zusätzlich weitere 200 Fälle zu versorgen.
Dann ist die Vergütung durch die Krankenkassen der Grund für überfüllte Notaufnahmen?
Plötze: Nein. Die Kassen honorieren ordentlich, davon können auch niedergelassene Ärzte gut leben. Und das Argument, dass am Quartalsende keine Patienten mehr behandelt werden können, ist für mich nur bedingt nachvollziehbar. Was gar nicht nachvollziehbar ist, dass dieselbe Leistung unterschiedlich vergütet wird, je nachdem, ob sie ambulant oder stationär erbracht wird. Es muss gelten: gleiches Geld für gleiche Leistung.
Dr. Fechner: Und die Leistung muss dann dort erbracht werden, wo sie am günstigsten ist. Was die Vergütungspauschale der Ärzte angeht: Das ist eine Mischkalkulation. Die Crux dabei ist die Limitierung der Behandlungsfälle.
Plötze: Meiner Meinung nach müssen wir zu einer Teilpauschalierung übergehen. Ein kranker Patient, der erstmals in einer Praxis vorstellig wird, verursacht einen anderen Arbeitsaufwand als ein Patient, der regelmäßig zum Blutdruckmessen vorbei kommt. Das muss anders vergütet werden. Sonst wollen die Ärzte irgendwann nur noch gesunde Patienten behandeln.
Viele Patienten finden es praktisch, dass sie in den Klinken Ärzte aller Fachrichtungen vorfinden, und bevorzugen deshalb die Notfallambulanz.
Dr. Fechner: „One-step-shopping“ sozusagen. Das ist vor allem in den Städten ein Problem, dort leben vermehrt bequeme Patienten, die zudem keinen Hausarzt haben.
Was spricht gegen Portalpraxen an jeder Klinik? Dafür könnte doch die Infrastruktur der bereits existierenden Notfallpraxen genutzt werden?
Plötze: Das wäre der Idealzustand, verwehren sollten wir uns der Idee nicht. Die Frage ist nur, wie diese Portalpraxen finanziert werden sollen.
Dr. Fechner: Wir werden an fünf Standorten in Baden-Württemberg Portalpraxen eröffnen. Aber in der Summe fehlen mir schlicht Ärzte, um diese flächendeckend zu besetzen.
Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, schlägt vor, defizitäre Kliniken zu schließen und die Klinikärzte in die ambulante Versorgung zu stecken. Dann hätten Sie Personal.
Dr. Fechner: Damit wird das Problem nicht gelöst, denn in der Portalpraxis muss ein gestandener Hausarzt sitzen. Ideal wäre, wenn wir Allgemeinmediziner im Ruhestand für die Portalpraxen gewinnen könnten. Aber perspektivisch brauchen wir mehr Hausärzte. Auch, weil ich inzwischen drei Mediziner benötige, um einen Ruheständler zu ersetzen.
Das Klinikum Karlsruhe hat ein hausärztliches MVZ gegründet, das als Portalpraxis dient. Die Internisten dort rechnen über die KV ab. Ein Einzelfall oder taugt das Modell als Blaupause?
Dr. Fechner: Blaupause wäre schön. Aber mein Personalproblem bleibt. Um Portalpraxen im Land flächendeckend betreiben zu können, brauche ich 300 bis 400 Mediziner. Und die sind einfach nicht vorhanden.
Was können wir dann tun, um die Patienten zu steuern?
Dr. Fechner: Tja, mit der Forderung nach einer Praxisgebühr können wir Ärzte nicht um die Ecke kommen...
Plötze: Wir haben den Rettungsdienst in Baden-Württemberg reformiert, die gesetzlichen Krankenkassen investieren bis zum Jahr 2022 insgesamt 110 Millionen Euro in die Ausbildung der Notfallsanitäter. Langfristig sollten wir deshalb die doppelten Hilfsfrist abschaffen, um die „Ressource Mediziner“ besser nutzen zu können. Das könnte für Entspannung in den Klinikambulanzen sorgen. Und die Rufnummer 116117 für den ärztlichen Notdienst muss noch massiver beworben werden, das wäre wichtig.
Dr. Fechner: In Dänemark müssen Patienten die 1318 anrufen, bevor sie zum Arzt gehen. Dann werden sie von geschultem Personal in die richtige Versorgungsschiene gesteuert. Ob der Ansatz funktioniert, wird die KVBW mit dem Projekt „DocDirekt“ testen.
Bieten Telemedizin und sektorübergreifende Versorgung Lösungsansätze?
Plötze: Auf jeden Fall. Der Sektorenübergreifende Landesausschuss beschäftigt sich mit solchen Themen, deshalb sehe ich Baden-Württemberg in der neuen Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur sektorübergreifenden Versorgung auch im Lead.
Dr. Fechner: Telemedizin ist eine Option!
Gegen Telemedizin sträuben sich aber viele Ihrer Kollegen.
Dr. Fechner: Ich teile nicht die Sorge, dass die Telemedizin einen ganzen Berufsstand überflüssig machen wird. Sie wird die Arbeit des Arztes verändern, aber wir werden ihretwegen nicht alle arbeitslos werden.
Portalpraxen
Sind zentralen Anlaufstellen im Krankenhaus. Die Patienten stellen sich in der Portalpraxis vor, dort wird dann entschieden, ob ein akuter ambulanter Behandlungsbedarf besteht, und steuert die Patienten in die richtige Versorgungsstruktur (niedergelassener Arzt, Notfallpraxis oder Notaufnahme). Zusätzlich kann in der Portalpraxis eine kassenärztliche Notdienstpraxis integriert sein.
Notfallpraxen
regeln den ärztlichen Bereitschaftsdienst außerhalb der Sprechstunden, sprich nachts, am Wochenende oder an Feiertagen. In den meisten Fällen sind diese Bereitschaftsdienstpraxen direkt an Krankenhäusern angesiedelt. Sie kümmern sich darum, dass Patienten in dringenden medizinischen Fällen auch außerhalb der regulären Sprechzeiten ambulant behandelt werden, eine Terminvereinbarung ist nicht notwendig.
Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ)
vereint Ärzte und Fachärzte unter einem Dach. Sie können von niedergelassenen Ärzten, Kliniken, Kommunen und gemeinnützigen Trägern gegründet werden. Ein MVZ muss immer ärztlich geleitet werden und ist innerhalb der Sprechstundenzeiten ebenso Anlaufstelle für Patienten wie die Praxis eines niedergelassenen Arztes.