Nachhaltigkeit

Agenda für ein grünes Gesundheitswesen

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Deutschland soll bis 2045 treibhausgasneutral werden. Im Gesundheitswesen war Klimaschutz bisher aber kaum ein Thema. Und auch in der öffentlichen Debatte spielt die Bedeutung des Gesundheitssystems für das Erreichen der nationalen Klimaziele bisher kaum eine Rolle. Das ist überraschend, schließlich hat der Gesundheitssektor einen Anteil von rund fünf Prozent an den in Deutschland ausgestoßenen Treibhausgasen. Das ist mehr, als der gesamte Flugverkehr verursacht. Zugleich bringt der Klimawandel eine Vielzahl von Gesundheitsproblemen mit sich und wird das Gesundheitssystem vor große Herausforderungen stellen.

Gesundheitsrisiko Klimawandel

Wir erleben schon heute, wie sich der Klimawandel auch in Deutschland auf die Gesundheit der Menschen auswirkt. Hitzewellen oder starke Temperatursprünge haben negative Gesundheitsfolgen, obwohl diese nicht immer so offensichtlich sind. Die Notaufnahmen sind in solchen Phasen stärker ausgelastet, es kommt zu mehr Krankenhauseinweisungen und letztlich auch zu hitzebedingten Todesfällen. Das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöht sich, ebenso die Wahrscheinlichkeit von Nierenerkrankungen. Hitzewellen führen zu einer steigenden Frühgeburtenrate und Menschen mit chronischen Atemwegserkrankungen leiden unter der höheren Ozonkonzentration. Die Wetterphänomene werden extremer, die Hitzeperioden werden länger, die Hochwasser häufiger und massiver. Darauf muss sich das Gesundheitswesen einstellen.

Die Barmer will bis 2030 klimaneutral sein

Es genügt aber nicht, das Gesundheitssystem für die Folgen des Klimawandels zu rüsten. Da der Zusammenhang zwischen Klima und Gesundheit so offensichtlich ist, hat die Barmer eine besondere Verantwortung. Es ist unsere Kernaufgabe, die Gesundheit der Menschen zu schützen. Die Barmer hat sich deshalb das Ziel gesetzt, bis 2030 klimaneutral zu sein. Seit 2020 beziehen wir bundesweit für alle unsere Gebäude und Geschäftsräume Ökostrom, wir stellen Dienstreisen und insbesondere Flüge auf den Prüfstand und bauen die Homeoffice-Möglichkeiten aus, denn viele unserer rund 15.000 Mitarbeitenden legen täglich viele Kilometer Arbeitsweg zurück. Ein ganz entscheidender Hebel ist zudem die Digitalisierung unserer Prozesse und des Schriftverkehrs mit unseren Versicherten.

Ein Krankenhaus hat den Energiebedarf einer Kleinstadt

Ein Ansatzpunkt zur Reduktion der Treibhausgas-Emissionen im Gesundheitssystem ist das Management und der Betrieb von Gebäuden. Jedes Klinikbett verbraucht jährlich so viel Energie wie vier Einfamilienhäuser. Jedes der rund 1.800 Krankenhäuser hat den Energiebedarf einer Kleinstadt. In Deutschland gibt es außerdem etwa 100.000 Arztpraxen und 40.000 Zahnarztpraxen – sie alle werden geheizt, beleuchtet, manche müssen im Sommer gekühlt werden.

Branchenstandards für nachhaltige Lieferketten fehlen

Der zweite große Hebel liegt in der Produktion von Arzneimitteln und Medizinprodukten sowie den damit verbundenen Lieferketten. Ein Großteil der Produktion findet außerhalb von Europa statt und unterliegt damit nicht den europäischen Regeln für Umwelt- und Klimaschutz. Es gibt erste Ansätze dafür, Lieferanten stärker in die Pflicht zu nehmen und Nachhaltigkeitsstandards in Ausschreibungen zu integrieren. Die Barmer hat im März 2021 einen Lieferantenkodex verabschiedet. Allerdings existiert bisher kein Branchenstandard im Gesundheitswesen. Wir werden einen solchen nur etablieren können, wenn Krankenkassen, Leistungserbringer und Produzenten sich auf Klimaschutz als gemeinsames Ziel und auf gemeinsame Regeln verständigen.

Digitalisierung leistet Beitrag zum Klimaschutz

Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung gibt es pro Jahr etwa eine Milliarde Kontakte zwischen Patientinnen oder Patienten und einem niedergelassenen Hausarzt oder einer Fachärztin. Heute findet noch fast jeder dieser Kontakte physisch statt, ist mit einer Anreise verbunden und produziert fast immer Papierdokumente, die dann häufig noch per Post verschickt werden müssen. Die Größenordnung von einer Milliarde Kontakten verdeutlicht, welches Potenzial Telemedizin und die Digitalisierung von papiergebundenen Massenprozessen im Gesundheitswesen mit Blick auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz haben. Digitale Prozesse sind aber nicht automatisch klimaneutral. Auch sie verbrauchen Energie und müssen möglichst ressourcensparend konzipiert werden.

Wir brauchen eine gemeinsame Agenda für den Klimaschutz

Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens hat sich in den vergangenen Jahren einiges bewegt. Sicher ruckelt es noch an vielen Stellen und die Herausforderungen der nächsten Jahre bleiben enorm, aber es gibt einen breiten Konsens über die Notwendigkeit, diese Digitalisierung voranzutreiben. Der Beitrag zum Klimaschutz ist hier ein willkommener Nebeneffekt. Für nachhaltige Krankenhaus- oder Praxislösungen finden sich in Deutschland durchaus positive Beispiele und einzelne Akteure beginnen, ihre Lieferketten in den Blick zu nehmen. Auch beim 125. Deutschen Ärztetag wurde das Thema Klimaschutz platziert. So soll der Vorstand der Bundesärztekammer die Ärzteschaft über die Klima- und Umweltwirkung von Arzneimitteln informieren. Damit in Zukunft Medikamente verordnet werden können, die nicht nur wirksam, sondern auch klima- und umweltschonend sind.  Allerdings bleibt es bisher bei mehr oder weniger isolierten Bemühungen Einzelner. Das Gesundheitswesen braucht eine größere Aufmerksamkeit in der öffentlichen Debatte um Klimawandel und Klimaneutralität und muss damit beginnen, eine gemeinsame Agenda für Leistungserbringer, Kostenträger und Produzenten zu entwickeln.