Rechts Laudator Stefan Saueressig, in der Mitte Preisträger Matthias Krieger, der die Auszeichnung mit dem Sonderpreis der Barmer in den Händen hält, daneben Barmer-Landesgeschäftsführer Winfried Plötze.
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"Meine Behinderung ist kein Handicap"

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Seit seinem zehnten Lebensjahr steht Matthias Krieger auf der Matte. Lange Zeit als aktiver Judokämpfer, und seit drei Jahren als Co-Bundestrainer der Judoka im Deutschen Behindertensportverband. Rund 30 Athleten betreut Krieger, der seit seiner Geburt nur etwa fünf Prozent Sehkraft hat. Darunter ist auch der Weltranglistendritte Lennart Sass und die Judo-Zwillinge und Deutschen Meister, Jan und Julia Mollet. Es sind aber nicht nur die sportlichen Erfolge seiner Schützlinge, die ihm bei der diesjährigen Trainerpreisverleihung den Sonderpreis der Barmer bescherten. Es ist auch sein Auftreten abseits der Matte. Matthias Krieger ist ein Vorbild. Und das will er auch sein.

Matthias, hat dich die Auszeichnung mit dem Sonderpreis der Barmer überrascht?

Ja, absolut. Damit hatte ich nicht gerechnet. Mein Fokus liegt nie auf mir, sondern auf den Kindern und den Athleten, die ich trainiere. Ich freue mich über den Sonderpreis der Barmer, weil er unsere Sportart etwas in die Mitte rückt. Und ich nehme die Auszeichnung stellvertretend für das ganze Trainerteam entgegen. Denn den Preis habe ich nicht alleine verdient.

Du stehst jeden Tag ehrenamtlich auf der Matte. Was motiviert dich?

Ich liebe diesen Sport. Ich wollte nie eine Sonderstellung aufgrund meiner Behinderung haben. Im Judo konnte ich mithalten und mich auch gegen Gegner behaupten, die keine Einschränkung hatten. Das hat mir Selbstbewusstsein gegeben und mich motiviert. Und auch jetzt gibt mir der Sport viel zurück. Letzten Monat war ich dabei, als Lennart Sass den Para Judo Grand Prix in Heidelberg gewonnen hat. Solche Momente finde ich überragend.

Du hast fünf Prozent Sehkraft. Was bedeutet das?

Ich sehe alles sehr verschwommen, ich kann Punkte nicht fixieren und ich habe kein räumliches Sehen. Vieles registriere ich erst später. Etwa, wenn im Kampf die Hand des Gegners von außen kommt.

Du hast als Aktiver gegen sehende Judoka gekämpft. Das ist doch unfair!

Die Schwäche des Gegners auszunutzen ist nicht unfair, sondern Taktik. Das ist völlig okay. Das ist doch das Tolle am Judo, dass er so integrativ ist. Da kann ein blindes Kind ein sehendes auf die Matte bringen. In welchem anderen Sport findet man das? Und wenn du auf einem höheren Niveau kämpfen möchtest, dann musst du gegen sehende Athleten antreten, weil es nicht so viele Judoka mit einer Sehbehinderung gibt.

Und wie kannst du andere trainieren, wenn du fast nichts siehst?

Ein Hilfsmittel ist die Videoanalyse. Ich habe mir schon als Sportler Aufzeichnungen von Wettkämpfen auf Video angeschaut, um die Gegner zu studieren. Das mache ich auch als Trainer. Im Wettkampf nutze ich ein Fernrohr, das alles stark vergrößert. Und im Training kann ich ohnehin nah an die Athleten heran, dann ist es kein Problem, etwas zu vermitteln. Dann kämpfe ich zum Teil auch als Partner mit.

Es gibt immer weniger Trainerinnen und Trainer. Wie siehst du die Situation?

Das ist zum einen sehr schade, weil dieses Ehrenamt sehr viel Spaß macht. Zum anderen ist es ein riesiges Problem, das weitreichende Folgen haben wird.

Welche?

Der Trainermangel wird gesundheitliche Auswirkungen haben. Das haben wir in der Pandemie gesehen, als der Vereinssport zeitweise verboten war. Ich bin Lehrer an einer Gesamtschule. Nach den Lockdowns hatten wir deutlich mehr übergewichtige Kinder als vorher. Früher waren auch fast alle Kinder in meiner Klasse in irgendeinem Verein. Heute gehen ein paar im Fitnessstudio pumpen, das war’s. Kinder lernen durch den Sport, sich fair mit anderen zu messen, sich anzustrengen, um ein Ziel zu erreichen und mit Frust umzugehen. Wenn ihnen das im Verein nicht mehr vermittelt wird, dann werden wir das auch in unserer Gesellschaft zu spüren bekommen. Und natürlich wirft uns der Trainermangel auch im Spitzensport zurück. Das sehen wir jetzt schon.

Wie könnte die Lösung des Problems aussehen?

Ich bin da ein bisschen ratlos. Zumal es auch um den Schulsport nicht gut bestellt ist. Aber ich glaube, genau hier müssten wir ansetzen. In Frankreich hat der Schulsport einen ganz anderen Stellenwert, dort kooperieren die Schulen mit Vereinen. Davon können beide Seiten profitieren. Warum probieren wir das nicht aus?

Du bist Lehrer an einer Regelschule. Mal ehrlich: Wird in deinem Unterricht nicht ordentlich gepfuscht?

(lacht) Ich denke nicht mehr, als bei meinen Kolleginnen und Kollegen. Ich teile zwei unterschiedliche Klassenarbeiten aus. Dann können die Kinder nicht voneinander abschreiben. Außerdem ist die Fallhöhe bei mir auch sehr hoch. Sich von einem blinden Lehrer beim Pfuschen erwischen zu lassen, das ist schon extrem peinlich! Und einige Schüler haben mir auch gesagt: "Herr Krieger, bei anderen Lehrerinnen und Lehrern schreiben wir ab. Bei Ihnen nicht. Das wäre ja unfair." Ich denke, dass meine Sehschwäche sogar einen gewissen Vorteil hat.

Welchen Vorteil hat deine Sehschwäche denn deiner Meinung nach?

Es sind tolle Erfahrungen, die ich im Sport machen und tolle Erfolge, die ich feiern durfte. Ob ich als Sehender dreimal bei den Olympischen Spielen gekämpft hätte, weiß ich nicht. Doch auch abseits des Sports kann meine vermeintliche Behinderung ein Vorteil sein. Sie hat mich zum Beispiel dazu gebracht, mich zu engagieren und lösungsorientiert zu denken. Und das möchte ich an andere weitergeben. Dass wir nach Lösungen statt nach Ausreden suchen, wenn es mal nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen. Ich möchte den Schülerinnen und Schülern vermitteln, dass es sich lohnt, sich anzustrengen. Das kann ich nur, wenn ich das vorlebe. Meine Behinderung hilft mir dabei, authentisch und glaubwürdig zu sein. Deshalb habe ich sie auch nie als Handicap empfunden.

Wirklich nicht?

Gut, Pilot konnte ich nie werden. Wollte ich aber auch nicht. Und ich darf keinen Führerschein machen. Das nervt mich total, wenn die GDL mal wieder streikt. Aber das ist wirklich die einzige Einschränkung, die ich durch meine Sehschwäche in meinem Leben habe.