Prof. Dr. med. Uwe Martens ist Direktor der Klinik für Innere Medizin III am SLK-Klinikum Heilbronn und Leiter des Tumorzentrums Heilbronn-Franken. Seit dem Jahr 2019 ist er auch Vorstandsvorsitzender des Krebsverbandes Baden-Württemberg, der in diesem Jahr sein 50-jähriges Bestehen gefeiert hat. Aus diesem Anlass sprachen wir mit Uwe Martens über die Arbeit des Verbands und die Entwicklungen in der Onkologie.
Herr Prof. Martens, vor 50 Jahren ging der Krebsverband Baden-Württemberg aus dem Dachverband der Deutschen Krebsgesellschaft hervor. Wie wegweisend war das?
Mit der Gründung des Krebsverbandes Baden-Württemberg haben sich der Landesverband Baden und der Landesverband Württemberg zusammengeschlossen. Ziel der neuen Organisation war von Anfang an, die Krebspatientinnen und –patienen besser zu informieren und Kampagnen für die Krebsprävention zu organisieren. Im Laufe der Zeit wurden strukturelle Impulse immer wichtiger, da die Behandlung von Krebserkrankungen durch viele Akteure gestaltet wird. Außerdem war die Onkologie schon immer eine Fachrichtung, in der sehr viel Wissen generiert wurde und die sich sehr dynamisch entwickelt hat. Durch die Vernetzung von allen Akteuren im Land wurde es möglich, dass dieses Wissen geteilt wird. Davon profitieren alle Patientinnen und Patienten. Durch die Krebsverbände haben die Betroffenen auch wichtige Fürsprecher erhalten und die Selbsthilfe wurde gestärkt. Auch gegenüber der Politik. Das alles waren schon wegweisende Schritte.
Was ist ihrer Meinung nach die größte Errungenschaft des Krebsverbands?
Es gibt mehrere Punkte, die ich hervorheben möchte. Der Krebsverband hat schon früh die Zentrumsstrukturen in Baden-Württemberg mitgeprägt. So entstanden Tumorzentren und onkologische Schwerpunkte mit dem Ziel, flächendeckend eine hochqualitative Versorgung zu gewährleisten. Im Jahr 1996 hat der Krebsverband die ATO gegründet, die Arbeitsgemeinschaft der Transdisziplinären Onkologischen Versorgung. Das ist ein deutschlandweit einmaliges Netzwerk. In elf Arbeitsgruppen bringen sich hier alle ein, die an der onkologischen Versorgung beteiligt sind. Von der Selbsthilfe über die Psychoonkologie bis zur Brückenpflege. Die Brückenpflege ist auch aus dem Krebsverband hervorgegangen. Sie kümmert sich intensiv um Krebspatientinnen und –patienten, auch außerhalb der Klinik. Außerdem hat der Verband schon sehr früh betont, dass Krebs auch eine seelische und eine soziale Komponente hat. Und dass die Patientinnen und Patienten mehr brauchen als eine reine Tumortherapie. Deshalb haben wir uns für die landesweite Etablierung von Krebsberatungsstellen eingesetzt. Alles das resultiert darin, dass Menschen mit Krebs heute sehr viel besser behandelt und versorgt werden. Und das ist für mich die größte Errungenschaft des Krebsverbands Baden-Württemberg.
Eine wichtige Aufgabe des Verbandes ist die Beratung der Patientinnen und Patienten. Welche Rolle spielen sie heutzutage in der Krebstherapie? Stichwort Patient Empowerment.
Das Patient Empowerment wird immer wichtiger. Deshalb war es auch das Thema der diesjährigen ATO-Tagung. Die Patientinnen und Patienten sind heute viel besser informiert. Und das fließt in die Behandlung mit ein. Wir streben bei der Therapieplanung eine gemeinsame Entscheidungsfindung an und motivieren die Patientinnen und Patienten zu mehr Selbstbestimmung. Diese Entwicklung finde ich sehr gut, aber die Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich.
Wie meinen Sie das?
Es gibt Menschen, die mit ihrer Krankheit überfordert sind. Wenn sie mit denen die Krebstherapie besprechen, dann sagen die: "Was soll ich dazu sagen? Sagen Sie mir, was ich tun soll." Das Wissen über Krebs hat sich vermehrt, aber das Informationsbedürfnis ist auch größer geworden. Die Patientinnen und Patienten möchten wissen, was auf sie zukommt und welche Optionen sie haben. Deshalb müssen sie in der Onkologie sehr viele Gespräche führen. Dafür bräuchten wir viel mehr Zeit.
Was raten Sie Menschen, die eine Krebsdiagnose erhalten?
Ich rate ihnen, in ein zertifiziertes Krebszentrum oder zu assoziierten Partnern zu gehen, damit die Diagnostik und Therapieeinleitung zügig und nach bestem wissenschaftlichen Standard erfolgen kann. Viele rennen von einem Arzttermin zum nächsten, das kostet wertvolle Zeit. Auch bietet die Teilnahme an innovativen Studien die Möglichkeit, von neusten Therapiekonzepten zu profitieren. Und sie sollten sich Unterstützung holen. Auch seelisch. Denn die Angst kann ein extremer Begleiter sein. Hier bieten der Krebsverband und vor allem die angegliederten Krebsberatungsstellen eine wertvolle Hilfe an.
Wie würden Sie die heutige Situation von Krebspatienten beschreiben?
Die Behandlung hat sich gravierend verbessert. Die Zeit der reinen Chemotherapie ist vorbei. Neben der zielgerichteten Therapie mit Antikörpern können wir mit der Immuntherapie heute ganz gezielte Waffen gegen den Krebs einsetzen. Das ist ein Quantensprung. Und mit der Impfung gegen Humane Papillomviren können wir vor Gebärmutterhalskrebs schützen. Allerdings ist bei der Impfquote noch Luft nach oben vorhanden. Als vor 50 Jahren der baden-württembergische Krebsverband gegründet wurde, hat weniger als die Hälfte der Krebspatientinnen und –patienten überlebt. Heute liegt die Quote bei etwa 70 Prozent. Die Diagnose Krebs ist bei vielen Tumorarten kein Todesurteil mehr. Brust- und Prostatakrebs können inzwischen gut behandelt werden, wenn sie im Frühstadium erkannt werden. Was uns in der Krebsforschung aber Sorgen bereitet, ist die Zunahme einiger Tumorerkrankungen, wie zum Beispiel Bauchspeicheldrüsenkrebs. Und auch des sogenannten early-onset cancer.
Was heißt das?
Das heißt, dass immer mehr Jüngere an Krebs erkranken. Wir sehen beispielsweise eine Zunahme von Darmkrebs bei Menschen unter 50 Jahren. Die Ursachen sind nicht klar und vermutlich multifaktoriell bedingt. Etwa durch schlechte Ernährung, Bewegungsmangel und möglicherweise auch durch Veränderungen in der Darmflora.
Werden sich diese Fälle im Zuge des demografischen Wandels häufen?
Ja, davon gehe ich aus.
Was kommt da sonst noch auf die Gesellschaft zu?
Da rollt ein Versorgungsproblem auf uns zu. Im Jahr 2030 werden wir aufgrund des demografischen Wandels circa 20 Prozent mehr Krebserkrankungen haben als heute. Gleichzeitig steigt die Personalnot im Gesundheitswesen. Es wird weniger Onkologen und Pflegekräfte geben, die sich um diese Patienten kümmern können. Und es kommen immer mehr innovative, aber hochpreisige Medikamente auf den Markt. Alles das sind ungelöste Probleme.
Brauchen wir dann nicht eine gesellschaftliche Diskussion über die Zukunft der Krebstherapie?
Ja, die brauchen wir dringend. Wir müssen darüber reden, wie wir breite Versorgungsstrukturen schaffen, um den Krebspatientinnen und –patienten Hilfe anbieten zu können. Trotz steigender Fallzahlen und zunehmendem Personalmangel. Wir müssen auch über die Kostenentwicklung reden. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir in einem reichen Land leben. Aber was die Krankenkassen jetzt schon stemmen, ist enorm. Und der Punkt der Nichtbezahlbarkeit steht vor der Tür. Diese Probleme müssen gelöst werden. Und ich sage Ihnen ganz ehrlich: Eine Antwort auf diese Fragen habe ich nicht.
Könnte die Prävention ein Teil der Antwort sein?
Absolut! Nicht das Behandeln, sondern das frühe Erkennen und Vorbeugen von Krebs muss unser Ziel sein. Aber das ist bis heute nicht in den Köpfen vieler Menschen angekommen. Die sagen sich: "Warum soll ich zur Krebsvorsorgeuntersuchung gehen? Ich habe doch keine Beschwerden." Um die Zahl der Krebserkrankungen zu reduzieren, brauchen wir einen gesellschaftlichen Sinneswandel und auch mehr Eigenverantwortung.
Was sollte denn jeder tun, um das Krebsrisiko zu reduzieren?
Die Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen. Wenn das alle machen würden, dann hätten wir ein deutliches Plus an Gesundheit. Regelmäßige Bewegung ist auch ein ganz wichtiges Element bei der Krebsprävention, genau wie die Ernährung. Ich glaube, dass unsere Ernährung einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Krebs hat. Warum haben immer mehr junge Menschen Krebs? Warum gibt es viel mehr Fälle von Bauchspeichelkrebs? Könnte es da einen Zusammenhang geben? Aber das Thema Ernährung wird bisher nicht ernst genug genommen. Hier sollte viel mehr geforscht werden. Meiner Meinung nach müsste Ernährung auch ein Schulfach sein.
Mit der Forderung rennen Sie bei uns offene Türen ein. Aber lassen Sie uns auch über die Digitalisierung sprechen. Welche Rolle spielt sie in der Onkologie?
Eine viel zu geringe. Die fehlende Digitalisierung ist ein Hemmschuh in der Krebstherapie. Wie auch in anderen Bereichen des Gesundheitssystems, und das ist äußerst bedauerlich. Was wir an Informationen heranschaffen müssen und wie viel Zeit dafür draufgeht, das ist ein unglaublich bürokratischer Aufwand, der enorme Ressourcen verbraucht. Die Medizin wartet sehnsüchtig auf die elektronische Patientenakte. Dass es die noch immer nicht gibt, schadet den Patientinnen und Patienten. Der Datenschutz muss gewährleistet sein. Aber er darf die Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht verhindern.
Wie sieht es mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Krebsbehandlung aus?
Die KI wird die Krebsmedizin erheblich verändern. Dabei geht es vor allem um das Datenmanagement und die Beschleunigung von Arbeitsprozessen. So wird die Bildinterpretation in der Radiologie durch die KI erheblich verkürzt und auch präziser werden. Mithilfe der KI können wir viel genauer und schonender bestrahlen. Auch in der Pathologie kann die Gewebeuntersuchung durch die KI-gesteuerte Auswertung von Bildern erheblich beschleunigt und optimiert werden, da die KI auf das Erkennen von Mustern trainiert ist. Das gilt auch für Erkennen von Genveränderungen bei Tumorerkrankungen. Darauf basierend kann dann eine personalisierte Therapie empfohlen werden, die hoffentlich zu einem besseren Behandlungsergebnis führt. Die KI wird uns auch in der Dokumentation helfen, was hoffentlich zu einer Entbürokratisierung und Zeitersparnis führt. Dadurch werden wir vermutlich weniger Personal benötigen und hoffentlich wieder mehr Zeit für unsere Patientinnen und Patienten haben. Das ist in Zeiten des Fachkräftemangels ein Plus, das wir nicht unterschätzen dürfen. Die KI wird unseren Beruf enorm verändern. Aber sie wird die Ärzte und Ärztinnen nicht ersetzen. Denn was ihr fehlt, sind Empathie und Bauchgefühl.
Warum engagieren Sie sich eigentlich als Vorstandsvorsitzender im Krebsverband?
Ich habe schon immer eine patientenzentrierte Sichtweise gehabt. Ich möchte, dass Krebspatienten immer nach den neuesten Erkenntnissen und den besten multimodalen Therapiekonzepten behandelt werden. Ich möchte, dass sie ein Krebszentrum betreten und sich darauf verlassen können, dass dort alle ihre Kompetenzen bündeln, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Um das zu erreichen, müssen Sie Netzwerke bilden. Und ich glaube, dass meine Stärke auch in der Vernetzung von Akteuren liegt.
Muss man als Onkologe ein geborener Optimist sein?
Das ist wahrscheinlich besser. Onkologen wollen immer gewinnen und auch das Unmögliche möglich machen. Wenn man optimistisch unterwegs ist, dann kann das doch nur gut sein. Außerdem setzt eine optimistische Grundhaltung auch Kräfte bei unseren Patientinnen und Patienten frei und reduziert Ängste.