Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit, Gesundheitsinformationen finden, verstehen, beurteilen und anwenden zu können. Mit dem Ziel, Krankheiten zu vermeiden und die eigene Gesundheit zu fördern. Klingt einfach, ist es aber nicht. Das belegt eine aktuelle Studie von Prof. Dr. Doris Schaeffer von der Universität Bielefeld.
Frau Prof. Schaeffer, sie forschen zur Gesundheitskompetenz der Deutschen. Ist Ihre Gesundheitskompetenz auch schon einmal derart gefordert worden, dass Sie dachten: Hoppla, jetzt wird es hier aber kompliziert!
Schaeffer: Natürlich habe ich solche Momente auch. Etwa dann, wenn ich manchen Beipackzettel lese. Und manchmal auch, wenn ich Informationen im Netz suche oder sie zur Lösung eines Problems nutzen will. Zu bedenken ist auch, dass sich unsere Gesundheitskompetenz ständig verändert, weil sich unsere Umwelt permanent wandelt. Ich kann heute bei etwas kompetent sein und morgen vielleicht schon nicht mehr.
Geben Sie uns einen kurzen Einblick: Wie haben Sie unsere Gesundheitskompetenz ermittelt und wie ist es laut Ihrer Studie um diese bestellt?
Schaeffer: Unter der Gesundheitskompetenz wird die Fähigkeit verstanden, gesundheitsbezogene Informationen zu finden, zu verstehen, einzuschätzen und anzuwenden, um tragfähige Entscheidungen für die eigene Gesundheit treffen zu können. In unseren Studien haben wir untersucht, wie einfach oder schwierig das den Menschen fällt. Wir haben jetzt die dritte bundesweite Befragung durchgeführt. Dabei zeigt sich immer wieder, dass die Gesundheitskompetenz der Bundesbürger nicht besonders gut ausgeprägt ist. Bei 55,7 Prozent der Befragten ist sie laut unserer neuen Studie gering. Zwar freuen wir uns, dass dieser Anteil gesunken ist. Bei unserer letzten Erhebung im Jahr 2021 lag er noch bei fast 59 Prozent. Aber von einer hohen Gesundheitskompetenz sind wir in Deutschland noch immer weit entfernt.
Worauf führen Sie die Verbesserung im Vergleich zu Ihrer vorhergegangenen Untersuchung zurück?
Schaeffer: Ich kann mir vorstellen, dass das ein Effekt der Pandemie ist. Während der Pandemie waren die Menschen gezwungen, sich intensiv mit Gesundheitsfragen und Gesundheitsinformationen zu beschäftigen und sich laufend über neue Erkenntnisse zu informieren. Das war lebenswichtig. Seitdem sind sie stärker dafür sensibilisiert und haben vermutlich exemplarisch gelernt.
Welcher von den vier Schritten – finden, verstehen, beurteilen, anwenden – bereitet den Menschen die größten Schwierigkeiten?
Schaeffer: Die Beurteilung der Informationen fällt nach wie vor am schwersten. Das ist nicht erstaunlich, denn wir werden heutzutage mit sehr, sehr vielen Informationen konfrontiert und ein Großteil davon ist nicht neutral, fragwürdig und auch falsch. Diese Durchmischung verunsichert, weil die Menschen nicht wissen: Was ist wahr und was nicht? Nicht ohne Grund spricht die Weltgesundheitsorganisation davon, dass wir uns in einer Infodemie befinden, mit einem hohen Anteil an Fehl- und Falschinformationen. Hinzukommt, dass die Menschen unterschiedlich gut ausgestattet sind, um mit der Infodemie und mit Gesundheitsinformationen umzugehen. Denn Gesundheitskompetenz ist sozial unterschiedlich verteilt.
Was meinen Sie damit?
Schaeffer: Auch bei der Gesundheitskompetenz zeigt sich eine soziale Kluft. Sie hat sich sogar vergrößert, was sich besonders stark bei der digitalen Gesundheitskompetenz zeigt. Personen mit niedrigem Sozialstatus, geringem Einkommen und niedriger Bildung tun sich besonders schwer mit der Beurteilung von Gesundheitsinformationen. Mit etwas Abstand gefolgt von älteren Menschen und chronisch Mehrfacherkrankten. Sie schätzen auch den Umgang mit Gesundheitsinformationen schwieriger ein. Vor allem im Vergleich zu Bessergestellten. Deshalb sollten wir den benachteiligten Gruppen bei der Förderung von Gesundheitskompetenz besondere Aufmerksamkeit schenken. Und es ist notwendig, Zuverlässigkeit und Qualität von Gesundheitsinformationen zu verbessern.
Was können wir tun?
Schaeffer: International wird seit längerem versucht, verbindliche Qualitätsindikatoren für digitale Informationen zu entwickeln. Die Bertelsmann-Stiftung ist daran mit dem Projekt ‚InfoCure‘ beteiligt. Ziel ist, ein internationales Zertifizierungssystem für glaubwürdige Anbieter von digitalen Gesundheitsinformationen zu schaffen. Aber letztendlich betrifft die digitale Desinformation nicht nur die Gesundheit, sondern alle Bereiche der Gesellschaft. Deshalb muss das Thema einen bedeutenderen Platz auf der politischen Agenda erhalten. Getreu dem Motto: Health literacy in all policies!
Es gibt die Webseite 'gesund.bund.de' des Bundesgesundheitsministeriums. Die sollte verlässliche Informationen liefern. Ich glaube aber, dass sie zu wenig bekannt ist.
Schaeffer: Die Bekanntheit dieser Webseite, die ganz sicher verlässliche Informationen anbietet, steigt. Aber es wird sich in der kommenden Zeit vieles durch die Ausweitung von KI-generierten Informationen verändern. Inzwischen liefern Suchmaschinen als ersten Treffer eine Übersichtsinformation und die reicht vielen Menschen als erste Antwort auf ihre Frage. Sie gehen erheblich weniger auf einzelne Webseiten. Hinzu kommen die Chatbots, die zu allen möglichen Themen Informationen liefern. Und das in verständlicher, individuell zugeschnittener Form und auf freundliche, ja scheinbar einfühlsame Art und Weise. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen und die gesamte Informationslandschaft verändern. Das man jetzt über ein gemeinsames Portal von allen Institutionen im Gesundheitswesen nachdenkt, das sichere Informationen liefert, ist begrüßenswert, dürfte aber fast zu spät sein. Stattdessen müssen wir uns in Deutschland intensiver mit dem Thema KI-generierte Informationen beschäftigen. Vor allem, wenn wir uns nicht dem ausliefern möchten, was uns die Technologiegiganten anbieten.
Es heißt, die Baden-Württemberger seien die gesündesten Deutschen. Lässt sich daraus folgern, dass die Gesundheitskompetenz im Ländle besonders gut ist?
Schaeffer: Leider nein, das lässt sich nicht schlussfolgern. Die Gesundheitskompetenz liegt in Baden-Württemberg unserer Studie zufolge nah am Bundesdurchschnitt. 54,7 Prozent der Baden-Württemberger und Baden-Württembergerinnen haben eine geringe Gesundheitskompetenz. Zwar hat sie sich in den letzten Jahren stark verbessert, trotzdem bleibt die Förderung der Gesundheitskompetenz auch in Baden-Württemberg eine wichtige Aufgabe.
Sie haben auch die navigationale Gesundheitskompetenz untersucht, also wie wir uns im Gesundheitswesen zurechtfinden. Wie souverän bewegen wir uns im deutschen Gesundheitssystem?
Schaeffer: Überhaupt nicht souverän. Bundesweit verfügen 82 Prozent der Befragten über eine geringe navigationale Gesundheitskompetenz. Und das hat sich in den letzten fünf Jahren so gut wie nicht verändert. Fast genauso hoch ist auch der Wert, den wir für Baden-Württemberg ermittelt haben. Sich in unserem Gesundheitssystem zurechtzufinden oder zu verstehen, wie es funktioniert, wird von der Bevölkerung als sehr schwierig beurteilt. Das muss uns zu denken geben.
Welche Folge kann es haben, wenn ich mich in unserem Gesundheitssystem nicht zurechtfinde?
Schaeffer: Als erstes ist es ein Hinweis darauf, dass das Gesundheitssystem zu unverständlich, zu komplex und zu unübersichtlich ist. Deshalb wandern die Patientinnen und Patienten von einer Einrichtung zur nächsten. Die Folgen sind Über-, Fehl- und Unterversorgung. Und das ist teuer.
Was schlagen Sie vor?
Schaeffer: Wir sollten die aktuellen Reformdebatten nicht nur unter finanziellen Gesichtspunkten führen, sondern auch der Frage nachgehen, wie das Gesundheitssystem schlanker und nutzerfreundlicher gestaltet werden kann. Denn dann würden sich die Menschen besser zurechtfinden und ohne kostenintensive und belastende Umwege an der richtigen Stelle landen. Ich begrüße deshalb die aktuelle Diskussion über die Einführung von Primärversorgungszentren, wie sie in vielen Ländern üblich sind. Ich halte sie für das Modell der Zukunft. Baden-Württemberg ist hier Vorreiter. Die Robert Bosch Stiftung engagiert sich hier seit vielen Jahren für die Etablierung der sogenannten PORT-Zentren, in denen Ärztinnen und Ärzten und verschiedene Gesundheitsberufe eng zusammenarbeiten und versuchen, eine umfassende Versorgung inklusive Förderung der Gesundheitskompetenz zu ermöglichen.
Aber sind Ärztinnen und Ärzte überhaupt die Richtigen, um die Gesundheitskompetenz der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern? Weder haben sie die Zeit dafür noch einen ICD-10-Code, mit dem sie 'Verbesserung der allgemeinen Gesundheitskompetenz' mit den Krankenkassen abrechnen können.
Schaeffer: Tja, unter Qualifikationsgesichtspunkten ist das vielleicht fraglich, denn die Stärkung von Gesundheitskompetenz erfordert neben Fachwissen solide edukative Fähigkeiten. Aber: Wenn Sie Menschen danach fragen, an wen sie sich wenden, wenn sie Informationen über Gesundheit und Krankheit suchen, dann sind es die Hausärzte, gefolgt vom Internent und den Fachärzten. Das ist ein weiteres Ergebnis unserer Studie. Es ist also egal, ob wir die Ärztinnen und Ärzte für die geeignete Instanz halten. Sie werden de facto im Alltag mit den Gesundheitsfragen und -problemen der Patientinnen und Patienten konfrontiert. Deshalb sollten sie sich ebenso wie andere Gesundheitsberufe fragen, was sie dazu beitragen können, um die Gesundheitskompetenz in Deutschland zu verbessern.
Wie ist ihr Ausblick in die Zukunft? Wird’s eher besser oder schlechter werden und warum?
Schaeffer: Das ist schwierig einzuschätzen. Kinder und Jugendliche sind heute viel sensibler für Gesundheitsthemen, das könnte eine Chance sein. Auch die Veränderung durch die Verbreitung von KI-generierten Informationen dürfte positive Auswirkungen haben. Allerdings zeigen sich hier auch negative Entwicklungen, weil auch manipulative Falschinformationen durch die KI verständlicher und schneller verbreitet werden. Welche Effekte überwiegen werden, ist derzeit nicht absehbar. Wenn man sich aber neue Studienergebnisse ansieht, dann lässt sich so oder so schlussfolgern, dass die die gesellschaftliche Bedeutung von Gesundheitskompetenz auf politischer Ebene nach wie vor unterschätzt wird. Jedoch bleibt sie eine wichtige Aufgabe, die mehr und nachhaltigeres Engagement erfordert.