Warum ist Deeskalation von Relevanz? Einsätze mit psychisch erkrankten Personen können Gefahren für die Betroffenen selbst, jedoch auch für die involvierten Hilfskräfte darstellen. In nahezu jedem rettungsdienstlichen oder polizeilichen Einsatz stehen die Hilfskräfte mit den zu versorgenden Personen in irgendeiner Art von Kommunikation. Insbesondere bei angespannten, aggressiven oder psychotischen Patienten kann eine bewusst deeskalierende Kontaktaufnahme und Gesprächsführung Einsatzzeiten verkürzen, körperliche Übergriffe und Zwangsmaßnahmen verhindern und somit zu einem schnelleren und sicheren Einsatzablauf führen. Das Ziel eines Einsatzes ist zuallererst die geistige und körperliche Unversehrtheit der beteiligten Kräfte sowie der betroffenen Person sicherzustellen. Um dieses Ziel zu erreichen, stehen gut untersuchte Maßnahmen und Strategien zur Verfügung. Dieser Artikel soll Einblicke zur Entwicklung von Verständnis für Mechanismen und Entstehung aggressiver oder gewaltbereiter Verhaltensweisen sowie Strategien der Konfliktdeeskalation geben.
Therapeutische Beziehung
Der Aufbau einer therapeutischen Beziehung kann aufgrund erkrankungsbedingter Interaktionsstörungen erschwert sein. Andererseits nimmt therapeutische Bemühung bei der Behandlung psychiatrischer Erkrankungen ihren Anfang mit der Beziehungsgestaltung. Hierzu sollte der Patient vom Behandler als gleichwertiges Gegenüber betrachtet werden und sich auch selbst als gleichwertig wahrnehmen. Eine wertungsfreie Kommunikation, authentisches Interesse am Gegenüber, dessen gegenwärtiger Lage und die Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen, sind daher grundlegend zur Herstellung einer Vertrauensebene notwendig.
Beziehungsgestaltung
Um sich in die Wahrnehmungs- und Gefühlsebene von einer psychisch erkrankten oder belasteten Person zu versetzen, kann es hilfreich sein, sich selbst zu fragen, wie man in einer entsprechenden Situation reagieren oder was für eine Art der Unterstützung man für sinnvoll halten würde. Aus der Perspektive der Selbstwahrnehmung heraus ein verändertes Rollenverständnis auszubilden, kann so zu mehr Gleichgewicht in der Beziehung zwischen Behandler und Patient verhelfen. Mittels gelungener Beziehungsgestaltung lässt sich bestenfalls eine auf Partizipation und Gleichberechtigung gegründete Behandlung erreichen. Eine beruhigende, vermittelnde Kontaktaufnahme, das Angebot von Hilfs- und Beratungsangeboten, die Herstellung einer entlastenden räumlichen Umgebung, oder auch das Angebot einer Einnahme von spannungslösenden Medikamenten können dabei helfen, Anspannungs- und Überforderungszustände im Rahmen psychiatrischer Erkrankungen kompetent zu begleiten und abzumildern.
Umfeld und Umgebung
Die Herstellung einer unterstützenden und freundlichen Atmosphäre sollte daher im notfallpsychiatrischen Setting als supportives und wirksames Element berücksichtigt werden. Die Beeinflussbarkeit von äußeren, baulichen Umgebungsmerkmalen unterliegt ihren Grenzen. Raum und Umgebung können hierbei jedoch auch ganz konkret als Möglichkeit der freien und uneingeschränkten Bewegungsfähigkeit bzw. der Abwesenheit von Eingeengtheit von Bedeutung sein. Beispielsweise kann es bei einer Person mit wahnhafter Verkennung und ängstlicher Stimmung günstig sein, ausreichend Raum zwischen der betroffenen Person und intervenierenden Kräften zu belassen, um keine weitere (subjektive) Bedrohung für die betroffene Person darzustellen. Hierbei muss jedoch der Grad der unmittelbaren Gefährdungslage mitberücksichtigt werden. Je eher ein begrenzter Raum und neben der betroffenen Person keine unbeteiligten Dritten zugegen sind, desto eher kann die o.g. Strategie gewählt werden, um eine Deeskalation der Situation bewirken zu können.
Kognition-Emotion-Verhalten
Aggressives Verhalten entsteht nicht im Vakuum. Betroffene entscheiden sich in den seltensten Fällen aktiv dafür, aggressiv aufzutreten. So wenig wie ein septischer Patient mit eigener Absicht Fieber oder Hypotonie entwickelt, entscheiden sich Personen mit einer psychischen Erkrankung nicht aktiv dafür, eine Gefahr darzustellen. Zur Entwicklung von Aggression wurden unterschiedliche Theorien entwickelt, welche unter anderem die Instinkttheorie sowie die Frustrations-Aggressions-Hypothese umfassen.
Kognitionen, unter anderem Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Bewertung, stellen die Grundlage der Entwicklung von Emotionen dar. Beispielsweise eignet sich die Wahrnehmung, ungerecht oder respektlos behandelt zu werden dazu, eine emotionale Wut- oder Ärgerreaktion hervorzurufen. Ebenso verhält es sich mit der Wahrnehmung, einer Situation hilflos ausgeliefert zu sein. Eine Ärgerreaktion verdeutlicht, dass die betroffene Person zu einem bestimmten Zeitpunkt ein gewünschtes Ziel nicht erreicht oder davon abgehalten wird. Evolutionsbiologisch gesehen haben Emotionen eine Schutzfunktion, um den Menschen vor Schaden zu bewahren und sollen dabei helfen, Aktivitäten auf positive Ziele zu lenken. Während auf physiologischer Basis die kognitive Leistung überwiegend im Frontalkortex zu verorten ist, ist bei der Entstehung und Verarbeitung von Emotionen das limbische System als entwicklungsbiologisch älteres Hirnareal aktiviert. Das emotionsgesteuerte Verhalten „überfährt“ hierbei die eher auf Bewertung und Abwägung beruhenden Mechanismen anderer Hirnabschnitte und lässt so rationales Verhalten in den Hintergrund treten.
Welche Person auf welchen Reiz hin unangenehme Emotionen entwickelt, ist letztlich genauso individuell wie die Entwicklung des resultierenden Verhaltens. Emotionen spielen bei der Entwicklung von Motivation und Verhalten eine modulierende und entscheidende Rolle. Aus Gründen der Übersichtlichkeit soll lediglich kurz veranschaulicht werden, welche Ausdrucksarten von Emotionen sich häufig beobachten lassen:
- explosiver, externalisierender, nach Außen gerichteter und konfrontativer Umgang, der sich als Beschuldigung, Anklage oder Abwertung äußern kann
- implosiver, internalisierender und nach Innen gerichteter Umgang mit Selbstzuweisung von Schuld und eigener Abwertung
Entwicklung einer Strategie
Alle bisher aufgeführten Punkte treffen nicht nur auf psychisch Erkrankte, sondern auch auf Hilfskräfte zu. Daher scheint es naheliegend, eine Umgangsweise zu entwickeln, die es ermöglichen kann, selbst zu entscheiden, welche Emotion welchen Umgang und folgend das Verhalten bedingt. Die Kontrolle über eigene Gefühle zu entwickeln hilft dabei, in Notfallsituationen rationaler zu entscheiden und einen kühlen Kopf zu bewahren.
Sicherheit bedenken
„Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können.“
Ohne die Berücksichtigung der Sicherheit von Hilfskräften ist eine wirksame Deeskalation nicht möglich. Der oben aufgeführte Auszug aus der Deklaration von Genf verdeutlichet, dass die Ausübung einer helfenden Tätigkeit nur auf dem Boden ausreichender Sicherheit erfolgen kann. Bevor diagnostische oder therapeutische Aspekte berücksichtigt werden, hat Wahrung der Sicherheit also Priorität. Wenn möglich, sollte ein Sicherheitsabstand eingehalten werden. Gerade psychotische Personen können die direkte Nähe anderer Personen als bedrohlich empfinden.
Außerdem sollte auf verdeckte Waffen oder waffenähnliche Gegenstände geachtet werden. Die Hände der betroffenen Person sollten sichtbar sein. Folgende Punkte sollten zudem berücksichtigt werden:
- Verfügbarkeit von Fluchtwegen
- Hinweise auf Sturz- oder Stolpergefahren oder Hindernisse
- sichtbare waffenähnliche Gegenstände?
Ruhig bleiben!
Das Bewahren von Ruhe in einer möglicherweise bereits angespannten oder eskalierenden Situation ist von essenzieller Bedeutung. Hier bietet es sich an, zunächst eine schnelle Bewertung der Situation vorzunehmen und das eigene Handeln danach auszurichten. Fragen wie: „Was passiert hier gerade? Worum geht es? Wer ist beteiligt? Was will die betroffene Person?“ können dabei unterstützen, ein rasches Verständnis von der Situation zu entwickeln.
Identifikation des Ansprechpartners
Eine einzelne Person sollte das Gespräch führen, da mehrere Ansprechpartner das Gegenüber überfordern können. Es sollten kurze Inhalte verbalisiert werden. Je höher der Grad der Anspannung, desto weniger Informationen werden aufgenommen und verarbeitet.
Auftreten, Ausdruck und Körpersprache
Der betroffenen Person muss durch Auftreten und Haltung vermittelt werden, dass die intervenierende Person keine Gefahr darstellt. Bei Kontaktaufnahme sollte eine persönliche Vorstellung mit Namen und Funktion erfolgen. Hierbei sollte das Sprechtempo langsam und gut verständlich sein. Bewegungen sollten ebenso langsam, gleichmäßig und nicht ruckartig erfolgen. Einladende und zugewandte Körpersprache sollte bevorzugt werden, gerade Schultern mit vor den Körper gehaltenen Händen (Mit den Händen reden), nach vorn gerichteter Blick mit Augenkontakt etc. Bei der Ansprache sollte versucht werden, eine persönliche Gesprächsebene herzustellen: „Ich bin Dr. Müller und habe heute Nachtdienst. Wir wurden heute zu Ihnen gerufen, weil …“. Wird die Anwesenheit im Raum nicht toleriert, kann ggf. vom Nachbarzimmer oder vom Flur aus ein Gesprächsversuch erfolgen. Außerhalb geschlossener Räumlichkeiten besteht ebenfalls die Möglichkeit, der betroffenen Person mehr Raum zu ermöglichen.
Choose your Battle
Angespannte, agitierte oder aggressive Personen können durch abwertende oder verletzende Aussagen versuchen, Sie aus der Fassung zu bringen und so die Kommunikation deutlich erschweren. Eine weitere Möglichkeit der Ablehnung ist die Weigerung, einen Kontaktversuch zu erwidern. Lassen Sie sich weder provozieren oder kränken. Sie sollten auch nicht versuchen, eine Person mit psychotischen Symptomen vom Gegenteil ihrer Wahrnehmung zu überzeugen. Begeben Sie sich nicht in die Gefahr, die Person durch ihr Verhalten herabzusetzen. Eine Notfallsituation ist nicht der geeignete Rahmen, die persönliche Meinung durchzusetzen oder den eigenen Status zu verdeutlichen. Eine gelungene Deeskalation zeichnet sich dadurch aus,
im geeigneten Moment einen guten Ausweg zu finden, auch, wenn man selbst dabei nicht das letzte Wort behält.
Unterbrechen
Ist eine geordnete Kontaktaufnahme nicht ohne weiteres möglich, bietet sich eine Unterbrechung der Situation an. Ist auf eine gezielte Ansprache keine Reaktion ersichtlich, sollte eine Kontaktaufnahme durch lautes Rufen oder Klatschen erfolgen. Ansprachen wie: „Halt!“, „Stop!“ oder „Hören Sie mir bitte zu!“ können ebenso helfen wie die namentliche Ansprache der betroffenen Person.
Empathie erzeugen
An dieser Stelle sind einige Begriffsdefinitionen notwendig: Sympathie bedeutet, ich mag jemanden. Er oder sie ist mir sympathisch. Empathie beschreibt das Vermögen, sich in ein Gegenüber hineinversetzen zu können. Je mehr Empathie und Mitgefühl man dem Gegenüber entgegenbringt, desto einfacher kann ein Deeskalationsansatz gelingen. Interesse am gegenüber zeigen, freundlich und offen sein, ehrlich gemeinte Empathie mitteilen; die authentische Vermittlung dieser Aspekte kann bei betroffenen Personen schnell echte Wirkung erzeugen. Wichtig ist zudem, dass Empathie nicht als Mitleid transportiert wird.