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„Digitalisierung muss einen Mehrwert für Versicherte bieten – sie darf nicht zum Selbstzweck verkommen“

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Die elektronische Patientenakte (ePA) kommt 2021 – und die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist schon jetzt in vollem Gange. Auch bei der Barmer tut sich in diesem Bereich einiges, wie Dr. Regina Vetters, Leiterin der Innovationsabteilung Barmer.i, erklärt.

Alle reden von Digitalisierung, was ist damit bei einer Krankenkasse genau gemeint – werde ich die Barmer bald nur noch online erreichen?

Vetters: Es reicht nicht aus, ein wenig an der digitalen Stellschraube zu drehen. Deshalb hat die Barmer im Jahr 2017 ihre Digitaleinheit Barmer.i gegründet und sich mit einer Digitalagenda klare Ziele gesetzt. Das Grundprinzip heißt Kundenzentrierung: Digitalisierung darf nicht zum Selbstzweck verkommen, sondern muss immer darauf ausgerichtet sein, unseren Versicherten einen klar erkennbaren Mehrwert zu liefern. Apps werden Geschäftsstellen ebenso wenig ersetzen wie den Arztbesuch. Es geht uns darum, digitale Lösungen dort einzusetzen, wo sie Sinn machen und Erleichterungen bringen.

Das derzeit dominierende Thema bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens ist die ePA. Mittlerweile ist klar, was diese können muss. Die Anforderungen sind für alle gesetzlichen Kassen identisch. Warum schreibt die Barmer eine eigene Akte aus?

Vetters: Bei der ePA unterscheidet der Gesetzgeber zwischen der Pflicht, also den zwingend erforderlichen Kernfunktionen eArztbrief, Medikationsplan und Notfalldatensatz, und weiteren Anwendungen, die wir in unserer Ausschreibung als Kür bezeichnen. Allein für die bisher definierte Pflicht würde sich eine eigene Akte nicht lohnen. Die Pflichtfunktionen sollen den Informationsaustausch innerhalb des Gesundheitssystems, also zwischen Ärzten, Therapeuten, Krankenhäusern verbessern. Die Versicherten können aber mit dieser Datensammlung kaum etwas anfangen. Wir wollen eine Patientenakte anbieten, die sowohl für Ärzte als auch für Patienten Mehrwerte hat – deshalb schreiben wir eine eigene Akte aus.

In Westfalen-Lippe sind Haus- und Fachärzte beim Innovationsfondsprojekt AdAM bereits untereinander und mit Krankenhäusern digital vernetzt. Ziel ist es,die Arzneimittelbehandlung für Patienten sicherer zu machen. Ist dieser Austausch ein Vorgeschmack auf das, was die ePA--elektronische Patientenakte künftig für alle Barmer-Versicherten leisten soll?

Vetters: Unser Projekt AdAM, das wir gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe umsetzen, ist ein Meilenstein. Mittlerweile beteiligen sich fast 1.000 Ärzte an der „Anwendung für digital unterstütztes Arzneimitteltherapie“. Sie erhalten beispielsweise für jeden Patienten eine Übersicht zu allen, auch von anderen Medizinern verordneten Arzneimitteln und Meldungen zu Wechselwirkungen. Auch die vom Patienten angegebene Selbstmedikation berücksichtigt AdAM. Für Patienten wird es zudem in Kürze eine App geben.

Das Thema Polypharmazie wie bei AdAM ist ein wichtiges Anwendungsfeld der künftigen ePA. Dabei geht es um die Frage, wie der Arzt Wechsel- und Nebenwirkungen bei Patienten im Blick behalten kann, die von verschiedenen Ärzten Medikamente verschrieben bekommen. Bisher ist der Arzt im Zweifel darauf angewiesen, dass der Patient alle seine Medikamente mit in die Sprechstunde bringt. Wenn der Arzt nun digital einen vollständigen Medikationsplan abrufen kann, macht das für ihn vieles leichter. Zudem stärkt dies die Rolle des Hausarztes, der ja gerade bei Patienten mit mehreren Erkrankungen eine Lotsenfunktion übernimmt. Und vor allem profitiert natürlich der Patient davon, wenn seine Medikation optimal abgestimmt und seine Therapie sicher ist.

Welche Ideen hat die Barmer für die „ePA-Kür“?

Vetters: Die Grenzen zwischen Pflicht und Kür sind fließend. Der Medikationsplan als Pflichtbestandteil der ePA wird beispielsweise nur auflisten, welche Medikamente ein Patient einnimmt. Dabei ist viel mehr vorstellbar, etwa ein automatischer Check von Wechselwirkungen Und dann gibt es „echte“ Zusatzfunktionen ohne Bezug zum Pflichtteil. Denkbar wäre der Abruf individuell zugeschnittener Gesundheitsangebote, Präventionskurse, Anbindung von sogenannte Wearables, Vermittlung von Arzt-Terminen und Patiententagebücher.