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Zukunft des Gesundheitswesens

Schmerztherapie: Der Mensch als Ganzes muss in den Mittelpunkt rücken

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Autor

  • Prof. Dr. Christoph Straub (Vorstandsvorsitzender der Barmer)

Mehr als zwölf Millionen Menschen in Deutschland leiden unter langanhaltenden Schmerzen. Dabei lassen sich die meisten chronischen Schmerzerkrankungen durch eine frühzeitige und passende Therapie vermeiden. Doch es gibt zu wenige geeignete Angebote.

Berlin, November 2023 - Wir machen im Laufe unseres Lebens immer wieder Bekanntschaft mit verschiedenen Formen von Schmerz: Kopfschmerzen oder Rückenschmerzen, starker Schmerz nach einer Verletzung, Halsschmerzen oder Bauchschmerzen bei einer Infektionskrankheit. Schmerz ist nicht angenehm, aber sinnvoll und letztlich überlebenswichtig. Weil wir ihn empfinden, lassen wir die Hand eben nicht auf der heißen Herdplatte liegen. Er hat eine Warn- und Schutzfunktion.

Normalerweise klingen Schmerzen im Laufe des Heilungsprozesses innerhalb weniger Tage oder Wochen wieder ab. Halten sie über einen längeren Zeitraum an oder kehren häufig wieder, wird es aber gefährlich. Denn Schmerzen können sich verselbständigen und chronisch werden. Sie entwickeln sich zu einer eigenständigen Erkrankung und lösen sich vom körperlichen Auslöser, man spricht auch vom Schmerzgedächtnis.

Anhaltender Schmerz hat selten nur eine Ursache

In Deutschland leiden mehr als zwölf Millionen Menschen unter langanhaltenden Schmerzen. Davon können bereits Kinder und Jugendliche betroffen sein. Verstärkt tritt das Problem im mittleren Lebensalter ab 40 Jahren auf. Bedenkt man, dass sich ein großer Teil chronischer Schmerzerkrankungen durch eine frühzeitige und geeignete Therapie vermeiden ließe, ist die Zahl der Betroffenen viel zu hoch.

Patientinnen und Patienten ist die Gefahr oft gar nicht bewusst. Sie wissen nicht, wie chronischer Schmerz entsteht und lassen sich zu spät behandeln. Zudem werden wiederkehrende Schmerzen oft als rein körperliches Phänomen missverstanden. Die Betroffenen vermuten eine klare Ursache, die man einfach beseitigen kann. Tatsächlich hat eine anhaltende Schmerzproblematik aber in den seltensten Fällen nur eine Ursache, selbst wenn am Anfang eine Verletzung oder körperliche Erkrankung stand. Anhaltender Schmerz wirkt sich immer auch auf die Psyche und das Sozialleben aus.
 

Ein Physiotherapeut umfasst mit seinen Händen den Kopf einer liegenden Patientin

Ganzheitliche Therapie statt rein medikamentöser Behandlung

Akute Schmerzen lassen sich meist gut mit schmerzlindernden Medikamenten behandeln. Halten sie aber länger an, greift eine rein medikamentöse Behandlung zu kurz. Hier sollte ein ganzheitliches Therapiekonzept angesetzt werden. Idealerweise kann durch eine rechtzeitige und ganzheitliche Therapie die Entstehung von chronischem Schmerz vermieden werden.

In Deutschland leiden mehr als zwölf Millionen Menschen unter langanhaltenden Schmerzen.
Bedenkt man, dass sich ein großer Teil chronischer Schmerzerkrankungen durch eine frühzeitige und geeignete Therapie vermeiden ließe, ist die Zahl der Betroffenen viel zu hoch.

Der erste Schritt bei anhaltenden oder wiederkehrenden Schmerzen sollte eine multimodale Diagnostik sein, bei der Fachleute verschiedener Disziplinen gemeinsam die Untersuchung durchführen und so die unterschiedlichen Aspekte identifizieren, die die Schmerzerkrankung begünstigen. Wenn es die Situation erfordert, sollte sich dann eine multimodale Schmerztherapie anschließen. Bei dieser Therapie steht der Mensch als Ganzes im Mittelpunkt und nicht nur ein isolierter, organischer Aspekt. Sie verbindet medizinische, physiotherapeutische und psychotherapeutische Elemente.

Zu wenig Qualifizierung und fehlende Angebote

Um anhaltende Schmerzen zu behandeln und den Übergang zur chronischen Erkrankung zu vermeiden, existieren erprobte Therapieansätze. Doch viele Menschen begeben sich aus Unwissenheit zu spät in schmerztherapeutische Behandlung. Zugleich gibt es zu wenige spezialisierte Schmerzangebote für eine ganzheitliche Diagnostik und Therapie und viele Therapeutinnen und Therapeuten sind nicht ausreichend für die Schmerztherapie qualifiziert.

Außerhalb von Krankenhäusern fehlen oft die Strukturen, um eine Versorgung durch ein interdisziplinäres Team zu ermöglichen. Im Krankenhaus sind die Bedingungen prinzipiell günstig, denn die relevanten Fachdisziplinen arbeiten hier ohnehin an einem Ort zusammen. Doch bisher bieten jene Krankenhäuser, die überhaupt eine multimodale Schmerztherapie anbieten, diese nur vollstationär an. Patientinnen und Patienten müssen also einen längeren, häufig mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt auf sich nehmen. Oft handelt es sich dabei aus fachlicher Sicht um stationäre Fehlbelegungen, denn Schmerzpatientinnen und -patienten gehören meist nicht in ein Krankenhausbett. In der Regel wäre eine teilstationäre Behandlung besser geeignet. Die Behandlungseinheiten finden im Krankenhaus statt, sonst können die Menschen ihrem normalen Alltag nachgehen. Das entsprechende Angebot ist allerdings viel zu gering.

„Wir brauchen im deutschen Gesundheitswesen bei allen Beteiligten ein ganzheitliches Verständnis von Schmerz und Schmerztherapie, das physische, psychische und soziale Faktoren gleichermaßen berücksichtigt.“

20 Prozent der deutschen Krankenhäuser führen vollstationär eine multimodale Schmerztherapie durch, aber nur fünf Prozent haben ein teilstationäres Angebot. Dabei gibt es große regionale Unterschiede. In einigen Bundesländern wie Schleswig-Holstein, Hamburg oder Sachsen-Anhalt existieren so gut wie gar keine Angebote.

Innovationsprojekt erprobt berufsbegleitende Therapie

Die Barmer engagiert sich seit vielen Jahren für eine bessere Schmerzversorgung. Gemeinsam mit der Deutschen Schmerzgesellschaft hat sie im Projekt PAIN2020 den Nutzen einer ambulanten multimodalen Schmerzdiagnostik erprobt. Das Projekt wurde 2020 abgeschlossen. Die Barmer hat mittlerweile aufbauend auf den Projektergebnissen ein eigenes Angebot entwickelt. 

Junge Ärztin mit Patientin

Alle unsere Versicherten haben nun bei wiederkehrenden oder anhaltenden Schmerzen Zugang zu einer ganzheitlichen multimodalen Diagnostik. Derzeit läuft mit PAIN 2.0 ein weiteres Innovationsprojekt, das den Fokus auf eine ganzheitliche Schmerztherapie legt, die auch berufsbegleitend möglich ist. Versicherte, bei denen sich in der Diagnostik der Bedarf einer multimodalen Therapie zeigt, können dieses Angebot bereits nutzen.

Angebote der Barmer bei anhaltenden Schmerzen

Barmer-Versicherte können sich in der Schmerzsprechstunde des Teledoktors unter der Telefonnummer 0800 3333 500 täglich von 6 bis 24 Uhr zu allen Fragen rund um Schmerz und Schmerztherapie beraten lassen. Der Teledoktor vermittelt auch Facharzttermine und übernimmt die Einschreibung in spezielle Barmer-Angebote wie die multimodale Diagnostik und Therapie. Bitte halten Sie Ihre Versichertenkarte bereit!

Multimodale Schmerzdiagnostik: Das ambulante interdisziplinäre multimodale Assessment (A-IMA) ist eine neue Form der Untersuchung, die von verschiedenen Fachleuten gemeinsam durchgeführt wird. Auf dieser Grundlage wird eine passende Behandlung empfohlen.

Multimodale Schmerztherapie: Je nach Ergebnis der Diagnostik kann eine multimodale Therapie sinnvoll sein. Die Therapie dauert in der Regel zehn Wochen, umfasst drei bis vier Behandlungsstunden pro Woche und ist auch berufsbegleitend möglich.

Therapie-Angebote an Patientenbedürfnissen ausrichten

Unsere Projekte mit der Deutschen Schmerzgesellschaft sind erste Schritte, um die Schmerzversorgung in Deutschland nachhaltig zu verbessern und Patientinnen und Patienten zu stärken. Sie können das strukturelle Versorgungsdefizit bei der Schmerztherapie aber nicht lösen. Wir brauchen im deutschen Gesundheitswesen bei allen Beteiligten ein ganzheitliches Verständnis von Schmerz und Schmerztherapie, das physische, psychische und soziale Faktoren gleichermaßen berücksichtigt.

Dafür ist ein stärkerer Fokus auf die Schmerztherapie in der Aus- und Weiterbildung nötig. Zudem müssen mehr Therapiemöglichkeiten geschaffen und zugleich Hürden für Patientinnen und Patienten sowie stationäre Fehlbelegungen reduziert werden. Gelingen kann dies durch einen deutlichen Ausbau teilstationärer Angebote für eine ganzheitliche, multimodale Schmerztherapie.

Professor Dr. Christoph Straub ist Vorstandsvorsitzender der Barmer.

Prof. Dr. Christoph Straub ist Vorstandsvorsitzender der Barmer.

Der Autor:
Prof. Dr. Christoph Straub ist seit 2011 Vorsitzender des Vorstands der Barmer und seit 2016 Honorarprofessor an der Universität Bayreuth. Er studierte Medizin in Heidelberg und den USA, erhielt 1991 die Vollapprobation als Arzt und 1992 die Promotion zum Dr. med.
Vor seinem Wechsel zur Barmer war er von 2009 bis 2011 als Mitglied des Vorstands bei der Rhön Klinikum AG tätig.

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Literatur und weiterführende Informationen