Ein Notfallwagen im Einsatz.
Interview mit Christof Chwojka

"Der deutsche Rettungsdienst fährt gegen die Wand"

Lesedauer unter 7 Minuten

In seiner Heimat Österreich hat Christof Chwojka den Rettungsdienst neu aufgestellt. Jetzt setzt sich der 57-Jährige als Geschäftsführer der Björn Steiger Stiftung dafür ein, dass auch bei uns das Rettungswesen reformiert wird. Dass das dringend notwendig ist, daran besteht kein Zweifel. Was alles im Argen liegt und welche Gründe es dafür gibt, dafür findet der Österreicher im Interview deutliche Worte.

Herr Chwojka, was regt Sie am deutschen Rettungsdienst am meisten auf?

Ein Mann trägt eine österreichischen Rettungssanitäteruniform und schaut in die Kamera.

Christof Chwojka blickt kritisch auf das deutsche Rettungswesen. / Foto: privat

Chwojka: Dass in Deutschland seit 20 Jahren Stillstand herrscht. Früher haben wir Österreicher ehrfürchtig zu euch rüber geschaut, weil Deutschland tolle Leitstellen hatte, tolle Einsatzfahrzeuge und so weiter. Heute machen wir das nicht mehr.

Was ist so schlecht an den deutschen Leitstellen?

Chwojka: Die Organisation, die Technik, das Denken. Alles. Wenn in einer deutschen Leitstelle ein Notruf eingeht, dann wird die Adresse aufgeschrieben und ein Rettungswagen rausgeschickt. Mehr nicht. Das ist unfassbar, denn die Leitstellen sind Gatekeeper! Sie haben dafür zu sorgen, dass die Anrufer das bekommen, was sie brauchen. Und nicht das, was sie gerne hätten. Wer die 112 oder die 116 117 wählt, muss von der Leitstelle zum besten Point-of-Service gelotst werden, wie es auf Neudeutsch heißt. Aber das passiert nicht. Ob und wie den Anrufern geholfen wird, das bleibt in Deutschland weitgehend dem Zufall überlassen.

Zu dem Ergebnis kommen wir beim Auswerten unserer Daten leider auch. Ob ein Mensch einen Herz-Kreislauf-Stillstand überlebt, hängt unter anderem von dessen Wohnort ab. Ein Grund ist, dass der Rettungsdienst zu oft unnötig ausrückt und dann in einem echten Notfall nicht rechtzeitig zur Verfügung steht. 

Chwojka: So ist es. Der deutsche Rettungsdienst wird mit Bagatellen geflutet! Da ruft jeder wegen allem an. Was daran liegt, dass die Menschen keine Gesundheitskompetenz mehr haben und sie auch nicht wissen, an wen sie sich sonst wenden können. Das nur nebenbei. Die Hilfe nach dem Zufallsprinzip wird dadurch auf den Gipfel getrieben, dass jeder Rettungsdienstbereich machen darf, was er will. In Winnenden werden mir die Sanitäter anders helfen als in Würzburg. Das hängt allein vom Ärztlichen Leiter Rettungsdienst ab, der wie ein Landvogt über den Rettungsdienst und die Freigabe von Tätigkeiten herrscht. Das ist absurd. Und es verletzt das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Deshalb hat die Björn Steiger Stiftung vor dem Bundesverfassungsgericht auch eine Beschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und das Land Baden-Württemberg eingereicht.

Wie ist da der aktuelle Stand?

Chwojka: Wir haben die Klage eingereicht und warten nun darauf, dass sie angenommen wird.

Was würden Sie im deutschen Rettungswesen zuerst ändern?

Chwojka: Ich würde sofort internationale Standards in der Notrufabfrage einführen. Die gibt es und die werden weltweit genutzt. Nur nicht in Deutschland. Aber wir brauchen diese Standards, damit wir die Patienten gezielt lenken und die Rettungskräfte entlasten können. Ich würde auch die Zahl der Leitstellen anpassen. In Österreich zum Beispiel haben wir eine Leitstelle pro Bundesland, die Niederlande überlegen, eine für das ganze Land einzurichten. In der Bundesrepublik gibt es um die 250. Und die Digitalisierung ist an Deutschland komplett vorbeigegangen. Die medizinische Versorgung würde hier zusammenbrechen, wenn die Faxgeräte abgeschaltet würden. 

Haben Sie eine Idee, warum wir offenbar krampfhaft an schlechten Strukturen festhalten?

Chwojka: Meiner Meinung nach ist das ein Mentalitätsproblem. In Deutschland macht niemand etwas ohne einen gesetzlichen Auftrag. Und jeder versucht, sich abzusichern, damit er am Ende nicht schuld ist, wenn was nicht fehlerfrei läuft. Aber wenn ich mich 1000-Mal absichere, dann ist jede Innovation tot! Und man macht aus jeder Lösung ein Problem. Man überlegt nicht, wie eine Sache cool umzusetzen wäre. Man überlegt immer nur, warum etwas nicht gehen könnte. Und alle Beteiligten versuchen, ihre Pfründe zu sichern.

Sie haben den Rettungsdienst in Österreich umgekrempelt. Was können wir uns bei euch abschauen?

Chwojka: Die Organisation unserer Leitstellen und unsere grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Ich wohne nahe der tschechischen Grenze. Hier ist es völlig normal, dass die Kollegen aus Tschechien bei einem Notfall ausrücken, wenn sie am nächsten sind. Wir leben in einem vereinten Europa, aber in Deutschland wird in Landkreisgrenzen gedacht. In Baden-Württemberg gibt es sogar zwei Landesverbände des Roten Kreuzes. 

Bleiben wir in Baden-Württemberg. Wir haben eine neue Hilfsfrist. Bei schweren Fällen müssen die Rettungskräfte in zwölf Minuten vor Ort sein. Früher durften es zehn bis 15 sein. Ist das nicht fortschrittlich?

Chwojka: Für mich ist die neue Hilfsfrist ein Taschenspielertrick. 

Warum?

Chwojka: Die alte Hilfsfrist wurde zu oft nicht eingehalten. Was wird gemacht, um das zu ändern? Es werden möglichst viele Fälle aus der Statistik rausgenommen und die Uhr tickt nicht mehr ab dem Eingang des Notrufs, sondern erst ab dem Ausrücken der Rettungskräfte. Bisher wurde auch noch nicht einmal genau definiert, was ein Notfall ist, bei dem die neue 12-minütige Hilfsfrist greift. 

Kann die Leitstelle nicht einschätzen, ob es sich um einen Notfall handelt oder nicht?

Chwojka: Das könnte sie, wenn die standardisierte Notrufabfrage genutzt würde. Aber bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand kommt die Hilfe auch nach zwölf Minuten zu spät, da muss sofort mit der Wiederbelebung begonnen werden. Aber es gibt kein flächendeckendes First- Responder-System, über das Ersthelfer alarmiert werden können. Das ist auch ein Problem.

Das neue Rettungsdienstgesetz in Baden-Württemberg ist fast ein Jahr alt. Ein neuer Rettungsdienstplan lässt allerdings auf sich warten. Der letzte ist vom August 2022. Welche Probleme ergeben sich daraus?

Chwojka: Das Gesetz ist ein Pfusch, da kontrollieren sich alle selbst. Und dass es keinen aktualisierten Rettungsdienstplan gibt, sagt viel über diejenigen aus, die das Gesetz gemacht haben. Die haben im Wortsinn keinen Plan. Der Rettungsdienst ist nur so gut wie die handelnden Personen. Und wenn im Ministerium bei den handelnden Personen das Fachwissen völlig fehlt, dann kommt so was dabei heraus. 

Sie sagten, dass bei uns jeder wegen allem die 112 wählt, weil es auch keine Alternativen gibt. Nun werden in Baden-Württemberg 18 Bereitschaftspraxen geschlossen. Was muss getan werden, damit jetzt nicht noch mehr 'Notrufe' eingehen, die keine sind? Wer ist hier in der Verantwortung?

Chwojka: Der Gesetzgeber. Gäbe es gute, einheitlich arbeitende Leitstellen, dann würde sich das Problem nicht stellen. Denn würde jeder Anrufer eine gute telefonische Gesundheitsberatung erhalten und in den richtigen Versorgungspfad gelotst werden. Und das muss nicht die Notaufnahme sein. Manchmal ist der Gang zur nächsten Apotheke völlig ausreichend. 

So läuft es in Österreich, richtig?

Chwojka: Ja, genau. Weil wir eine standardisierte Abfrage nutzen, um zu erkennen, was den Menschen fehlt und welche Versorgung für sie die Beste ist. Wer bei uns den Notruf wählt will wissen, was zu tun ist. Die meisten wissen nicht, dass bei einem geschwollenen Fuß Ruhe, Kühlen und ein Schmerzmittel ausreichen können. Und dass sie keinen Notarzt brauchen. Nach der Beratung bekommen die Anrufer einen Link zugeschickt, in dem alle Informationen enthalten sind. Auch der Kontakt zur Praxis, wenn ein Arztbesuch empfohlen wurde. Dafür nehmen wir uns Zeit, und wenn die Gesundheitsberatung weit über zehn Minuten dauert, dann ist das egal.

Lieber zehn Minuten telefonieren als Stunden in der Notaufnahme zu verbringen. Das wäre auch in meinem Interesse.

Chwojka: Als wir die Gesundheitsberatung in Österreich neu aufgestellt haben, habe ich die Politik darauf eingeschworen, dass es Beschwerden aus der Bevölkerung hageln wird. Aber das Gegenteil war der Fall. Die Leute sind dankbar dafür, dass ihnen geholfen wird. Über 80 Prozent der Anrufer machen genau das, was ihnen von den Mitarbeitern in unseren Leitstellen empfohlen wird.

Unsere neue Bundesgesundheitsministerin hat angekündigt, die Notfallversorgung zu reformieren. Was sollte ganz oben auf Frau Warkens To-do-Liste stehen?

Chwojka: Die Leitstellen zu digitalisieren, die standardisierte Notrufabfrage einzuführen, den Rettungsdienst im Sozialgesetzbuch V verorten und ein Rahmengesetz erlassen, in dem der Bund Qualitätsvorgaben für den Rettungsdienst macht, die überall eingehalten werden müssen. In Deutschland ist man es gewöhnt, Probleme mit Geld zu lösen. Das funktioniert nicht mehr, weil es keine personellen Ressourcen mehr gibt. Die Arbeit verteilt sich auf immer weniger Menschen. Wenn Frau Warken den Rettungsdienst nicht zügig reformiert, dann fährt das System gegen die Wand.