Gesundheitspolitische Positionen der BARMER

Selbstverwaltetes Gesundheitssystem – fair und finanzierbar

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Beitragsfinanzierung und Selbstverwaltung sind zwei Grundsäulen des Gesundheitssystems. Die Stärke der Selbstverwaltung besteht darin, einen fairen Interessensausgleich in der GKV herzustellen. Beschlüsse – etwa des Gemeinsamen Bundesausschusses – erfahren deshalb eine hohe Akzeptanz. Die Selbstverwaltung benötigt auch in Zukunft uneingeschränkte Freiräume für ihre Aufgaben. Staatliche Eingriffe wie eine fachliche Aufsicht der Politik über die Verfahren des G-BA müssen verhindert werden. Leistungsausweitungen und medizinischer Fortschritt setzen das erfolgreiche Modell des beitragsfinanzierten Gesundheitssystems unter finanziellen Druck. Es muss konsolidiert werden. Zudem sind für einen fairen Wettbewerb unter allen gesetzlichen Krankenkassen einheitliche und verbindliche Rahmenbedingungen bei der Aufsichtspraxis ebenso notwendig wie ein Finanzverteilungssystem, das Verwerfungen zwischen den Kassen verhindert.

Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung muss kontinuierlich weiterentwickelt werden. Gründe dafür sind einerseits die hohe Innovationsdynamik des deutschen Gesundheitswesens. Andererseits erfordert das solidarisch finanzierte Umlagesystem der GKV einen besonders verantwortungsvollen Umgang mit den Beitragsgeldern der gesetzlich Versicherten.

Die Entscheidung über die Erstattung von medizinischen Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung muss sich grundsätzlich am Patientennutzen orientieren und regelhaft evidenzbasiert erfolgen. Sie liegt zudem im Kompetenzbereich der gemeinsamen Selbstverwaltung. Die Entscheidungen dürfen nicht per Ministererlass getroffen werden, zumal das Bundesministerium für Gesundheit ausschließlich die Rechtsaufsicht über die Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung ausübt.

Seit Einführung des Gemeinsamen Bundesausschusses zeigt die gemeinsame Selbstverwaltung aus Krankenkassen, Leistungserbringern und Patientenvertretern, dass sie professionell, fachkundig und transparent zu gemeinsamen Entscheidungen kommt. Dabei sind die vom Gesetzgeber vorgegebenen Leitlinien der Wirksamkeit, Angemessenheit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit die Grundlage des Handelns.

Die Selbstverwaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung stellt während der Corona-Krise ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis: Entschiedenes Handeln und Kooperation unter den Partnern der Selbstverwaltung tragen auch dazu bei, dass den Versicherten die bestmögliche Versorgung zur Verfügung steht. Dies ist auch durch den besonderen Einsatz der ehrenamtlich tätigen Mitglieder der sozialen Selbstverwaltung möglich. Für die Arbeit der Selbstverwaltung sind digitale Beschlussverfahren im Rahmen von Videokonferenzen – bei wichtigen Fragestellungen – hilfreich, um schnell und sicher Entscheidungen herbeizuführen.

Die Arbeit der Selbstverwaltung hat einen hohen Stellenwert für das Gesundheitswesen. Wichtig sind ihre politische Anerkennung und Unterstützung. Unmittelbar damit verbunden ist auch die Akzeptanz des selbstverwalteten Systems bei den gesetzlich Versicherten. Die Einführung von Modellprojekten für Online-Sozialwahlen hat viel Aufmerksamkeit auf die Selbstverwaltung gelenkt.

Die Arbeit und das Engagement der ehrenamtlichen Versichertenvertreter müssen in der Öffentlichkeit sichtbar sein. Dazu sollte die Möglichkeit der kostenlosen Wahlwerbung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk geschaffen werden. Urwahlen tragen zu einer höheren Akzeptanz der Sozialwahlen bei. Sie sollten verpflichtend eingeführt werden, um die Versicherten von Anfang an im demokratischen Prozess der Selbstverwaltung zu begleiten.

Im Zuge der Corona-Krise zeigt sich, dass eine gute medizinische Versorgung mit erheblichen Kosten verbunden ist. Pandemiebedingt wurden weite Bereiche des Gesundheitswesens finanziell unterstützt: Krankenhäuser erhielten Prämien für zusätzlich geschaffene Intensivbetten und Pauschalen, um die Liquidität der Krankenhäuser zu sichern. Für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte oder Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten wurden hohe Ausgleichszahlungen für Umsatzeinbußen infolge der Corona-Pandemie gezahlt.

Eine Diskussion über die auskömmliche Finanzierung des Gesundheitswesens wird nach Corona allerdings auch aus anderen Gründen notwendig. Die Gesetzgebung der letzten beiden Legislaturperioden und der medizinische Fortschritt haben im Gesundheitsbereich zu dauerhaften Ausgabensteigerungen in Milliardenhöhe geführt. Dabei wurden wichtige Leistungsausweitungen wie etwa in der ambulanten Versorgung oder beim Pflegepersonal beschlossen. Hierdurch entsteht ein massiver Kostendruck in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), der in der nächsten Legislaturperiode deutliche Konsolidierungsmaßnahmen erfordern wird. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass die Beiträge der GKV-Mitglieder unbegrenzt steigen oder Leistungskürzungen erwogen werden.

Zur Konsolidierung der GKV-Finanzen ist es deshalb notwendig, die Effizienzpotentiale im System zu heben: Dabei muss zuvorderst der stationäre Bereich in den Blick genommen werden: Der Krankenhaussektor ist durch Doppelstrukturen, zu wenig Spezialisierung und eine übermäßige Inanspruchnahme teurer stationärer Behandlungen geprägt. Hier sind dringende Reformen für effizientere Strukturen notwendig. Ein weiterer Kostentreiber für die gesetzliche Krankenversicherung sind die galoppierenden Preise für innovative Arzneimitteltherapien. Diese setzen die Krankenkassen finanziell zunehmend unter Druck, deshalb bedarf es neuer Mechanismen zum Umgang mit hochpreisigen Arzneimitteln.
Effizientere Versorgungsangebote und ein Abbau von Doppelstrukturen sollten aber auch durch die Weiterentwicklung der sektorenübergreifenden Versorgung erreicht werden.

Mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit des Systems ist auch die Rolle des Gemeinsamen Bundesausschusses bei der Ausgestaltung des Leistungskatalogs von Bedeutung: Er bewertet die von der GKV zu finanzierenden Leistungen hinsichtlich ihres diagnostischen und therapeutischen Nutzens, der medizinischen Notwendigkeit und der Wirtschaftlichkeit. Ziel der Arbeit des Gremiums ist es, den umfassenden Sachleistungskatalog der GKV zu erhalten und fortzuentwickeln.  

Zur Konsolidierung gehört auch die klare Abgrenzung der Zuständigkeiten bei der Finanzierung. Bedingt durch die föderale Struktur des Gesundheitswesens sind die Bundesländer an der Finanzierung beteiligt, kommen ihren Verpflichtungen aber nicht ausreichend nach.
So haben etwa Krankenhäuser einen Anspruch auf Finanzierung ihrer Investitionskosten durch die Bundesländer. Da die Länder ihre Investitionsverpflichtungen seit Langem vernachlässigen, finanzieren die Krankenhäuser ihre Investitionen in erheblichem Umfang aus der Vergütung der gesetzlichen Krankenversicherung, obwohl diese für die Finanzierung der Patientenversorgung vorgesehen ist.
Auch im Bereich der Pflege kommen die Länder seit Jahren immer weniger ihrer Investitionspflicht nach. Das trägt dazu bei, dass Pflegebedürftige zunehmend höhere Eigenanteile zahlen müssen, um die Kostenlücke auszugleichen.

Auch eine klare Unterscheidung von beitrags- und steuerfinanzierten Leistungen im Gesundheitssystem findet nicht statt. Besonders deutlich wird dies bei den versicherungsfremden Leistungen. So liegt zum Beispiel der Betrag aus Steuermitteln, den die gesetzlichen Krankenkassen für die Deckung der Ausgaben für ALG II-Bezieher erhalten, seit Jahren unter den tatsächlichen Leistungsausgaben für diese Versichertengruppe. Notwendig ist eine klare Abgrenzung staatlicher Aufgaben von denen der gesetzlichen Krankenversicherung und damit verbunden eine deutliche Unterscheidung steuerfinanzierter Leistungen und solcher, die von den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung durch Beiträge finanziert werden. Vor dem Hintergrund der finanziell angespannten Situation der GKV sollte diskutiert werden, ob der gesetzlichen Krankenversicherung weiterhin die Finanzierung von Maßnahmen aufgelastet werden kann, die nicht in den Aufgabenbereich der GKV fallen. Dazu zählen etwa Angebote der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die Einrichtung von Krebsregistern oder Leistungen, die eindeutig der populationsbezogenen Primärprävention zuzurechnen sind.

Es ist fraglich, ob vor dem Hintergrund der angespannten Haushaltslage weitere Steuerzuschüsse für die sozialen Sicherungssysteme gestemmt werden können. Das selbstverwaltete Gesundheitssystem basiert im Wesentlichen auf der Beitragsfinanzierung durch die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung. Das Sozialgesetzbuch sieht mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot und dem Prinzip der Beitragssatzstabilität wichtige Regulierungsmechanismen vor, die wesentliche Bedingung für die finanzielle Stabilität des Systems sind.  

Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) ist das wichtigste Steuerungsinstrument im Finanzverteilungssystem der gesetzlichen Krankenkassen. Mit dem Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb wurde der Kassenfinanzausgleich im Frühjahr 2020 neu geordnet. Die von der Koalition getroffenen Regelungen zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA beinhalten die richtigen Komponenten, um einen funktionsfähigen und fair ausgestalteten Wettbewerbsrahmen in der GKV zu schaffen. Kernelemente der Reform waren die Einführung einer Regionalkomponente zur Reduzierung von Wettbewerbsverzerrungen aufgrund regionaler Ausgabenunterschiede, die Erweiterung der Krankheitsauswahl hin zu einem differenzierten Vollmodell in Verbindung mit einer „Manipulationsbremse“ sowie die Einführung eines Risikopools für Hochkostenfälle.

Damit nicht erneut Wettbewerbsverzerrungen unter den Kassen entstehen, muss die Zielgenauigkeit des Morbi-RSA weiter verbessert werden. Dazu gehört zum einen eine zügige Ausdifferenzierung des neu eingeführten Vollmodells. Zum anderen sollte die Regionalkomponente um einen nachgelagerten Ausgleich erweitert werden (Deckungsbeitrags-Cluster-Modell). Dieser würde Gemeinden gemäß den noch verbleibenden Unter- und Überdeckungen zu Clustern zusammenfassen, die dann als weiteres Risikomerkmal im Morbi-RSA berücksichtigt und ausgeglichen würden.

Notwendig ist, dass alle neuen Elemente im Morbi-RSA auf mögliche Fehlentwicklungen in der Zuweisungssystematik des Morbi-RSA genau beobachtet werden. Dazu gehört auch die Manipulationsanfälligkeit des Kassenfinanzausgleichs. Da der Morbi-RSA ein „lernendes System“ ist, sind die einzelnen Komponenten kontinuierlich weiterzuentwickeln. Hilfreich ist dabei die gesetzlich verankerte regelmäßige Evaluation des Klassifikationsverfahrens.

Grundsätzlich gilt, dass ein Zuviel an Zuweisungen für gesunde Versicherte genauso vermieden werden muss wie ein Zuviel an Zuweisungen für Versicherte mit vielen verschiedenen Krankheiten.

Die unterschiedliche Aufsichtspraxis der Aufsichtsbehörden von Bund und Ländern wird in allen Bereichen der Krankenversicherung deutlich und hat massive Auswirkungen auf die tägliche Arbeit der gesetzlichen Krankenkassen. So entscheiden Bundesaufsicht und Landesaufsichten in den Bereichen des Haushalts-, Vertrags- und Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung regelmäßig uneinheitlich und teilweise widersprüchlich.

Ebenso sorgt die unterschiedliche Auslegung der Datenschutzregelungen durch Bundes- und Landesaufsichten für ungleiche Wettbewerbsbedingungen bei den Digitalangeboten der gesetzlichen Krankenkassen. Die unterschiedlichen Vorgaben der Landesdatenschutzgesetze sollten auch für eine bessere medizinische Forschung in einem Konvergenzverfahren zusammengeführt werden.

Um die daraus entstehenden wettbewerblichen Verwerfungen zwischen den Krankenkassen zu beheben, muss die Aufsicht in der gesetzlichen Krankenversicherung vereinheitlicht werden: In einem ersten Entwurf des Gesetzes für einen fairen Kassenwettbewerb hatte das Bundesministerium für Gesundheit bereits eine einheitliche Rechtsaufsicht für alle gesetzlichen Krankenkassen vorgeschlagen. Dieser Vorschlag wird auch vom Bundesrechnungshof unterstützt. Eine einheitliche Bundesaufsicht für alle Kassen durch das Bundesamt für Soziale Sicherung ist Voraussetzung für einen fairen Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen. Sichergestellt werden muss damit ein einheitliches Aufsichtshandeln nicht nur im Bereich der Haushalts- und Finanzaufsicht, sondern auch über das Vertrags- und Versorgungsmanagement der Krankenkassen.